Freundliche Nachfrage oder Druck ausüben? Die Krankenkassen und das Krankengeld

Die Unabhängige Patientenberatung Deutschland (UPD) hat in ihrem Jahresbericht an den Beauftragten der Bundesregierung für die Belange der Patientinnen und Patienten gemäß § 65b SGB V – so heißt das offiziell – den Vorwurf geäußert, dass Krankenkassen arbeitsunfähige Patienten, die Krankengeld beziehen, offenbar gerne dazu drängen, den Bezug schnell wieder zu beenden – zuweilen mit unsauberen Methoden. Der der Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Karl-Josef Laumann, will das nun prüfen.

»Das Krankengeld war das Top-Thema in den 80.000 Kontaktgesprächen der UPD. Mitarbeiter der Kassen rufen mitunter Patienten, die lange krankgeschrieben sind, wöchentlich an. „Ob es schon besser gehe? Ob man den Psychotherapeuten wechseln wolle? Oder einen Psychiater aufsuchen? Entsprechende Therapeuten könne man empfehlen, heißt es dann am Telefon“, berichtet UPD-Beraterin Michaela Schwabe«, berichtet Susanne Werner in ihrem Artikel Setzen Kassen Patienten unter Druck? Angeblich hätten Kassenmitarbeiter auch nach medizinischen Diagnosen gefragt und die Betroffenen bedrängt. Was könnte – wenn die Vorwürfe stimmen – der Hintergrund für ein solches Verhalten der Kassen sein?  Wie immer könnte ein Motiv in der Größenordnung des Geldes zu finden sein, das hier von den Krankenkassen aufgebracht werden muss: 9,75 Milliarden Euro Krankengeld zahlten die Kassen 2013 aus. 2006 waren es noch 5,7 Milliarden Euro. Zudem ist die Dauer des Bezugs gestiegen: 2008 waren es 79 Tage, 2011 zehn Tage mehr, so Werner in ihrem Beitrag.

Auch komme es vor, dass die Kassen externe Firmen mit dem „Krankengeldfall-Management“ beauftragten.

Das ist keine neue Sache. Vgl. hierzu beispielsweise den kritischen Artikel Wenn der Krankengeldfallmanager prüft von Argeo Bämayer, veröffentlicht 2010 in der Zeitschrift NeuroTransmitter, Zeitschrift für Nervenärzte, Neurologen und Psychiater. Darin heißt es:

»Arbeitsunfähige psychisch Kranke erleiden häufig eine Verschlimmerung ihrer Erkrankung, wenn ärztlich tätige „Krankengeldfallmanager“ der Krankenkasse als medizinische Laien Anamnesen und psychische Befunde erstellen und anhand dieser Ergebnisse Patienten dahingehend „beraten“, die Arbeit wieder aufzunehmen. Dieses für alle Beteiligten entwürdigende Verfahren stellt in Form einer strukturellen Gewalt den finanziellen Aspekt über alle humanitären Grundsätze … Vorrangiges Ziel ist tatsächlich nicht die „Beratung“, sondern die Einsparung von Krankengeld, weshalb behandelnde Ärzte nahezu vollständig und Ärzte des MDK weitgehend ausgeschaltet werden und das schwächste Glied, der psychisch Kranke, persönlich in die „Mangel“ genommen wird.«

Die Informationslage hinsichtlich des Vorgehens der Kassen ist schwach. Die einen arbeiten mit „internen Abteilungen“ an der Bearbeitung der Krankengeldfälle, nur wenige wie die AOK Bayern oder die pronova BKK geben eine Beauftragung eines externen Dienstleisters zu.
Die Interessen der Kassen ergeben sich aus der Ausgestaltung des Krankengeldes. Nach der im Regelfall sechswöchigen Lohnfortzahlung des Arbeitgebers setzt normalerweise die Krankengeldzahlung der Kasse ein, die im Prinzip unbefristet ist,  wegen derselben Krankheit jedoch längstens für 78 Wochen innerhalb einer Blockfrist von 3 Jahren. Dadurch kommen – wie oben dargestellt – erhebliche Beträge zusammen.

