Der deutsche gesetzliche Mindestlohn von 8,50 Euro ist nur Mittelmaß. Ist er das?

Das passt in die aktuelle Mindestlohn-Debatte: »Deutsche Unternehmer schimpfen auf den gesetzlichen Mindestlohn. Doch eine Studie zeigt: Mit 8,50 Euro liegt die Bundesrepublik international nur im Mittelfeld«, kann man dem Artikel Deutscher Mindestlohn ist nur Mittelmaß entnehmen. Als Nachzügler – in 22 der 28 EU-Staaten gilt nun ein gesetzlicher Mindestlohn – hat Deutschland seit Januar 2015 eine solche allgemeine Lohnuntergrenze von 8,50 Euro eingeführt, die für fast alle gilt und der erstmals wieder zum Januar 2017, also in gut zwei Jahren, angepasst werden kann, nachlaufend zur Tariflohnentwicklung der Vergangenheit. In 16 Staaten sei die gesetzliche Lohnuntergrenze zum 1. Januar gestiegen, berichtet der neue Mindestlohnbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI), auf den sich der Artikel bezieht: »Der höchste Mindestlohn wird demnach in Luxemburg bezahlt, wo er zu Jahresbeginn … auf 11,12 Euro kletterte. Den zweithöchsten Mindestlohn gibt es mit 9,61 Euro in Frankreich … Auch andere deutsche Nachbarn hoben ihre Lohnuntergrenze an, darunter die Niederlande auf 9,21 Euro und Belgien auf 9,10 Euro.« Und da streiten wir uns über 8,50 Euro in der stärksten Volkswirtschaft der EU? Schauen wir etwas genauer hin.

Im internationalen Vergleich liegt der deutsche Mindestlohn von derzeit 8,50 Euro pro Stunde im Mittelfeld, wenn man das am „Medianlohn“ misst (der Medianlohn ist der mittlere Lohn, bei dem die Hälfte aller Beschäftigten mehr und die andere Hälfte weniger verdient; er bildet den „wahren“ Durchschnittsverdienst besser ab als das arithmetische Mittel, denn das kann durch wenige Ausreißer stärker verzerrt werden).

In der Pressemitteilung des WSI zum neuen Mindestlohnbericht liest sich das so: »Der deutsche Mindestlohn ist im westeuropäischen Vergleich moderat und liegt relativ zum nationalen Durchschnittsverdienst lediglich im internationalen Mittelfeld.« Insofern ist die im zitierten Artikel gemachte Aussage »Mit 8,50 Euro liegt die Bundesrepublik international nur im Mittelfeld« eine etwas irreführende Zusammenfassung. Wie so oft in der Statistik geht es immer auch um die Bezugsbasis und das Bezugsjahr. Beispiel Großbritannien:

»In den westeuropäischen Euro-Ländern betragen die niedrigsten erlaubten Brutto-Stundenlöhne nun zwischen 8,50 Euro in Deutschland und 11,12 Euro brutto in Luxemburg. In Großbritannien müssen umgerechnet mindestens 8,06 Euro gezahlt werden. Dieser Wert ist jedoch von der anhaltenden Schwäche des Britischen Pfunds beeinflusst. Wenn man den Wechselkurs zugrunde legen würde, der 1999 bei Einführung des britischen Mindestlohns galt, läge dieser heute bei 9,87 Euro und damit im westeuropäischen Spitzenbereich«, kann man der Zusammenfassung des Mindestlohnberichts 2015 entnehmen.

