Was für ein Jahresanfangsdurcheinander: Die Rente mit 70 (plus?), ein Nicht-Problem und die Realität des (Nicht-)Möglichen

Neben den Themen Flüchtlingspolitik und den Auswirkungen des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns nach seiner Einführung zum 1. Januar 2015 wird – das ist sicher – in dem nun neuen Jahr das Thema Alterssicherung und damit die Rentenfrage ganz oben auf der sozialpolitischen Agenda stehen. Und kaum war das Silvester-Feuerwerk verklungen, hat der Chef der Bundesagentur für Arbeit scheinbar eine neue Rakete in der rentenpolitischen Debatte gezündet: Arbeitsagentur fordert freiwillige Rente mit 70, so ist der Bericht dazu überschrieben worden. Unabhängig von dem durch die Überschrift suggerierten Eindruck, dass offensichtlich die Bundesagentur für Arbeit jetzt persönliches Eigentum des Herrn Weise geworden ist, was meines Wissens noch nicht der Fall ist – sein Vorschlag löste eine einerseits erwartbare, zugleich aber auch etwas überraschende Reaktionsmechanik aus. Freiheit statt Zwangsverrentung, jubelt beispielsweise Hennig Krumrey in der WirtschaftsWoche und moniert zugleich: »Nur die politische Unterstützung für diese gute Idee fehlt noch.« Auch nicht überraschend die Reaktionen auf der anderen Seite: „Abenteuerlich und völlig verfehlt“, poltert der Parteichef der Linken, Bernd Riesiger, und die zweite Vorsitzende Katja Kipping wird mit den Worten zitiert, die Vorschläge „gehen in die völlig falsche Richtung“. Annelie Buntenbach vom DGB-Bundesvorstand wird ebenfalls kritisierend zitiert mit den Worten: „In den Ohren derjenigen, die es nicht bis zum gesetzlichen Renteneintrittsalter schafften, müsse es „wie Hohn klingen, wenn wieder einmal über die Freiheit des längeren Arbeitens philosophiert wird“. Etwas irritierend ist dann vielleicht schon so ein Ausreißer aus der gewohnten Lager-Bildung: Laut Ramelow sei Rente mit 70 „kein Quatsch“: »Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) hat sich offen für die Idee einer Rente mit 70 auf freiwilliger Basis gezeigt – und stellt sich damit gegen die Bundesparteispitze.« Was ist hier los?

Schauen wir uns in einem ersten Schritt erst einmal an, was denn der Herr Weise von der Bundesagentur für Arbeit eigentlich genau gesagt hat:

»Angesichts des Fachkräftebedarfs in Deutschland plädiert der Vorstandschef der Bundesagentur für Arbeit (BA), Frank-Jürgen Weise, für zusätzliche Anreize, um Ältere bis zum Alter von 70 Jahren im Berufsleben zu halten. „Flexible Ausstiege aus dem Erwerbsleben in Rente sind grundsätzlich ein gutes Modell“ …  „Man sollte nun auch Anreize dafür setzen, dass Arbeitnehmer, die fit sind, freiwillig bis 70 arbeiten können“, forderte Weise. Für den Arbeitsmarkt wäre das gut, betonte der BA-Vorstand.«

Man achte auf die Formulierung: Es geht um zusätzliche Anreize, die gewährt werden sollen, wenn Arbeitnehmern jenseits des gesetzlichen Renteneintrittsalters weiterarbeiten. Einerseits entschärft das auf den ersten Blick die Debatte, denn es geht offensichtlich (noch) nicht darum, die beschlossene und derzeit ablaufende schrittweisen Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters auf 67, das für die Jahrgang 1964 erreicht sein wird, auf 70 anzuheben. Auch die derzeit unter bestimmten Bedingungen mögliche „Rente mit 63“, die ja nur für wenige Jahrgänge möglich ist und die parallel zur Einführung der Rente mit 67 auf 65 Jahre angehoben wird, ändert nichts an der grundsätzlichen Erhöhung des Renteneintrittsalters, von der vor allem die geburtenstarken Jahrgänge betroffen sein werden. »Die „Rente  mit 70“ steht also für die Möglichkeit freiwillig länger zu arbeiten – und zwar unter günstigeren Bedingungen als bisher«, darauf weist auch Stefan Sauer in seinem Beitrag Ein Vorstoß ohne Zwang hin.

Nun wird der eine oder die andere an dieser Stelle berechtigterweise die Frage stellen: Wo ist eigentlich das Problem? Ist das nicht heute schon möglich?

Ja, so muss die einfache Antwort in einem ersten Schritt lauten. Beschäftigte können – im Prinzip – den Renteneintritt auf einen späteren Zeitpunkt verschieben und erhalten dafür eine höhere Rente. Das heißt aber eben auch, dass es sich bereits heute lohnen kann, länger zu arbeiten, wenn man denn will und kann und – das wird allerdings in den meisten Artikeln gerne unterschlagen, wenn der Arbeitgeber auch mitmacht, denn es gibt nicht wenige Unternehmen, die aus welchen Gründen auch immer gar kein Interesse haben an der Weiterbeschäftigung älterer Arbeitnehmer und dann gerne auf das gesetzliche Renteneintrittsalter als Austrittsgrund verweisen, um den Mitarbeiter loswerden zu können.