Aber auch die Arbeitgeber haben so ihre eigenen Interessen. »Kehrt ein Beschäftigter, der bereits Krankengeld bezieht, für wenige Tage an den Arbeitsplatz zurück und fällt kurze Zeit später wieder aus, stehen für den Betrieb oft erneut mehrwöchige Lohnfortzahlungen an«, so Susanne Werner. Das hat ganz handfeste Auswirkungen, denn vor diesem Hintergrund ist es vor allem für kleinere und mittlere Unternehmen angesichts der damit verbundenen Kostenbelastung rational, die Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers in Frage zu stellen, was dann auch passiert:

»So einen Verdacht muss der Medizinische Dienst dann prüfen. 1,4 Millionen Begutachtungen waren es im Jahr 2013. In 15 Prozent der Fälle sahen die Prüfer eine weitere Krankschreibung als unnötig an.«

Die Kasse kann dieser Empfehlung folgen, muss es aber nicht.

Zur Dehnungsfähigkeit dessen, was ein „modernes“ Arbeitsrecht sein soll

Gibt es Hoffnung? Wenn man solche Schlagzeilen liest, dann muss es solche geben: Katholische Kirche plant moderneres Arbeitsrecht. Was steht an? Verabschiedet sich die katholische Kirche nun doch von ihren umfassenden Sonderrechten, was die Gestaltung der Arbeitsbeziehungen mit den Beschäftigten in kirchlich gebundenen Einrichtungen angeht? Gewährt sie nun auch ihren Mitarbeitern die Grundrechte, die „normale“ Arbeitnehmer schon lange haben, also beispielsweise das Streikrecht? So weit soll es dann doch nicht gehen, insofern ist die Überschrift dieses Artikels zum gleichen Sachverhalt zutreffender: Katholische Kirche will offenbar Arbeitsrecht lockern. Es geht um eine ganz bestimmte Lockerungsübung, die übrigens nur in Aussicht gestellt wird, konkret: Um die für die katholische Kirche ganz offensichtlich schwierige Frage, wie man mit geschiedenen und wieder neu verheirateten Mitarbeitern umzugehen gedenkt – eine Fallkonstellation, die ja in unserer Gesellschaft öfter vorkommen soll und die eigentlich – sollte man meinen – den Arbeitgeber aber so gar nichts angeht. So einfach ist es hier eben nicht.

»Geschieden, neu verheiratet – und prompt gefeuert: So erging es Angestellten von katholischen Arbeitgebern bisher. Doch offenbar zeichnet sich in der Kirche jetzt ein Umdenken ab«, können wir dem Bericht entnehmen, der gleich ein „moderneres“ Arbeitsrecht ante portas sieht. Denn:

»Die katholische Kirche will … auf wiederverheiratete Geschiedene zugehen und ihr Arbeitsrecht in einem wichtigen Punkt ändern. Eine automatische Kündigung von Geschiedenen, die eine neue Ehe eingehen, solle künftig nicht mehr vorgesehen sein … Das gehe aus dem Änderungsvorschlag für die „Grundordnung des kirchlichen Dienstes“ in den deutschen Bistümern hervor. Der Vorschlag ist demnach Ergebnis von Beratungen einer Arbeitsgruppe unter Leitung des ehemaligen Freiburger Erzbischofs Robert Zollitsch und des Verbands der Diözesen Deutschlands. Er solle für alle katholischen Arbeitgeber gelten, also auch für Krankenhäuser und die Caritas.«

Und dann kommt vor dem grundsätzlichen Hintergrund des Tatbestands, dass die katholische Kirche Ehescheidungen nicht anerkennt und infolgedessen standesamtliche Wiederverheiratungen deshalb als „widerrechtlich“ betrachtet, ein Passus, der vor allem hinsichtlich der dort verwendeten Begrifflichkeit ein Armutszeugnis für eine Kirche reflektiert, denn zur vorgeschlagenen „Reform“ heißt es:

»Dem Bericht zufolge soll ein solcher „kirchenrechtlich unzulässiger Abschluss einer Zivilehe“ aber künftig nur noch als Kündigungsgrund gelten, „wenn dieser nach den konkreten Umständen objektiv geeignet ist, ein erhebliches Ärgernis in der Dienstgemeinschaft oder im beruflichen Wirkungskreis zu erregen und dadurch die Glaubwürdigkeit des kirchlichen Dienstes zu beeinträchtigen“.«