Aber auch hier findet man – mit Bezug auf Thorsten Schulten, dem Verfasser des Mindestlohnberichts – die folgende Formulierung:

»Der neue deutsche Mindestlohn liegt nach Schultens Analyse bei der absoluten Höhe „am unteren Rand der westeuropäischen Spitzengruppe“ – hinter Luxemburg, Frankreich, den Niederlanden, Belgien und Irland. Schaut man auf das relative Niveau, rangiert Deutschland lediglich im internationalen Mittelfeld: Gemessen am jeweiligen Medianlohn, den Vollzeitbeschäftigte verdienen, hätte die deutsche Lohnuntergrenze im Jahr 2013 – dem letzten, für das derzeit international vergleichbare Daten vorliegen – 50 Prozent betragen. Beim Medianlohn handelt es sich um denjenigen Lohn, bei dem die Hälfte aller Beschäftigten mehr und die andere Hälfte weniger verdient. Da seit 2013 der Medianlohn in Deutschland weiter angestiegen ist, dürfte der relative Wert des Mindestlohns heute sogar unter 50 Prozent liegen.«

Also doch. Allerdings gibt es dann im weiteren Verlauf einen wichtigen Hinweis, der zur Relativierung einlädt: »Setzt man die Lohnuntergrenze ins Verhältnis zu den nationalen Lebenshaltungshaltungskosten, profitieren deutsche Mindestlohnbezieher vom relativ günstigen Preisniveau in der Bundesrepublik: Ihre Kaufkraft ist etwas höher als die von Beschäftigten, die in den Niederlanden, Belgien oder Irland für den Mindestlohn arbeiten müssen.« An dieser Stelle wird der Ökonom sofort an die Kaufkraftparitäten denken. »Kaufkraftparitäten sind Preisrelationen, die angeben, wie viele Einheiten inländischer Währung erforderlich sind, um die gleiche Menge an einem Gut oder an einem Bündel von Gütern zu erwerben, die für eine Einheit einer bestimmten ausländischen Währung erhältlich ist«, so die Erläuterung der Bundesstatistiker. Aber nicht nur für die Vergleiche zweier oder mehr Länder mit unterschiedlichen Währungen nutzt man das, auch innerhalb der Euro-Zone ist das relevant und wird auch zur Anwendung gebracht.

Der Euro hat in einzelnen Ländern der Eurozone abhängig vom nationalen Preisniveau eine unterschiedliche Kaufkraft. Die Kaufkraftparitäten sind Preisverhältnisse zwischen Preisen für gleiche Waren oder Dienstleistungen. Für die Preiserhebung wird ein Korb vergleichbarer Waren und Dienstleistungen verwendet, die die Verbrauchsstrukturen der verschiedenen Länder berücksichtigen. Es geht also um Umrechnungsfaktoren in eine künstliche gemeinsame Währung, Kaufkraftstandard (KKS) genannt, um die Aggregate dann vergleichen zu können. Beispielsweise die Kaufkraft der Löhne in den einzelnen Euro-Ländern.

Das WSI-Tarifarchiv, das auch den Mindestlohnbericht verantwortet, hat nun auch die gesetzlichen Mindestlöhne nach dem KKS-Konzept ausgewiesen, also unter Berücksichtigung der Kaufkraftverhältnisse nicht nur zu Ländern mit anderen Währungen, wie den USA, Großbritannien usw., sondern auch zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten der Euro-Zone. Nach Korrektur um die unterschiedlichen Kaufkraftverhältnisse ergeben sich die Verhältnisse, die in der zweiten Abbildung dargestellt sind.

Wenn man das macht, dann zeigt sich, dass Deutschland mit seinem neuen gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro auf den dritten Platz im europäischen Vergleich vorrückt – nur in Luxemburg und in Frankreich ist der so umgerechnete Wert höher.