Was bedeutet es vor dem Hintergrund der bestehenden Rentenformel konkret, wenn ein älterer Arbeitnehmer länger an Bord bleibt? Dazu Stefan Sauer in seinem Artikel:

»Für jeden Monat, um den sie den Rentenbezug hinauszögern, erhalten sie einen Zuschlag von 0,5 Prozent. Sofern sie unterdessen sozialversicherungspflichtig beschäftigt ist, sammeln sie zusätzliche Rentenpunkte an, die ihre Anwartschaften zusätzlich erhöhen. Beispiel: Wer den Renteneintritt um ein Jahr aufschiebt, erhält lebenslang eine um 12 mal 0,5 Prozent – also sechs Prozent – erhöhte Monatsrente. Zahlt er in dieser Zeit durchschnittliche Rentenbeiträge ein, erhält er zusätzlich einen Rentenpunkt, der derzeit knapp 30 Euro pro Monat wert ist. Beide Faktoren gemeinsam lassen eine Monatsrente von 1.300 Euro auf mehr als 1.400 ansteigen. Bei noch späterem Rentenbezug erhöht sich die Rente entsprechend.«

Man muss sich in aller Deutlichkeit klar machen, dass es bereits heute im bestehenden System aufgrund der Entgeltpunkt- und Zuschlagssystematik der Rentenformel durchaus „lohnend“ ist, weiterzuarbeiten und man keineswegs „bestraft“ wird, wenn man sich dafür entscheidet. Wer mit dem Erreichen des Renteneintrittsalters seine Rente in Anspruch nimmt, kann weiterhin arbeiten gehen und ganz wichtig: Dabei entfallen die Zuverdienst-Grenzen von 6.300 Euro pro Jahr, die für Frührentner gelten. Jenseits der Regelaltersgrenze können Rentner also so viel dazu verdienen wie sie wollen beziehungsweise können, ohne dass dies Einfluss auf die Höhe der Rente hätte. Aber damit noch nicht genug: »Zugleich sind die arbeitenden Rentner von Beitragszahlungen an die Arbeitslosen- und Rentenversicherung befreit. Die Arbeitgeber müssen allerdings weiterhin ihren Rentenbeitragsanteil abführen«, so Sauer.

Und ganz wichtig ist auch der Hinweis, dass die immer wieder geforderten vereinfachten Rahmenbedingungen zugunsten der Unternehmen für eine Weiterbeschäftigung älterer Arbeitnehmer von der Großen Koalition im Windschatten der Rente mit 63 und der Mütterrente bereits hergestellt worden sind: In der Vergangenheit waren unbefristete Arbeitsverhältnisse bei einer Weiterbeschäftigung nach Erreichen des Renteneintrittsalters automatisch als unbefristet fortgeführt worden, was den Arbeitgebern ein Dorn im Auge war, denn solche Arbeitsverhältnisse sind seitens vieler Unternehmens kaum kündbar, ihre Beendigung ist oft mit Abfindungszahlungen verbunden. Das empfanden die Arbeitgeber als ein besonderes Risiko und ihre Forderung war es denn auch, so gestellt zu werden, dass sie die möglichen Vorteile einer Weiterbeschäftigung älterer Arbeitnehmer in Anspruch nehmen können und gleichzeitig aber diese schnell loswerden können, wenn „ihre Zeit gekommen“ ist. Und da ist ihnen die Bundesregierung ganz erheblich entgegengekommen: Die von den Arbeitgebern geforderten vereinfachten Rahmenbedingungen hat die Regierungskoalition »bereits im Juli 2014 gleichzeitig mit der Mütterrente und der Rente mit 63 in Kraft gesetzt: Seither können Arbeitnehmer und Arbeitgeber eine befristete Weiterbeschäftigung nach Erreichen des Renteneintrittsalters vereinbaren und solche Befristungen auch mehrfach verlängern.« Dass manchen Arbeitgeber die Befristungsregelung „natürlich“ immer noch nicht reicht und sie sich am liebsten jederzeit und ohne Widerspruchsmöglichkeiten von den älteren Arbeitnehmern trennen möchten, wenn die nicht mehr so funktionieren sollten, wie man das erwartet, sei an dieser Stelle nur nachrichtlich erwähnt.

Bleibt also an dieser Stelle die Frage, was den nun neu oder weiterführend sein soll an den aktuellen Vorschlägen. Es wurde bereits erwähnt, dass die Arbeitgeber ihren Teil des Rentenversicherungsbeitrags für die jenseits des Renteneintrittsalters beschäftigten Arbeitnehmer weiter zahlen müssen. Und hier setzt ein seit längerem in die Debatte geworfener Vorschlag der Arbeitgeber an: Unter dem sympathisch daherkommenden Begriff der „Flexi-Rente“ sollen diese Arbeitgeberbeiträge an die Arbeitnehmer ausgeschüttet werden, um einen zusätzlichen Anreiz zu setzen. Ein Schelm, wer böses denkt und rechnen kann, denn die Arbeitgeber wollen den Arbeitnehmer beglücken mit mehr Geld, das sie nicht etwa zusätzlich aufbringen müssten – das wäre ja auch eine Möglichkeit, wenn das Wissen und die Arbeitskraft der älteren Arbeitnehmer wirklich so dringend erforderlich sind, wie man uns in der Diskussion über einen Fachkräftemangel unterschieben möchte -, sondern das man der Sozialversicherung entwendet, um es dem Einzelnen dann auszuzahlen. Das nun ist aus Arbeitgebersicht verständlich und attraktiv, aber aus Sicht der Sozialversicherung fragwürdig, denn wie wir gesehen haben, profitieren die länger arbeitenden Menschen ja auch aufgrund der Mechanik der Rentenformel von ihrem längeren Arbeiten durch eine höhere Rente.