Also weiterhin eine Kündigung, wenn die (erneute) Eheschließung zwischen zwei Menschen „ein erhebliches Ärgernis“ darstellt – so eine Formulierung lässt schon tief blicken und muss einen halbwegs sensiblen Menschen erschauern lassen. „Ein erhebliches Ärgernis“.
Unabhängig von der ganzen Fragwürdigkeit dieser Begrifflichkeit – wenn man sich nun darauf einlässt, weil es ja hier nicht um die eigene Meinung geht, sondern um das Verständnis eines sehr großen Arbeitgebers in unserem Land, dann stellt sich schon nach dem ersten Hinschauen sofort die Frage, wer definiert denn eigentlich wann und warum das „Ärgernis“ Wiederverheiratung ein „erhebliches Ärgernis“ wird? Wo ist die Grenze zu einer willkürhaften Entscheidung angesichts eines derart unbestimmten Rechtsbegriffs?

Natürlich gibt es immer die unterschiedlichen Perspektiven auf ein und denselben Sachverhalt – also ist die Flasche halb voll oder halb leer. Die Bewertung als eine „deutliche Lockerung gegenüber der bisherigen Regelung“ – wenn denn die nun vorgeschlagene Revision kommen würde -, stellt ab auf die aktuelle Grundordnung der Kirche, nach der von einer Kündigung nur „ausnahmsweise“ abgesehen werden, „wenn schwerwiegende Gründe des Einzelfalles diese als unangemessen erscheinen lassen“. So kann man das auch sehen.

Wie es in dieser Frage weitergeht? Bis November soll ein abschließender Entwurf vorliegen, den die Deutsche Bischofskonferenz dann beschließen müsse. Es wird berichtet, dass die meisten Stellungnahmen der Diözesen zu dem Entwurf positiv seien, nur ein Bistum lehne ihn weitgehend ab. Man muss das alles einordnen in einen komplexen und wahrscheinlich nur für absolute Insider diese Organisation betreffende Diskussionslinie innerhalb der katholischen Kirche, die sich vor allem entzündet an der Bedeutung und Zukunft der inmitten sehr weltlicher Arbeit steckenden Caritas. Wie schwer man sich tut, die gesellschaftlichen Veränderungen neu abzubilden, kann man dieser Veröffentlichung der Deutschen Bischofskonferenz entnehmen:

Deutsche Bischofskonferenz: Das katholische Profil caritativer Dienste und Einrichtungen in der pluralen Gesellschaft, Bonn, April 2014

Aber lösen wir uns von dem beschriebenen Sachverhalt und werfen die Frage in den Raum, wie man vor dem Hintergrund der nun erkennbaren, eigentlich marginalen Änderung des Umgangs mit den Mitarbeitern (die allerdings – das sei hier deutlich hervorgehoben – in vielen Einzelfällen tragische Folgen für die davon Betroffenen mehr als bislang verhindern könnten, wo vielen der wirtschaftliche Boden unter den Füßen weg gerissen wurde, nur weil sie einen anderen Menschen geheiratet haben nach einer Scheidung) von einem „moderneren“ Arbeitsrecht sprechen kann?