Und ein weiterer Aspekt ist hier z berücksichtigen: Seit dem 1. Januar 2015 gibt es einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro auf Basis des Mindestlohngesetzes (MiLoG), allerdings Ausnahmen vom Mindestlohn für einzelne Personen- und Beschäftigtengruppen (Jugendliche unter 18 Jahren, Praktikanten, Langzeitarbeitslose, Zeitungszusteller) – und über den wurde hier bislang gesprochen. Darüber hinaus gibt es aber auch noch allgemeinverbindliche Branchenmindestlöhne auf Basis des Tarifvertragsgesetzes (TVG), des Arbeitnehmerentsendegesetz (AEntG) und des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes (AÜG). Nur noch für eine Übergangszeit von mittlerweile weniger als zwei Jahren, bis Ende 2016, dürfen Branchenmindestlöhne unter dem allgemeinen Mindestlohn von 8,50 Euro liegen. In sechs Branchen liegen die Mindestlöhne derzeit noch unterhalb von 8,50 Euro. Aber es gibt auch zahlreiche Branchenmindestlöhne, die über den 8,50 Euro liegen – und das müsste korrekterweise auch berücksichtigt werden. Und hier geht es nicht um irgendwelche abseitigen Gruppen der Gesellschaft:

»Aktuell bestehen für 18 Wirtschaftszweige branchenspezifische Mindestlöhne. Insgesamt arbeiten in diesen Branchen rund 4,6 Millionen Beschäftigte. Diese Mindestlöhne bewegen sich je Branche und regionalem Tarifgebiet zwischen 7,20 und 14,20 Euro.« (2015 – Das Jahr des Mindestlohns: Alle Daten auf einen Blick)

Das relativiert auf der einen Seite die Aussage, dass der deutsche Mindestlohn eher im Mittelfeld oder gar im unteren Mittelfeld liegt, auf der anderen Seite bleibt dieser Befund davon unberührt, was im neuen Mindestlohnbericht (Thorsten Schulten: WSI-Mindestlohnbericht 2015 – Ende der Lohnzurückhaltung?, in: WSI-Mitteilungen, Heft 2/2014, S. 133-140) so formuliert wird: »Hätte Deutschland bereits im Jahr 2013 einen Mindestlohn von 8,50 € pro Stunde eingeführt, so hätte dieser bei 50 % des Medianlohns für Vollzeitbeschäftigte gelegen« (S. 135). In einer Fußnote erläutert er den Rechenweg: »Die Beschäftigungsstatistik der Bundesagentur für Arbeit weist für das Jahr 2013 für Vollzeitbeschäftigte einen Medianlohn von 2.960 € pro Monat aus … Bei einer 40-Stunden-Woche entspricht dies einem Median-Stundenlohn von 17,11 €. Ein Mindestlohn von 8,50 € pro Stunde läge demnach bei 49,7 % des Medianlohns.«

Das relative Niveau des Mindestlohns ist in den meisten Ländern nicht besonders hoch und auch in Deutschland liegt es deutlich unterhalb der offiziellen Niedriglohnschwelle, die nach internationalen Konventionen bei zwei Dritteln des Medianlohns angesetzt wird. »In vielen Ländern reicht das Mindestlohnniveau demnach nicht aus, um die wachsende Anzahl von „arbeitenden Armen“ (wor- king poor) zu begrenzen«, so Schulten (S. 136).

In diesem Kontext interessant ist dann auch der Hinweis von Schulten, dass die Diskussionen über eine koordinierte Europäische Mindestlohnpolitik wieder an Intensität gewonnen haben. Dabei gehe es im Wesentlichen darum, sich auf europäischer Ebene auf einen gemeinsamen Mindestlohnstandard zu verständigen. Vorgeschlagen werde beispielsweise, dass der Mindestlohn in allen EU-Staaten 55 oder 60 Prozent des jeweiligen nationalen Medianlohns nicht unterschreiten dürfe.