In diese Richtung argumentiert auch Carsten Linnemann, seit 2013 Vorsitzender der Mittelstandsvereinigung der CDU, der zum einen erkennt, dass man – wenn schon – an der richtigen Stelle bei den Sozialversicherungsabgaben ansetzen muss, ansonsten unterstützt er den Vorstoße der Arbeitgeberseite. Er argumentiert in seinem Anfang Dezember 2014 erschienenen Artikel Länger arbeiten muss sich lohnen so:

»Im Kern muss es also um mehr Flexibilität im Rentenalter gehen. Um die zu erreichen, müssen die bestehenden „Strafabgaben“ für Beschäftigte im Rentenalter beseitigt werden. Denn es ergibt keinen Sinn, dass Arbeitgeber für Arbeitnehmer, die eine Altersrente beziehen, aber weiter arbeiten, Arbeitslosen- und Rentenversicherungsbeiträge zahlen, obwohl die Betroffenen überhaupt nicht mehr arbeitslos werden können und damit auch kein Arbeitslosengeld mehr beanspruchen können. Kurzum: Die Arbeitgeberbeiträge zur Arbeitslosenversicherung gehören schlicht abgeschafft … In der Rentenversicherung sollte es für diejenigen, die über das Rentenalter hinaus arbeiten, einen Flexi-Bonus in Gestalt eines Rentenzuschlags geben.«

Trotz der etwas differenzierteren Herleitung – auch Linnemann schiebt den schwarzen Peter der Finanzierung der „Anreize“ für die älteren Arbeitnehmer an die Sozialversicherung. Es ist schon beeindruckend bzw. es spricht für sich, dass keiner auf die erste marktwirtschaftlich naheliegende Lösung kommt: Wenn den Arbeitgebern das Humankapital der älteren Fachkräfte angeblich so wichtig ist, dann müsste das in die Lohnbildung internalisiert werden, bevor man wieder Geschäfte zu Lasten Dritter macht.

Und was schlägt Bodo Ramelow von den Linken, der für viele überraschende Sympathisant einer freiwilligen „Rente mit 70″, vor? Man darf jetzt doch etwas überrascht sein, aber vielleicht liegt es einfach nur daran, dass er auch in die Medien wollte und deshalb schnell sprechen musste: „Arbeitnehmern, die das Rentenalter erreicht haben, aber weiter arbeiten wollen, kann beispielsweise die Einkommensteuer erlassen werden“, so wird der neue Ministerpräsident zitiert. Das wäre dann einer Art Arbeitgeber-Forderung 2.0. Ob er jetzt auch eingeladen wird zum Arbeitgeber-Tag?

Fazit: Bereits heute gibt es die grundsätzliche Möglichkeit, dass die, die wollen und können, über das Renteneintrittsalter hinaus arbeiten gehen. Hierfür hat die Große Koalition bereits seit Juli 2014 die arbeitsrechtlichen Voraussetzungen im Interesse der Arbeitgeber flexibilisiert. Vielleicht sollte man einmal genauer hinschauen, warum es so vielen Arbeitgebern offensichtlich schwer fällt, von den bestehenden Möglichkeiten Gebrauch zu machen. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit waren Mitte 2014 in der Altersgruppe von 65 bis 69 lediglich 130.000 Menschen sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Möglicherweise ist ein großer Teil der Arbeitgeber das Nadelöhr, das den Zugang zu mehr Beschäftigung für Menschen oberhalb des gesetzlichen Renteneintrittsalters verengt.Hinzu kommt natürlich, dass auch wenn es nicht mehr Anreize geben würde, länger zu arbeiten: Für viele Arbeitnehmer kann das gar kein Thema sein oder werden. Dazu Stefan Sauer in seinem Artikel:

»Das Institut für Arbeit und Qualifikation der Uni Duisburg Essen stellte Anfang 2014 in einer Studie fest, dass Beschäftigte im Hoch- und Tiefbau im Schnitt bereits mit 57,6 Jahren ihren Beruf aufgeben müssen. Starken Belastungen, die zu einem frühzeitigen Aus ihrer Berufsausübung führen, sind der Untersuchung zufolge unter anderem Arbeitnehmer in Holz und Kunststoffverarbeitung, in der Logistik und in Ernährungsberufen sowie branchenübergreifend Hilfsarbeiter ausgesetzt. Auch im Dienstleistungsbereich, etwa in der Altenpflege, gibt es körperlich und psychisch stark beanspruchende Tätigkeiten. Für Millionen Beschäftigte ist die Rente mit 70 also kein Thema.«

Die angesprochene Studie des IAQ ist als „Altersübergangsreport 2014-01“ erschienen: Martin Brussig und Mirko Ribbat: Entwicklung des Erwerbsaustrittsalters: Anstieg und Differenzierung. Hier bekommt man ein sehr differenziertes Bild der Entwicklung beim Ausstieg aus dem Erwerbsleben. Nur zwei Beispiele: »Hinsichtlich des mittleren beruflichen Austrittsalters gibt es große Unterschiede zwischen Berufen. Die Altersspanne zwischen Berufen mit einem sehr hohen und einem sehr niedrigen mittleren beruflichen Austrittsalter liegt bei über fünf Jahren.« Hinzu kommt: »Berufe mit einem hohen mittleren beruflichen Austrittsalter erlauben nicht notwendigerweise lange Erwerbsphasen, sondern können auch durch Personen geprägt sein, die erst am Ende ihres Erwerbslebens vorübergehend in einen Beruf hineinströmen, nachdem sie ihren langjährig ausgeübten Beruf aufgegeben haben.« Die Wirklichkeit ist eben immer schwieriger, als es oftmals erscheint.

