Mehr als ein Vollzeitjob für viele pflegende Angehörige: Immer mehr Zeit und (eigenes) Geld. Und viele müssen bei der Erwerbsarbeit reduzieren oder aufgeben

Auch wenn sich viele öffentliche Diskussionen um die Situation in den Pflegeheimen drehen – aus der Vogelperspektive muss man feststellen, dass hier nur ein kleiner Ausschnitt der Langzeitpflege in das Scheinwerferlicht der mit der Berichterstattung einhergehenden Aufmerksamkeit gezogen wird. Denn der Großteil der pflegebedürftigen Menschen lebt nicht in einem Pflegeheim, sondern weit über 80 Prozent werden zu Hause von den Angehörigen und teilweise unter punktueller Unterstützung durch ambulante Pflegedienste sowie durch die Schattenarmee der zumeist osteuropäischen Betreuungskräfte versorgt. Das Pflege- und Betreuungssystem in diesem Land würde innerhalb von Minuten kollabieren, wenn nur ein überschaubarer Teil der pflegenden Angehörigen diese Sorge-Arbeit niederlegen würde.

Wie aber geht es den vielen Menschen, die sich teilweise jahrelang um ihre pflegebedürftigen Angehörigen kümmern, die sich nicht selten vernutzen in dem, was sie tun, die selbst krank, pflegebedürftig und auch einkommensarm werden durch die tagtägliche Aufrechterhaltung der „billigsten“ Säule des Pflege- und Betreuungssystems? (Wobei man von „billig“ aber nur aus einer sehr eingeschränkten Perspektive sprechen kann).

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Von einem gar nicht so „explosionsartigen“ Anstieg der neuen Pflegefälle (nach SGB XI) und der eigentlichen Dramatik hinter der primär haushaltspolitisch motivierten Dramatisierung

Das sind Schlagzeilen, die in der modernen Medienwelt geliebt werden, garantiert doch die alarmierend daherkommende, Bedrohungsgefühle und Ängste auslösende semantische Zuspitzung – immerhin vom Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) vorgetragen – auf dem den Gesetzen der Aufmerksamkeitsökonomie folgenden Markt der öffentlichen Wahrnehmung sichere Klicks in der flüchtigen Welt des Nachrichtenstroms: Lauterbach sieht „explosionsartigen“ Anstieg bei Pflegebedürftigen. Diese und andere Artikel verweisen auf ein Interview des Ministers mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Dort wird er mit den Worten zitiert: »In den letzten Jahren ist die Zahl der Pflege­bedürftigen geradezu explosionsartig gestiegen. Demografisch bedingt wäre 2023 nur mit einem Zuwachs von rund 50.000 Personen zu rechnen gewesen. Doch tatsächlich beträgt das Plus über 360.000. Eine so starke Zunahme in so kurzer Zeit muss uns zu denken geben. Woran das liegt, verstehen wir noch nicht genau.«

Das liest sich doppelt alarmierend: Statt 50.000 über 360.000 neue Pflegefälle? Und dann versteht man da oben nicht genau, warum es so einen starken Anstieg gegeben haben soll? Alles sehr beunruhigend, wenn es denn so wäre. Der krasse Unterschied zwischen dem, was angeblich zu erwarten war und was dann tatsächlich gekommen ist, die ist durch die Berichterstattung bei vielen hängengeblieben. Aber schauen wir uns mal die Zahlen genauer an:

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War da nicht noch was mit der unmöglichen „24-Stunden-Betreuung“? Der Großbaustelle fehlt weiterhin das rechtssichere Fundament. Andere werfen einen Blick auf die Menschen, die das machen

Wenn man einen Blick wirft in den Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP vom 7. Dezember 2021, dann findet man dort auf der Seite 64 diesen einen schlanken, zugleich wegweisenden Satz: 

»Wir gestalten eine rechtssichere Grundlage für die 24-Stunden-Betreuung im familiären Bereich.« 

Na endlich, werden ganz viele Menschen denken, wenn man sie darüber informieren würde, dass sich die Ampel-Koalition vorgenommen hat, die seit vielen Jahren im Grunde in der zwangsläufigen Illegalität ablaufende Inanspruchnahme der Dienstleistungen zumeist osteuropäischer Frauen in den Privathaushalten in unserem Land auf ein rechtssicheres Fundament zu stellen. Und da steht ja auch, dass man das gestalten wird, also nicht wir überlegen oder prüfen oder erwägen mal, so etwas möglicherweise zu tun.

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