Aus dieser Perspektive wäre der derzeitige gesetzliche Mindestlohn also eindeutig zu niedrig. Und zuweilen würde es auch ausreichen, mit Betroffenen zu sprechen, wie sie mit so einem Mindestlohn über die Runden kommen (können). Damit kann man nicht nur keine großen Sprünge machen, auch normale Schritte fallen da schon schwer. Und wir reden erst gar nicht über die Tatsache, dass auch ein Mindestlohn von (derzeit) 8,50 Euro bei 45 (!) Beitragsjahren nicht zu einer Rente aus der Gesetzlichen Rentenversicherung führen wird, die oberhalb des Grundsicherungsniveaus für Ältere liegen wird (vgl. hierzu auch meinen Blog-Beitrag 8,17 Euro, 10,98 Euro bzw. eigentlich 11,94 Euro pro Stunde. Und 2028 dann 17,84 Euro. Es geht um den existenzsichernden Mindestlohn vom 17.02.2015). Und natürlich setzt das alles voraus, dass der Mindestlohn überhaupt in der genannten Höhe zur Auszahlung kommt. Keine Frage. Aber dennoch muss man eben auch sagen, dass wir uns mit den 8,50 Euro keineswegs im Keller- oder Erdgeschoss befinden, sondern eher weit oben – was wiederum den Betroffenen, die über die Runden kommen müssen, kaum Trost spenden wird.

Tiefen und Untiefen des Mindestlohns. Komplizierte Fragen, wenig Zeit und deshalb der Verweis auf das, was schon geschrieben wurde

Natürlich ist es immer schwierig, in einer Talksendung komplizierte Sachverhalte ausreichend genau darzustellen oder gar erschöpfend zu behandeln – und auch wenn man das eine oder andere sagen kann, bleiben angesichts der (partei)politischen Aufladung des Themas Mindestlohn zahlreiche offene Fragen. Da ich heute zu Gast bin in der Talksendung von Günther Jauch (ARD, 21:45 Uhr) und mir sicher bin, dass die Zeit nicht ansatzweise ausreichen wird, um wichtige Punkte anzusprechen, habe ich nur die aktuellsten Beiträge zum Thema Mindestlohn, die ich hier in meinem Blog „Aktuelle Sozialpolitik“ veröffentlicht habe, chronologisch sortiert und verlinkt, so dass jeder ein Blick werfen kann auf die ganz unterschiedlichen Aspekte und auch auf meine Einschätzungen und Bewertungen zu diesem mehr als kontroversen Thema. Und angesichts der aktuellen Debatte werden hier weitere Beiträge sicher kommen (müssen). Man greife aus den aktuellen Berichten nur einige wenige heraus: Mindestlohn sorgt bei der Klinikgesellschaft in Heiligenstadt für Ärger – es geht um die Sonn- und Feiertagszuschläge, die nicht auf den Mindestlohn im Hotelbereich angerechnet werden darf. »Daraus folgt bei der Klinikgesellschaft … die Streichung der Sonn- und Feiertagszuschläge – ergo: Um Mindestlohn zahlen zu können, wird auf der anderen Seite gestrichen.« Die DGB-Hotline zum Mindestlohn hat eine Menge zu tun mit vielen Anrufern, die von zahlreichen Umgehungsversuchen berichten. Und selbst das angeblich zum deutschen Kulturgut zählende Oktoberfest in München wird – ebenfalls angeblich – vom Mindestlohngesetz bedroht: Mindestlohn: Schießen die Wiesn-Preise in die Höhe?, so muss man lesen, wobei der eine oder andere sich dunkel erinnern wird, dass der Bierpreis bislang immer verlässlich gestiegen ist, auch in den Prä-Mindestlohngesetz-Zeiten.

Hier nun die Liste mit den aktuellsten Beiträgen zum Themenfeld Mindestlohn in diesem Blog, nur aus diesem nicht jungen Jahr:

Was für ein (scheinbares) Durcheinander: Immer weniger Arbeitslose und viele offene Stellen, gleichzeitig profitieren immer weniger Arbeitslose vom „Jobwunder“ und der Mindestlohn hält auch nicht das, was einige von ihm erwartet haben, 26.02.2015

8,17 Euro, 10,98 Euro bzw. eigentlich 11,94 Euro pro Stunde. Und 2028 dann 17,84 Euro. Es geht um den existenzsichernden Mindestlohn, 17.02.2015