Im Jahr 2013 waren – nach einem kontinuierlichen Anstieg des Anteils in den vergangenen Jahren – von den 60- bis 64-Jährigen 32,4% sozialversicherungspflichtig beschäftigt, also gerade einmal jeder Dritte in dieser Altersgruppe (immer wieder wird von interessierter Seite die wesentlich höhere Erwerbstätigenquote genannt, die 2013 bei 49,9% lag, zu denen gehören aber alle, die irgendwie und sei es nur ein wenig arbeiten, egal ob als Arbeitnehmer. Minijobber oder Selbständiger).
Es gibt also noch eine Menge zu tun bei denen, die unter 65 sind. Vielleicht sollte man vernünftigerweise darauf die Prioritäten legen und ansonsten die Arbeitgeber motivieren, von den bestehenden Regelungen für eine freiwillige Weiterarbeit a) Gebrauch zu machen und b) wenn ihnen das so wichtig ist, mit dem marktwirtschaftlichen Instrument der Verbesserung der Arbeitsbedingungen, zu denen auch die Löhne gehören, zu reagieren, bevor man nach Dritten ruft, die einem das bezahlen, so wie früher die Frühverrentungen auf die Sozialversicherungen externalisiert worden sind.

Flüchtlinge: Kürzere Verfahren, schnellere Abschiebungen: Bayern. „You are most welcome!“: Uganda

Es bedarf keiner prognostischen Expertise um vorherzusagen, dass das Thema Flüchtlinge und der Umgang mit ihnen im gerade begonnenen neuen Jahr in Deutschland eine zentrale Rolle einnehmen wird. Und dies – wie könnte es auch anders sein – in einem sich polarisierenden Umfeld, für das auf der einen Seite die Pegida-Aktivitäten in Dresden beispielhaft stehen und auf der anderen Seite die vielen Gegenaktionen bis hin vor allem zu der ganz praktischen Hilfe, die man den Flüchtlingen vor Ort zukommen lässt. Die Entwicklung der Montagsdemonstrationen der Pegida in Dresden mit ihrem beunruhigenden Zulauf bis Ende des Jahres haben Parteien und Medien in erhebliche Unruhe versetzt. Während sich viele mehr oder weniger intensiv und hilfreich an der Debatte über das hinter Pegida stehende Phänomen beteiligen, wurde von der Bundeskanzlerin eigentlich gar nichts erwartet in dieser Angelegenheit. Was sollte auch aus ihrer Richtung kommen außer Schweigen?

Immer wieder wirft man der Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) vor, sie würde das Land in eine Art Dauerschlaf versetzen, sie habe keine Visionen und sie vermeidet alles, was irgendwie kontrovers sein könnte bzw. sie überlässt es eben anderen, sich mit offenem Visier zu stellen, so lange noch nicht klar ist, in welche Richtung die Mehrheit tendiert. An diesen Charakterisierungen ist eine Menge richtig und angesichts ihres bisherigen Politikstils passt es auch zu ihr, gleichsam durch die Hintertür ihr Wahlvolk beeinflussen zu wollen (vgl. dazu den kritischen Kommentar Stups zum Glück von Tina Hildebrandt: »Im Kanzleramt wird derzeit erforscht, was die Deutschen glücklich macht und wie man ihnen zu ihrem Glück verhelfen kann. Wirksames Regieren lautet der Name der zugehörigen Kommission, nudging („anstupsen“) heißt die Methode. „Liberaler Paternalismus“ wird das Konzept auch genannt.« Zum Thema „nudging“ vgl. auch den Beitrag Wir wissen, was gut für dich ist).

Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich, dass so mancher überrascht war, dass die Bundeskanzlerin in ihrer Neujahrsansprache am 31.12.2014 für ihre Verhältnisse sehr deutlich Position bezogen hat zu Pegida & Co.:

»Heute rufen manche montags wieder „Wir sind das Volk“. Aber tatsächlich meinen Sie: Ihr gehört nicht dazu – wegen Eurer Hautfarbe oder Eurer Religion. Deshalb sage ich allen, die auf solche Demonstrationen gehen: Folgen Sie denen nicht, die dazu aufrufen! Denn zu oft sind Vorurteile, ist Kälte, ja, sogar Hass in deren Herzen!«

Das sind – so begrüßt es sogar die Opposition – wichtige Worte der Bundeskanzlerin in einer sich zunehmend aufheizenden und auch radikalisierenden gesellschaftlichen Atmosphäre. Aber es gibt natürlich auch noch eine andere Realität, die hier mal als eine technokratisch daherkommende bezeichnet werden soll bzw. muss, mit der zum einen ein „Problem“ adressiert wird, bei der es aber immer auch um die Beeinflussung einer Stimmungslage geht oder gehen soll. Und dazu gehören Vorschläge, die wieder einmal aus Bayern an die Oberfläche gespült werden: Bayern kündigt strengere Regeln für Asylbewerber an, so lautet einer der Artikel, die darüber berichten. Und es reicht bei weitem nicht aus, das nur abzubuchen unter dem Versuch der CSU, in den Reihen derjenigen, die mit Pegida & Co. sympathisieren, (wieder) Boden zu gewinnen – immerhin sollen angeblich einer aktuellen Umfrage zufolge 29 Prozent der Befragten die Pegida-Aktionen unterstützen. Man sollte die Vorschläge einmal versuchen, bis an ihr logisches Ende weiterzudenken.