Ein wirklich modernes Arbeitsrecht – so viel vorweg – würde sich zuvörderst dadurch auszeichnen, dass es selbstverständlich für alle gilt. Und das man die dort normierten Regeln auch einklagen kann. Vor staatlichen Gerichten. Ein modernes Arbeitsrecht würde keine so umfassende Sonderrechtszone für hunderttausende Beschäftigte zulassen, wie es sie aber derzeit den Kirchen gewährt wird. Besondere Arbeitsverhältnisse mögen ihre Berechtigung gehabt haben, als die Kirchen ausschließlich oder überwiegend mit Schwestern und anderem „eigenem“ Personal gearbeitet haben. Aber in einer Zeit, in der dieses Sonderrecht auch für die vielen Beschäftigten gilt, die in voll aus Steuer- und/oder Beitragsmitteln finanzierten Einrichtungen wie Krankenhäusern, Pflegeheimen, Jugendhilfeeinrichtungen, Kindertageseinrichtungen usw. arbeiten. Und es argumentiere an dieser Stelle keiner, dass man sich ja seinen Arbeitgeber aussuchen könne, man müsse ja nicht bei der katholischen Kirche arbeiten – wenn man sich der Marktanteile kirchlich gebundener Einrichtungen beispielsweise im Krankenhaus- oder Kita-Bereich in manchen Regionen unseres Landes anschaut, dann wird man zur Kenntnis nehmen müssen, dass es für zahlreiche Berufe aus dem Sozial- und Gesundheitsbereich gar keine Arbeitgeber-Alternative vor Ort gibt, sie sind durch die Faktizität der Trägerschaftsstrukturen darauf angewiesen, in kirchlich gebundenen Einrichtungen eine Beschäftigung zu finden, die sie dann aber dem Sonderrecht der Kirchen unterwirft, das ihnen wiederum in Teilbereichen eigentlich selbstverständliche Rechte „normaler“ Arbeitnehmer vorenthält.

Die Verhaltensweise des Staates und seiner Organe ist hier – um es vorsichtig auszudrücken – „ambivalent“. Zum einen stützt die Rechtsprechung die Sonderrolle der Kirchen in der Arbeitswelt, zuletzt haben wir das wieder zur Kenntnis nehmen müssen im Kontext einer Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts die leidige Kopftuchfrage betreffend (vgl. hierzu meinen Blog-Beitrag Das Kreuz mit den „Sonderrechten“. Ein neues Urteil des Bundesarbeitsgerichts stärkt die Kirchen in ihrem Kampf gegen Kopftücher vom 24. September 2014). Zum anderen ist der Staat und seine Sozialversicherungen nicht nur der mit Abstand größte Finanzier der meisten Einrichtungen und Dienste, sondern er ermöglicht den Kirchen auch eine im Vergleich zu den allermeisten anderen Ländern (in denen die Kirchen auf Spenden ihrer Mitglieder angewiesen sind) absolut sichere Finanzierungsbasis über die vom Staat eingezogene „Kirchensteuer“. Das beschert den Kirchen hier in Deutschland eine sehr solide Finanzbasis. Vgl. dazu den Artikel Rekord-Einnahmen bei den Kirchen: »Nach jüngsten Schätzungen erwarten die Bistümer und Landeskirchen für 2014 elf Milliarden Euro Einnahmen aus der Kirchensteuer – so viel wie noch nie.« 2012 und 2013 waren auch schon jeweils Rekordjahre hinsichtlich der Höhe der eingenommenen Kirchensteuer.
Die Kirchensteuerdiskussion soll und kann an dieser Stelle gar nicht geführt werden, sehr wohl aber darf und muss mit Blick auf das hier besonders interessierende Thema Arbeitsrecht die Frage aufgeworfen werden, wann wir endlich wirklich ein „moderneres“ Arbeitsrecht bekommen – moderner dadurch, dass es erst einmal für alle Arbeitnehmer gilt. Das Pfarrer oder Mönche in einem Sonderarbeitsrechtsverhälnis zu ihrer Kirche verbleiben können, würde keiner verweigern. Aber die normale Krankenschwester, Erzieherin oder der Sozialarbeiter und die Hauswirtschaftskräfte – sie alle gehören unter das Dach eines „moderneren“ Arbeitsrechts. Diesen Schritt wird man von den Kirchen nicht erwarten können, er muss vom Staat gemacht werden.