Beim Mindestlohn-Bashing darf die Schattenwirtschaft nicht fehlen. Und wenn sie passend gemacht werden muss, 03.02.2015

Gesetzlicher Mindestlohn: Von krampfhaft konstruierten Beispielen zu seinen angeblich schlimmen Folgen über parteipolitische Aufforderungen, der Staat möge sich selbst stilllegen bis hin zu den echten Baustellen, über die kaum einer spricht, 01.02.2015

Noch auf der Entbindungsstation wird am Mindestlohn gezerrt und gerüttelt. Und manche Forderungen nach „Entbürokratisierung“ erweisen sich als Scheunentor für „Mindestlohn light“-Strategen, 28.01.2015

„Die“ Praktika, ihre berechtigte (Nicht-)Ausnahme vom Mindestlohn, zusammenbrechende Geschäftsmodelle mit Langzeitpraktikanten und ein Blick auf den Bundestag und die dort vertretenen Parteien darf auch nicht fehlen, 18.01.2015

Ein Sub-Mindestlohn für Zeitungszusteller reicht einigen offensichtlich nicht. „Kreative“ Umgehungsversuche auf der Unternehmensseite, 15.01.2015

Der gesetzliche Mindestlohn. Kaum ist er da, wird seine Umsetzung ins Visier genommen und die Gewerkschaften sollen gar alle Tarifrunden absagen. Arbeitnehmer hingegen dürfen schwitzen, 11.01.2015

Im Jahr 2014 gab es ebenfalls zahlreiche Beiträge zum Thema Mindestlohn in diesem Blog (siehe Archiv der Beiträge).

Integration wollen alle. Und Integrationskurse für Migrantinnen werden gekürzt. Das passt nicht. Das gilt auch für die Existenz der pädagogischen Tagelöhner

Jenseits der großen, zumeist sehr grobschlächtigen Debatten über das Für und Wider von Zuwanderung und den – angeblich – erheblichen Integrationsproblemen eines Teils der Menschen, die nach Deutschland gekommen sind, liegen die Mühen der Ebene. Und eine wichtige Rolle spielen die Integrationskurse, die von ganz unterschiedlichen Trägern angeboten werden (vgl. zu den unterschiedlichen Integrationskursen die statistische Informationen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge).  Ein ganz besonderes Angebot in diesem Bereich sind niedrigschwellige Integrationskurse für Frauen. Mit diesen Kursen will man Einwanderinnen ansprechen, die durch konventionelle Integrationsangebote oft nicht erreicht werden. Die Bundesregierung selbst ist begeistert von diesem Angebot und erläutert die Zielsetzung so: »Insbesondere sollen bildungsferne Frauen aus ihrer Isolation geholt und zur Inanspruchnahme weiterführender allgemeiner Integrationsangebote ermutigt und unterstützt werden. Die Kurse vermitteln dabei Kenntnisse über die deutsche Gesellschaft, über das Bildungssystem und dienen der Stärkung der Erziehungskompetenz, der Rechte der Frauen sowie der Gewaltprävention«, so die Ausführungen in der Antwort auf die Kleine Anfrage „Bundesförderung für sogenannte niedrigschwellige Integrationskurse für Frauen“ der Grünen im Deutschen Bundestag (BT-Drs. 18/4056 vom 20.02.2015). In Zeiten, in denen Deutschland als zweitgrößtes Einwanderungsland nach den USA gilt, da mehr als 200.000, dieses Jahr möglicherweise bis zu 300.000 Asylbewerber  kommen – und Zehntausende als Ehepartner aus dem Ausland -, machen solche Angebote Sinn. Aber die Realität sieht mal wieder anders aus – wie Roland Preuß in seinem Artikel Lernen schwer gemacht mitteilen muss. Zum Einstieg nur einige wenige frustrierende Fakten: »Die Bundesregierung hat Mittel für Integrationskurse für Migrantinnen deutlich gekürzt. Konnten 2012 noch fast 2100 solcher Kurse angeboten werden, so waren es im vergangenen Jahr nur noch 975.«

An diese Entwicklung sollte man sich erinnern, wenn mal wieder die mangelhaften Deutschkenntnisse oder die Abschottung bestimmter Personengruppen in der öffentlichen Debatte kritisiert und vorwurfsvoll herausgestellt wird. Gerade die von den Kürzungen betroffenen niedrigschwelligen Angebote haben Frauen erreichen können, die ansonsten schlichtweg nirgendwo auftauchen (können).