Das Ziel der bayerischen Landesregierung sei es, die „Rückführung deutlich zu verstärken“, so der Innenminister Joachim Herrmann (CSU). Mit einer ganz eigenen Begründungslogik für en verschärftes Vorgehen: „Je stärker der Vollzug ist, desto mehr abgelehnte Asylbewerber gehen auch freiwillig.“ Wie soll die Verschärfung umgesetzt werden? Wieder einmal – wir sind ja in Deutschland – geht es hier um eine Zuständigkeitsfrage, die es in sich hat: Nach den bayerischen Plänen soll es künftig an jeder Erstaufnahmeeinrichtung eine „zentrale Ausländerbehörde“ geben. „Die Beamten vor Ort sollen direkt für Abschiebungen zuständig sein. Wer keinen Asylgrund hat, soll möglichst unmittelbar aus der ersten Unterkunft zurück in sein Heimatland gebracht werden“, so wird der Innenminister zitiert. Bei Asylverfahren soll es eine deutliche Verkürzung der Verfahrenszeiten geben auf höchstens drei Monate – derzeit sind es im Durchschnitt mindestens acht Monate. Wenn man das zu Ende denkt, dann zeigen sich am Horizont die Umrisse eines Lagersystems in Deutschland für die, die es hierher geschafft haben, denn genau so muss man die bayerischen Vorschläge lesen. Die Betroffenen müssen in „Erstaufnahme- und Verbleibseinrichtungen“ gesammelt werden, um die, die keine Chance bekommen, schnellstmöglich wieder abzuschieben. Dieser Vorschläge sind übrigens durchaus kongruent zu einem zweiten Strang, der in dem Artikel nicht angesprochen wird, den man aber mitdenken sollte: Gemeint sind hier die Auffanglager, die in den nordafrikanischen Staaten eingerichtet werden könnten, wo dann das Asylgesuch der einzelnen Flüchtlinge von EU-Beamten geprüft werden sollen. Damit will man den Strom der Flüchtlinge über das Mittelmeer eindämmen. Aber wieder zurück nach Deutschland. Glaubt jemand ernsthaft, die Einrichtung großer Lager für Asylbewerber und die von dort vollzogenen verstärkten und schnellen Abschiebungen würden das Bild und die Unruhe in der Bevölkerung verringern helfen? Wohin das führen kann? Ein Blick in die erbärmlichen Internierungslager für Flüchtlinge in Griechenland oder Ungarn – beides Mitgliedsstaaten der EU – mag erste Hinweise für die Beantwortung dieser Frage geben.

Aber wie immer im Leben gibt es einen Kontrast, eine andere Seite, die oftmals vergessen wird bei der Fokussierung auf unsere „Probleme“ und unseren „Umgang“ mit Menschen, die als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind. Ein beeindruckendes Beispiel dafür findet man in dem Artikel „You are most welcome!“ von Simone Schlindwein: »Die meisten afrikanischen Flüchtlinge wollen gar nicht in deutsche Asylbewerberheime. Sie fliehen in Nachbarstaaten, etwa nach Uganda. Dort sieht man ihr Potenzial und ist solidarisch.« Sie findet deutliche, provokative Worte aus einer anderen als der deutschen Binnen-Perspektive:

»Es ist einfach nur beschämend, wenn man sich von Afrika aus die deutsche Asylpolitik und den Umgang der Deutschen mit Flüchtlingen in ihrer Nachbarschaft betrachtet. Pegida in Dresden, das brennende Flüchtlingsheim bei Nürnberg, die fehlenden Unterkünfte für Schutzsuchende – und all diese hitzigen Debatten. Als würde ein ganzes Heer von Flüchtlingen den deutschen Elfenbeinturm stürmen … Aber mal halblang. Nicht ganz Afrika ist auf der Flucht nach Europa. Die meisten Vertriebenen aus den Krisen des Kontinents wollen gar nicht nach Hessen, Sachsen oder Bayern, um dort in Asylbewerberheimen misshandelt zu werden. Die Mehrheit der afrikanischen Flüchtlinge sucht Schutz in den Nachbarländern nahe der Grenzen ihrer Heimat – oder in Ländern wie Uganda, die sie gerne aufnehmen. Wo sie willkommen sind, wo sie einen kleinen Laden aufmachen können, um ein neues Leben zu beginnen, anstatt in deutschen Asylcontainern zwischengeparkt zu werden.«

Sie verdeutlicht das am Beispiel des kleinen Landes Uganda in Ostafrika: Uganda beherbergt derzeit eine halbe Million Flüchtlinge. Davon sind die Mehrheit Kongolesen, die andere Hälfte Südsudanesen, Somali, Eritreer. Und es werden mehr: Laut Schätzungen des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR könnten es Ende 2015 bis zu 700.000 Schutzsuchende sein. Die meisten werden in Uganda Asyl beantragen und bleiben, weil es kaum Hoffnung gibt, dass sich die Krisen in ihrer Heimat bald beilegen lassen. Natürlich hält sie uns den vergleichenden Spiegel vor: »Das UNHCR meldet für Deutschland gerade einmal die Hälfte an Flüchtlingen, dabei verfügt die Bundesrepublik über ein Bruttosozialprodukt, das 157-mal größer ist als das von Uganda.«
Und trotz der enormen „Belastung“ durch die Flüchtlinge unterscheidet sich der Umgang, so Schlindwein, von dem bei uns ganz erheblich: „You are most welcome!“, heißt es etwa in der Immigrationsbehörde am Schalter für Asylanträge. In Deutschland undenkbar.