Geförderter Wildwuchs: Ausbildungslosigkeit auf beiden Seiten der privaten Sicherheitsdienste und das „verständliche“ Totstellen eines abgemagerten Staates

Eine Tätigkeit im privaten Sicherheitsdienst ist der „Beruf“ der Woche – nicht nur vor dem Hintergrund der Übergriffe in nordrhein-westfälischen Flüchtlingsheimen, sondern weil man daran eine ganze Reihe an Strukturproblemen aufzeigen kann und muss. Friseure sind 150 mal qualifizierter als Sicherheitskräfte, so ist ein interessanter Artikel dazu überschrieben. Einige wenige Zahlen mögen genügen, um aufzeigen zu können, das wir hier nicht von Kleinigkeiten sprechen:

»Von den bundesweit rund 185.000 Mitarbeitern haben nur rund 10.000 eine mindestens zweijährige Ausbildung, in NRW sind es rund 2.000 von fast 40.000. Die große Mehrheit hat 30 Stunden Unterricht bei der IHK genossen, bevor sie für Sicherheit und Ordnung sorgt – auch in überfüllten Asylantenheimen, unter angespannten Menschen, deren Sprache sie nicht sprechen, deren Mentalität sie nicht kennen und um deren Traumata sie nicht wissen.«

Und diese Ausbildungslosigkeit betrifft nicht nur diejenigen, die als Beschäftigte der „Sicherheitsdienste“ arbeiten (müssen), sondern auch deren Arbeitgeber.

»Auch wer ein Sicherheitsunternehmen gründen möchte, muss gerade mal 80 Stunden IHK-Unterricht besuchen, dann darf er sein Personal losschicken: in überfüllte Asylcontainer, zu Popkonzerten mit Tausenden aufgewühlten Fans, in die Hochhäuser von Problemvierteln, wo die Security als Hausmeister, de facto aber auch als Streitschlichter fungiert, an Bus- und Bahnsteige, an Flughäfen, vor militärische Anlagen, in den Einzelhandel oder zum Werkschutz.«

„Konsequent“ dazu dann das beobachtbare Lohnniveau für unseren „Beruf“ der Woche:

»Der Großteil der Mitarbeiter erhält in NRW offiziell den Mindestlohn, der bei neun Euro liegt. Zu dem Preis aber lässt sich eine gute Ausbildung kaum finanzieren, so bemängeln Arbeitgeber und Arbeitnehmer unisono. Psychologische Schulung, differenziertes Deeskalationstraining oder gar Fremdsprachenkenntnisse könne man da nicht erwarten. Und das werde sich nicht ändern, solange Staat und Unternehmen nicht verpflichtet seien, Sicherheitsfirmen nach Qualität statt allein nach Preis auszusuchen, prophezeit Ver.di-Expertin Andrea Becker.«

Doch selbst der Mindestlohn ist nicht sicher und wird in vielen Fällen noch deutlich unterlaufen. Laut BDSW (das ist der Bundesverband der Sicherheitswirtschaft) bei 20 Prozent, laut Ver.di bei bis zu 40 Prozent der Firmen könne man nicht ausschließen, dass sie systematisch Ungelernte für vier bis fünf Euro anheuerten, so Till-R. Stoldt in seinem Artikel. Hinzu kommt ein beliebte Masche, die man auch aus anderen Niedriglohnbranchen kennt:
In vielen Firmen sei es eher Regel als Ausnahme, dass Mitarbeiter keine fest vereinbarte Arbeitszeit und damit kein fixes Gehalt haben, was natürlich bei der Asymmetrie zwischen den Beschäftigten und ihren Mitarbeitern Umgehungsstrategien beim Mindestlohn ermöglicht und fördert.

In dem Artikel wird der Finger noch in eine andere Wunde gelegt, wenn auf „eine atemberaubende Nachlässigkeit von Bund und Land bei der Überprüfung der Sicherheitsfirmen“ hingewiesen wird – und hier liegt nicht nur der schwarze Peter, sondern die Schuld eindeutig auf Seiten des Staates: »Seit Jahren fordert der Branchenverband, sämtliche Firmen und ihre Mitarbeiter regelmäßig auf deren Zuverlässigkeit zu überprüfen. Aber das interessierte niemanden.«

Beispiel Nordrhein-Westfalen, wo ja die Folgen einer Auslagerung von Schutzaufgaben an private Sicherheitsdienste eine traurige Aktualität bekommen haben aufgrund der Vorfälle in Flüchtlingsheimen:

»Sowohl der BDSW als auch mehrere Gewerkschaften beklagen, sie hätten das NRW-Innenministerium gewarnt – vor Gefahren durch unterqualifiziertes, unkontrolliertes und nur nach Preis ausgewähltes Personal. Schon Ende 2013 hatte auch ein WDR-Team Innenminister Ralf Jäger mitgeteilt, die minimalen Ausbildungs- und Lohnvorgaben für private Sicherheitsleute würden in NRW hundertfach unterlaufen. Im Frühling 2014 hatte dann das Team um den Kölner Enthüllungsjournalisten Günter Wallraff einem Millionenpublikum vorgeführt, wie überfordert Mitarbeiter mancher Sicherheitsfirmen in Asylantenheimen agieren.«

Es kann wahrlich keiner sagen, dass die Ereignisse gleichsam völlig überraschend vom Himmel gefallen sind.

Man kann es drehen und wenden, wie man will: Das Innenministerium verzichtete darauf, höhere Qualitätsstandards zu definieren oder regelmäßige Kontrollen einzurichten. Und dieses Abtauchen ist auch durchaus „rational“ aus Sicht des Landes:

»Denn: Um die permanent wachsende Branche zu kontrollieren, müsste Personal eingestellt werden. Und das liefe der Ministeriumslinie zuwider, beim Staatspersonal zu sparen und es von Aufgaben zu entlasten – anstatt neue obendrauf zu legen.«

Nun gibt es auch noch die Bundesebene, könnte ein geschundener Vertreter der Landesebene einwerfen. Auch die nimmt der Artikel ins Visier und führt zu Recht aus:

»Vor allem auf Bundesebene sprach noch ein anderer Grund dafür, über die brisante Mischung aus geringer Qualifikation, fehlender Kontrolle und schlechten Arbeitsbedingungen hinwegzusehen: Sie war mit Blick auf den Arbeitsmarkt gewollt. In den Bundesministerien für Arbeit und Wirtschaft versprach man sich von diesem kaum regulierten Niedriglohnbereich (übrigens zurecht) neue Jobs für sonst schwer vermittelbare Ungelernte. Im Umkehrschluss: Durch höhere Anforderungen bei Lohn und Ausbildung drohten Jobs zu verschwinden.«

Wobei die letzte Schlussfolgerung nicht wirklich logisch ist. Nehmen wir einmal an, wir würden die Kosten für die Sicherheitsdienstleistungen nach oben treiben (müssen), um das zu machen, dessen Fehlen heute so beklagt wird. Werden dann überall die Dienstleistungen der Sicherheitsdienste eingestellt? Wird also die Dienstleistung eingespart oder nach Transylvanien verlagert? Wohl kaum.
Aber es gibt einen weiteren Grund dafür, hier nicht genau hinzuschauen, geschweige denn substanziell etwas zu ändern:

„Die gesamte Sicherheitsarchitektur“ des Landes würde zusammenbrechen“ ohne private Sicherheitsfirmen, so wird ein Polizeigewerkschafter zitiert. Sie sind unverzichtbar geworden. Wollte man die Privaten durch Polizisten ersetzen, müsste das Land Hunderte Millionen Euro investieren. Die hat es schlichtweg nicht.

Insofern ist es auch „verständlich“, dass der nordrhein-westfälische Innenminister Jäger (SPD), der durch die Vorfälle in den Flüchtlingsheimen und den Vorwürfen, sein Ministerium wäre schon seit längerem mit den Problemen konfrontiert worden, schwer unter Beschuss geraten ist, lediglich eine Aktivitätssimulation präsentieren konnte:

»Diese Woche verkündete er, fortan müssten sich Mitarbeiter in Flüchtlingsunterkünften vorab von Polizei oder Verfassungsschutz überprüfen lassen. Über Kontrollen bei anderem Sicherheitspersonal, über höhere Ausbildungsstandards und humanere Arbeitsbedingungen verlor er kein Wort. Wegen drei Übergriffen gegen Asylbewerber wird das unverzichtbare Reservoir billiger Sicherheitsknechte offenbar nicht zur Disposition gestellt.«

Warum sollte er das alles auch zur Disposition stellen? Der (an dieser Stelle) „abgemagerte“ Staat kann es gar nicht, auch wenn einzelne es wollten.