Und damit nicht genug. Das Fallbeil der Kürzungen wütet auch an anderen Stellen:

»Bei den frühen Angeboten für Migranten läuft es ähnlich: Die sogenannte Migrationsberatung soll Einwanderern frühzeitig den Weg zu einer Integration in Deutschland weisen, es werden Vereinbarungen geschlossen, die Aufgaben und Ziele festhalten, denn der Weg durch die deutsche Bürokratie ist für Migranten mitunter mehr als unübersichtlich. Im Koalitionsvertrag hatte man noch vereinbart, dass alle Neuzuwanderer eine solche „Erstberatung“ erhalten sollen – doch auch hier fehlt offenbar das Geld.

Die Zahl der Beraterstellen ist in den vergangenen fünf Jahren sogar geschrumpft, auf weniger als 500, obwohl die Bundesrepublik mittlerweile die größte Zuwandererzahl seit 20 Jahren zu bewältigen hat. Rein rechnerisch hat jeder Berater mittlerweile 300 Fälle im Jahr zu betreuen, vorgesehen waren einmal 60. In den Anlaufstellen werde „deutlich mehr Beratungsarbeit geleistet“, räumt auch das Innenministerium ein. „Qualitätsverluste können nicht ausgeschlossen werden.“«

„Die Zahl der Beratungsfälle stieg um 60 Prozent, doch die Bundesregierung streicht die zur Durchführung notwendigen Personalstellen“, so wird Volker Beck von den Grünen in dem Artikel zitiert.

Und wenn wir schon dabei sind, sei an dieser Stelle auf ein weiteres, den gesamten Bereich der Integrationskurse betreffendes Strukturproblem aufgerufen. Es geht um die Arbeitsbedingungen der Lehrkräfte in diesem gesellschaftspolitisch so wichtigen und pädagogisch so herausfordernden Bereich. Darüber informiert die Initiative Bildung Prekär, die sich sehr kritisch mit den Arbeitsbedingungen auseinandersetzt. Wie steht es um diejenigen, auf deren Schultern die Aufgabe der so wichtigen und vor allen geforderten Sprachvermittlung ruht, also die Deutschlehrer in den Integrationskursen? Dazu beispielhaft der Beitrag Integrationskurslehrer: Jahrelang ohne Arbeitsvertrag! von Aglaja Beyes, einer freiberufliche Journalistin, Autorin und Kursleiterin von Integrationskursen in Wiesbaden. Sie beschreibt die Situation der Lehrkräfte so:

»Diese Lehrer sind nach ihrem arbeitsrechtlichen Status gar keine Lehrer. Sie sind fast ausschließlich Kursleiter ohne Festanstellung. Ob bei Volkshochschulen, der Caritas oder dem Goethe-Institut: Einen regulären Arbeitsvertrag hat fast niemand, nicht einmal einen befristeten. Stattdessen gibt es Honorarverträge über jeweils einige hundert Unterrichtsstunden, was wenigen Monaten entspricht. Ein Honorarvertrag folgt dem anderen, als “Kettenverträge” über Jahre, manchmal über ein Jahrzehnt und mehr. Das BAMF … überweist pro Teilnehmer und Unterrichtsstunde 2,94 Euro an die jeweiligen Träger, zum Beispiel die Volkshochschulen … Ob die Lehrkräfte von dem bewilligten Geld angestellt werden oder jahrelang Kettenverträge als Scheinselbständige bekommen, interessiert weder das Bundesamt noch das Innenministerium … am Jahresende (gibt es) für das Finanzamt eine Bescheinigung über “nebenberufliche Tätigkeit” – obwohl Vollzeitarbeit.«