Allerdings muss man auch darauf hinweisen, dass Uganda die liberalste Einwanderungspolitik in Afrika verfolgt. Ein weiteres Beispiel im Kontext der jüngsten Ebola-Krise:

»Während die ganze Welt lieber jedem Westafrikaner den Zutritt zum Flugzeug verboten hätte, erklärte Ugandas Flüchtlingskommission, dass Menschen aus den betroffenen Gebieten ohne Umstände Asyl erhalten können, inklusive Arbeitserlaubnis.«

Und Uganda macht das (nicht nur) aus humanitären Erwägungen: »Diese Flüchtlinge, das sind doch Mechaniker, Händler, Köche, Ingenieure! Die kommen mit all ihren Ersparnissen, um sich ein neues Leben aufzubauen. Sie investieren, um zu überleben. Denn der Staat kann sie nicht durchfüttern.
Also eröffnen sie kleine Läden, Restaurants, fahren Taxi oder gehen zur Universität. Sie zahlen im besten Fall später sogar Steuern, stellen ein paar Ugander ein. Sie zahlen Miete für ein Haus, für einen Laden. Sie konsumieren – und fördern damit die Wirtschaft in Uganda.«

Die Uganda-Philosophie ist zwischenzeitlich auch in Deutschland angekommen – wenn auch in einer zugegeben noch kleingeschredderten Variante, aber immerhin:

»Der Präsident der Handwerkskammer, Hans Peter Wollseifer, hat jüngst ein begrenztes Bleiberecht für ausbildungswillige junge Flüchtlinge in Deutschland gefordert.«

Es besteht also Hoffnung, wenngleich diese zarten Pflänzchen immer Gefahr laufen, beispielsweise unter die Räder des Bulldozers aus München zu geraten, hier also des umtriebigen Wirtschaftsprofessors Hans-Werner Sinn mit seiner Steilvorlage für Pegida & Co., nach der die Migranten allesamt ein „Verlustgeschäft“ sind. Das wurde hier schon entsprechend analysiert und kommentiert.

Es werden mehr. (Nicht nur, aber auch) eine Frage von Angebot und Nachfrage: Wohnungs- und Obdachlosigkeit

In diesen Tagen ist ja mal wieder der Versuch gestartet worden, am Beispiel der Migranten Menschen als Kostenstellen zu quantifizieren, mit einer höchst gefährlichen Unwucht in Richtung auf „wertvoll“ und „nicht-wertvoll“. Dieser Ansatz ist nicht nur aus methodischen Gründen zu kritisieren, er würde konsequent zu Ende gedacht eine verwerfliche Selektivität des Helfens oder eben Nicht-Helfens legitimieren. Und wenn man die soziale Leiter ganz runter steigt, dann müsste man nach dieser Logik die Überlebenshilfe und darüber hinausreichende Maßnahmen für obdachlose Menschen aus Kostengründen nicht nur in Frage stellen, sondern sein lassen. Denn was soll sich „rechnen“, wenn man Notunterkünfte für diese Menschen organisiert und finanziert, aufsuchende Sozialarbeit und weitere Hilfen? Viele der Menschen, um die es hier geht, haben aus ganz unterschiedlichen Gründen eine derart beschädigte Biografie, dass sie in der kalten Zahlen-Welt der Kostenrechner niemals den „break even-point“ erreichen werden, an denen sie weniger kosten als sie der Gesellschaft einbringen. Nein, die Hilfe für diese Menschen muss anders begründet werden und die, die sie leisten, tun dies ganz oft aus einer zutiefst humanen Regung heraus, die sich mit keinem Gold der Welt aufwiegen lässt. Und der Bedarf an diesen Hilfen steigt, was zum einen ganz individuelle Gründe hat, aber hinzu kommt auch das Wirksamwerden von Angebots-Nachfrage-Mechanismen, die ihren Teil dazu beitragen, dass wir es leider mit einem wachsenden Problem in unserer Gesellschaft zu tun haben (werden).

Unter der Überschrift Alles voll gibt Pia Ratzesberger am Beispiel der Stadt München einen guten Einblick in die angedeuteten Prozesse:

»4.500 akut Wohnungslose zählt München momentan, nach Angaben des örtlichen Amtes für Wohnen und Migration kommen jeden Monat 40 bis 60 Menschen hinzu. Trotz wirtschaftlicher Stärke schafft die Stadt es nicht, all ihre Bewohner unterzubringen.« In an sich wohlhabenden Städten  wie München »sind es der Reichtum und das Wachstum, die dafür verantwortlich sind, dass es nicht mehr selbstverständlich ist, eine Wohnung zu haben.«

In ganz Deutschland nimmt die Wohnungslosigkeit (wieder) zu: »Im Jahr 2012 waren den jüngsten Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe zufolge etwa 280.000 Menschen wohnungslos, bis 2016 soll die Zahl noch mal um 100.000 ansteigen. Wohnungslosigkeit ist allerdings nicht gleich Obdachlosigkeit. Als obdachlos gilt, wer auf der Straße schläft, also „Platte macht“. Akut wohnungslos ist, wer keine durch einen Mietvertrag abgesicherte Wohnung und keine Eigentumswohnung besitzt.« Wobei man darauf hinweisen muss, dass es sich bei diesen Zahlen um Schätzungen handelt bzw. handeln muss, denn Nordrhein-Westfalen führt bisher als einziges Bundesland eine Statistik, offizielle Erhebungen für die gesamte Bundesrepublik gibt es nicht.