Aglaja Beyes spricht in ihrem Beitrag von Scheinselbständigkeit – und das ganze Arrangement hat sehr negative Folgen: »Deutschlehrer ohne Arbeitsvertrag, geschweige denn Tarifvertrag, haben keinen Anspruch auf Geld im Krankheitsfall. Sie schleppen sich krank zur Arbeit … Junge Mütter und Väter haben keinen Anspruch auf Erziehungsgeld. Und auf alle wartet Altersarmut. Von ihren mageren Honoraren hätten sie den Arbeitgeber- und den Arbeitnehmeranteil für die Rentenversicherung abführen müssen. Dazu ist nicht jeder in der Lage … Und wie steht es mit der Mitbestimmung? Ebenfalls Fehlanzeige. Betriebsräte sind für Menschen ohne Arbeitspapiere nicht zuständig. Schutzbestimmungen am Arbeitsplatz greifen ebenfalls nicht. Die Folge: Viele Kollegen unterrichten an bestimmten Wochentagen regelmäßig bis zu vierzehn Unterrichtsstunden in drei Schichten …  Eine Arbeitslosenversicherung gibt es nicht, Kündigungsschutz genauso wenig.«
Sie zitiert eine Kollegin in ihrem Artikel mit der zusammenfassenden Bilanzierung: „Wir sind Tagelöhner, wir müssen nehmen, was kommt“.

Und der Artikel endet mit einer Erfahrung, die man leider oft machen muss im Getriebe der Politik:
»Im September 2012 stellte die SPD-Fraktion im Bundestag als Opposition einen Antrag zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Lehrkräften in Integrationskursen. Darin wird die schwarz-gelbe Bundesregierung aufgefordert, ein Konzept vorzulegen, “wie die Quote festangestellter Lehrer erhöht werden kann.” Seit über einem Jahr ist die SPD inzwischen selbst Teil der Regierung. Auf das Konzept warten wir immer noch – gespannt.«

Dass sich hinsichtlich der Integrationskurse ein gewaltiger Bedarf aufgestaut hat, verdeutlicht dann auch so eine Meldung: Arbeitsagentur fordert Sprachförderung von Flüchtlingen: »Die Arbeitsagentur fordert Investitionen im dreistelligen Millionenbereich für die Sprachförderung für Asylsuchende und Flüchtlinge. Sonst drohten viel höhere Folgekosten.« Die Bundesagentur verweist auf eine weitere Schwachstelle im bestehenden System: »Aktuell gibt es erhebliche Förderungslücken bei der Deutschförderung von Asylbewerbern und Geduldeten. Sie haben keinen Zugang zu Integrationskursen, in denen vor allem allgemeinsprachliche Grundlagen vermittelt werden. Diese ersten elementare Deutschkenntnisse sind aber Voraussetzung für die Teilnahme an berufsbezogenen Sprachkursen.« Was man tun sollte, sagt die BA auch: »Um diese Hürden für alle Asylsuchenden abzubauen, müsste aus Steuermitteln jährlich ein dreistelliger Millionenbetrag zusätzlich für allgemeine und berufsbezogene Sprachförderung aufgewendet werden. Laut Bundesagentur für Arbeit sind das notwendige und sinnvolle Grundinvestitionen. Denn wenn die Integration in den Arbeitsmarkt und die Gesellschaft nicht gelinge, drohe ein Vielfaches an Folgekosten.«

Ach ja: Zum Auftakt der Bildungsmesse Didacta am Dienstag in Hannover hatte sich Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU) für eine bessere Integration von Zuwanderern in das deutsche Bildungssystem ausgesprochen. Womit wir wieder am Anfang dieses Beitrags angekommen wären.