Ein ganz wesentlicher Grund für die beobachtbare Zunahme der Wohnungslosigkeit liegt in der Wirkung eines besonderen Konkurrenzmechanismus, der sich aus einer Asymmetrie zwischen Angebot und Nachfrage ableiten lässt: Die Zahl der Wohnungslosen nimmt zu, weil Wohnraum immer knapper und teurer wird. Nicht nur in den Großstädten, sondern auch in Klein- und Mittelstädten fehlt es an preiswerten, kleinen Wohnungen. »Vor allem Hartz-IV-Empfängern würden die hohen Mieten wegen der Mietobergrenzen zusetzen – werde die Mieterhöhung vom Job-Center als nicht angemessen eingestuft, müsse sie der Arbeitslose aus eigener Tasche zahlen. Oder sich eine neue, günstigere Wohnung suchen.« Die es aber meistens gar nicht gibt. Hinzu kommt – um das hier zu vervollständigen – eine weitere Konkurrenzverschärfung durch die seit einiger Zeit stark ansteigende Zahl an Zuwanderern – zum einen aus den südeuropäischen Krisenstaaten und den osteuropäischen Armenhäusern der Europäischen Union wie auch bei den Asylbewerbern und Kriegsflüchtlingen, die ja auch alle untergebracht werden müssen.

Man kann das Wirken von Angebot und Nachfrage am Beispiel der Stadt München verdeutlichen. Dazu Pia Ratzesberger: »Der Nettozuzug – die Fortzüge sind von diesen Zahlen schon abgezogen – liegt derzeit bei 25.000 bis 30.000 Menschen im Jahr. Sie alle drängen in die Stadt, in die Wohnungen und Häuser. Doch wer zu wenig Geld hat, um die Kaltmiete von im Schnitt mehr als zehn Euro pro Quadratmeter zu zahlen oder sich gar eine eigene Wohnung zu kaufen, hat es schwer: 90 Prozent der Münchner Wohnungen sind in Privatbesitz. 10 Prozent bleiben der Stadt. Zu wenig.«

Damit wird ein ganz besonderes Problem angesprochen, das man verstehen muss als ein Ergebnis, das sich ergibt aus jahrelangem unterlassenen Tun: dem mittlerweile immer drängender werdenden Problem, dass der soziale Wohnungsbau über viele Jahre heruntergefahren wurde, immer mehr einst geförderte Wohnungen aus der Mietpreisbindung gefallen sind und fallen. Eine veritable Angebotsverknappung bei gleichzeitig steigender Nachfrage.

Das wird auch thematisiert am Beispiel der Stadt Münster in dem Artikel Die vergessenen 360.000 – Ein Einblick in das Leben von Menschen ohne Wohnung, einem Gastbeitrag von Rebekka Wilhelm und Lena Amberge, zwei Studierenden der Universität Münster, die eine lesenswerte Reportage zum Thema geschrieben haben.

Aus allen Städten erreichen uns vergleichbare Meldungen, wie Ratzesberger berichtet:

»Auch Berlin, das lange für billige Mieten bekannt war, kämpft wie so viele deutsche Städte mit der Wohnungslosigkeit: Die Nettokaltmieten sind im vergangenen Jahr doppelt so stark gestiegen wie im Bundesdurchschnitt. Nach Angaben der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales sind momentan etwa 12 000 Menschen ohne Wohnung. Nicht alle leben in Heimen, manche auch in Pensionen oder Hostels. Während der kalten Monate richten die Bezirke der Stadt jedes Jahr bis zu 500 Notschlafplätze ein, in diesem Jahr sollen es 600 sein. Noch reicht das, da die Temperaturen relativ milde sind. Doch das kann sich schnell ändern. „Das Wohnungsproblem hat massiv zugenommen. Immer mehr Menschen kommen in unsere Beratungen, all unsere Einrichtungen sind nahezu voll ausgelastet“, sagt Kai Gerrit-Venske, Referent der Berliner Caritas für Wohnungslosen- und Straffälligenhilfe.«

Und in der Hauptstadt lässt sich mit Blick auf die Wohnungslosenhilfe zugleich auch ein Trend beobachten, der nachdenklich stimmt – ein an sich, also bezogen auf das frühere Niveau durchaus gut ausgebautes Hilfesystem sieht sich konfrontiert mit einem Wettlauf gegen den Anstieg der Bedarfe und der Nachfrage, der erinnern muss an die Geschichte vom Hase und Igel.

»In der Hauptstadt bietet die Caritas unter anderem betreutes Einzelwohnen an; Menschen im Anschluss eine Wohnung zu vermitteln, werde allerdings immer schwieriger. „Unsere Mitarbeiter sind mittlerweile mitunter mehr Makler als Sozialarbeiter“, sagt Venske. Eigentlich habe Berlin zwar ein sehr dichtes Netz, von Streetwork bis hin zur stationären Betreuung. Aber das System komme an seine Grenzen. Das zeige das veränderte Stadtbild, sagt Venske: „Unter den S-Bahn-Brücken schliefen früher ein paar Einzelne, heute sind es ganze Gruppen.“«

Dabei ist diese Hilfe im wahrsten Sinne des Wortes existenziell – und wie so oft bei kommunal zu erbringenden Leistungen quantitativ und qualitativ ganz unterschiedlich ausgeprägt. Das Bundesland Nordrhein-Westfalen – bekanntlich von vielen sozialen Problemen und erheblichen Finanzproblemen geplagt – wurde bereits lobend erwähnt, ist es doch das einzige Bundesland, in dem es den Versuch einer offiziellen Wohnungslosenstatistik gibt, während andernorts lieber der Kopf in den Sand nicht verfügbarer Zahlen gesteckt wird. Nordrhein-Westfalen wird aber auch darüber hinaus gelobt für das, was sich dort im Hilfesystem getan hat: NRW kämpft vorbildlich gegen Obdachlosigkeit, bilanziert Frank Brettschneider bereits im Titel seines Artikels. »In Nordrhein-Westfalen sind derzeit nach Zahlen des Düsseldorfer Sozialministeriums knapp 20.000 Menschen obdachlos. Davon sind drei Viertel männlich, jeder zehnte ist jünger als 18 Jahre. Während die Zahl der Obdachlosen bundesweit jährlich um bis zu 15 Prozent steigt…, ist sie im bevölkerungsreichsten Bundesland zuletzt weitgehend stabil geblieben.« Als ein Grund für diese erfreuliche Entwicklung werden Präventionsprogramme genannt, die NRW zusammen mit den Städten, Kirchen und freien Trägern aufgelegt hat. „Das System ist dicht geknüpft und funktioniert bis in den ländlichen Raum. Das ist bundesweit besonders“, so Rolf Jordan von der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe. Das ist nicht umsonst zu haben: »Mit 1,12 Millionen Euro pro Jahr unterstützt das Land Kommunen und freie Träger bei der Unterbringung Wohnungsloser. Ein Netz kommunaler Fachstellen vermittelt im Rahmen der Wohnungsnotfallhilfe bezahlbaren Wohnraum.« Aber auch hier geht es natürlich wieder um Angebot und Nachfrage und die daraus resultierenden Mechanismen, denn anders als beispielsweise in München, Stuttgart oder Frankfurt muss man die Tatsache in Rechnung stellen, dass der Wohnungsmarkt insbesondere im Ruhrgebiet angesichts vieler leer stehender Wohnungen vergleichsweise entspannt ist.

Warum solche Aktivitäten so wichtig sind zeigt sich auf der anderen Seite der Medaille. Stefan Brändle beschreibt diese in seinem Artikel Bittere Kreativität gegen Obdachlose in Frankreich. In unserem Nachbarland steigt ebenfalls der Problemdruck ganz erheblich: »Landesweit hat sich die Zahl der „Wohnsitzlosen“ („Sans domicile fixe“, kurz SDF) laut dem Statistikamt Insee seit 2001 auf 120.000 verdoppelt.« Und was viele sicher nicht wissen: »Ein Viertel der französischen Obdachlosen sind laut Insee berufstätig.« Aber neben der Hilfe gibt es auch andere Reaktionen: Städte versuchen, Armut aus dem Stadtbild zu verdrängen.

»Am Weihnachtstag staunten Passanten in der westfranzösischen Stadt Angoulême: Sämtliche Sitzgelegenheiten am Marsfeld waren eingezäunt. Feste Eisengitter umgaben die neun Betonbänke gegenüber einer Einkaufsgalerie. Die Stadtverwaltung gab bekannt, sie habe die Bänke sperren lassen, da sie „fast ausschließlich durch Personen benutzt werden, die sich wiederholtem Alkoholgenuss hingeben“.« Das löste einen landesweiten Proteststurm aus. »Am Tag nach Weihnachten krebste der konservative Bürgermeister Xavier Bonnefont zurück und ließ die Gitter „aus Sicherheitsgründen“, entfernen. Allerdings nur „provisorisch“, wie er anfügte: Nach den Feiertagen sollen die Bänke durch künstlerische Steinhaufen ersetzt werden.«

Das aktuelle Beispiel aus Angoulême ist leider kein Einzelfall: »Die Behörden von Angoulême reagieren so überfordert wie in vielen anderen Orten im Land: Sie ersetzen Sitzbänke durch Klötze, Kieselsteine, Eisenspitzen oder Kaktusbeete. Andere bringen etwa Armlehnen an, um die Liegestellung zu verunmöglichen; die Pariser U-Bahn neigte einige besonders beliebte Plastiksessel gar in aller Diskretion nach unten – wer einschläft, fällt zu Boden. Publik geworden war vor Jahren der Versuch im Pariser Vorort Argenteuil, die Clochards mit Stinkgas von den städtischen Anlagen fernzuhalten; erst ein landesweiter Aufschrei stoppte das Vorhaben.«

Und ein anderes Beispiel aus Frankreich zeigt zugleich, wie schmal zuweilen der Grat ist zwischen einer technokratischen Optimierung der Hilfestrukturen und der fatalen Wirkung dessen, was dafür benutzt wird. Das Beispiel ist das Vorgehen der Stadt Marseille:

»Die bürgerliche Stadtregierung hatte ohne Absprache mit humanitären Organisationen eine spezielle SDF-Markierung eingeführt: Damit sie in Krankenhäusern, Notunterkünften oder Essensausgaben erkannt würden, wie es hieß, sollten Obdachlose einen Ausweis mit einem großen gelben Dreieck an sich und vorzugsweise um den Hals tragen. Die erboste Reaktion konnte nicht ausbleiben: Das erinnere an eine andere allzu bekannte Beamtenverfügung, nämlich den Davidstern der Nationalsozialisten, meinte ein Kollektiv namens „Das jüngste Gericht“.  Vize-Bürgermeister Xavier Mary nannte diesen Vergleich zuerst „absurd“. Vor Weihnachten räumte er aber ein, der Vorschlag sei „zweifellos ungeschickt“ gewesen. Seine Stadt sucht nun eine „bessere Lösung“. Welche, will sie erst nach den Festtagen sagen.«

Nach „besseren Lösungen“ werden auch wir in Deutschland suchen müssen, denn angesichts der gesellschaftlichen Verwerfungen ist der „Nachschub“ für die Wohnungs- und Obdachlosigkeit leider sicher. Aber man darf sich nicht damit abfinden, auch wenn das nur kostet und deshalb bei den Vulgär-Ökonomen den Blutdruck steigen lässt.