Entweder-oder. Alles-oder-nichts. 100 Prozent ja oder 100 Prozent nein. Das ist der Algorithmus, wenn es um die Arbeitsunfähigkeit in Deutschland geht. Und damit um ein Thema, das auf der einen Seite höchst elementar für die Arbeitnehmer ist, denn die meisten waren schon mal krank geschrieben – sei es wegen einer Grippe oder wegen komplizierter Erkrankungen. Und dann will man nicht wegen der Erkrankung ins materiell Bodenlose fallen müssen, sondern selbstverständlich braucht man eine Absicherung für das eigene und bei den meisten Arbeitnehmern auch das einzige Vermögen – die Einnahmen aus dem Verkauf der Arbeitskraft. Deshalb hat man in der Vergangenheit, also der Sozialstaat auf- und ausgebaut wurde, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall durchgesetzt. Der Regelfall heute: 6 Wochen lang muss der Arbeitgeber die Bezüge weiterzahlen. Sollte dann die Arbeitsunfähigkeit weiter anhalten, dann rutschen die Betroffenen in den Krankengeldbezug (70 Prozent des letzten Bruttogehalts und damit schon deutlich weniger als vorher bei der Lohnfortzahlung). Die Krankenkassen wiederum müssen diese Leistung finanzieren aus ihren Beitragseinnahmen. Aber es gibt – das soll hier nicht verschwiegen werden – noch eine andere Dimension der Krankschreiben, die immer mehr oder weniger explizit mitschwingt, zuweilen auch mal die Oberhand zu gewinnen scheint: Gemeint ist der Vorwurf bis hin zur Tatsache, dass es Zeitgenossen gibt, die sich einen „blauen Montag“ machen oder auch zwei. Also Arbeitsunfähigkeit vortäuschen, um nicht arbeiten zu müssen. Sicher und bei weitem nicht die Mehrheit, aber es gibt auch diese Exemplare.
Aber hier geht es nicht um die Frage echter oder falscher Arbeitsunfähigkeit, auch nicht um die Lohnfortzahlung des Arbeitgebers in den ersten Wochen der Erkrankung. Es geht – wieder einmal – um Ausgaben und ihre Entwicklung und deren Funktion als Impulsgeber für die Suche nach Handlungs-, also Veränderungsoptionen. Nicht unbedingt, man kennt das zur Genüge in der Sozialpolitik unserer Zeit, um die Dinge für die Menschen besser zu machen, sondern primär um die Ausgaben und deren Entwicklung „in den Griff zu bekommen“.
Und schaut man sich die Aufgabenentwicklung der Krankenkassen für das Krankengeld in den Jahren 2006 bis 2014 an, dann scheint der Eindruck nicht zu trügen, das hier „was aus dem Ruder läuft“: Von 5,7 Mrd. Euro im Jahr 2006 sind die Ausgaben bis auf 10,6 Mrd. Euro im vergangenen Jahr angewachsen. Hinzu kommt: Der durchschnittliche Anstieg der Ausgaben für das Krankengeld von rund 8,1 Prozent in den Jahren von 2006 bis 2014 überstieg den der Gesamtausgaben, die sich im Schnitt lediglich um 4,3 Prozent erhöhten, erheblich.
Das war dann auch der Auslöser für die Bundesregierung, den Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen zu beauftragen, ein Sondergutachten zum Thema Krankengeld zu erstellen. Und genau das haben die Experten jetzt vorgelegt. Man kann es im Original hier abrufen:
➔ Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen: Krankengeld – Entwicklung, Ursachen und Steuerungsmöglichkeiten. Sondergutachten 2015. Bonn/Berlin 2015
Nun sollte einem vor dem Hintergrund des Auftrages schon nachdenklich stimmen, was die Experten in ihren Schlussbemerkungen (S. 247) bilanzieren:
»Entsprechend dem Auftrag des Bundesministers für Gesundheit analysiert dieses Gutachten die Ursachen, die seit dem Jahre 2006 im Vergleich zu den übrigen Leistungsausgaben einen überproportionalen Anstieg der Aufwendungen der GKV für Krankengeld verursachten. Dabei konnten im Beobachtungszeitraum von 2006 bis 2014 die Zunahme der krankengeldberechtigten Versicherten, das Wachstum der entgeltabhängigen individuellen Zahlbeträge bzw. des Entgeltausgleichs sowie die im Zeitablauf erfolgte Veränderung von Alter und Geschlecht zusammen etwa die Hälfte der durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate der Ausgaben für Krankengeld erklären.«
Man kann es auch anders ausdrücken, wie es beispielsweise Andreas Mihm in seinem Beitrag Braucht Deutschland den Teilzeit-Kranken? für die FAZ auf den Punkt gebracht hat:
»Der Sachverständigenrat für Gesundheitsfragen kommt … zu einem beruhigenden Ergebnis: Die Lage ist weniger kritisch, als der Ausgabenanstieg vermutend lässt. Ein wesentlicher Teil der Steigerung sei ausgelöst vom Anstieg des Bruttolohns, von dem das Krankengeld 70 Prozent beträgt. Auch seien wegen der wachsenden Beschäftigung immer mehr (kranke) Versicherte im System. Die seien im Durchschnitt älter, damit anfälliger und sie blieben auch länger krank.«
Für alle, die das in Zahlen brauchen, sei der Blick auf die Abbildung empfohlen, die zum einen aus der Aufgabenentwicklung beim Krankengeld seit 1997 besteht (die zugleich verdeutlichen kann, dass vor 2006 die Krankengeldausgaben schon mal deutlich höher waren, der kritisch beäugte Anstieg also durch das Abschneiden der Jahre vor 2006 dramatischer daherkommt als er ist), zum anderen aus einer Tabelle zu den Krankengeldfällen, die eben zeigen kann, dass da nichts explodiert ist, auch nicht relativ gesehen.
Dennoch machen die Experten Vorschläge, wie man an dem System herumdoktern kann und erfinden nun nichts Neues, sondern lassen sich „“inspirieren“ von Vorbildern aus anderen Ländern, namentlich von den Schweden:
»An erster Stelle der 13 Vorschläge steht die Teilkrankschreibung nach schwedischem Modell. Statt der in Deutschland geltenden „Alles-oder-nichts-Regelung“ könnte ein Arbeitnehmer je nach Schwere der Erkrankung und in Abstimmung mit seinem Arzt zu 100, 75, 50 oder 25 Prozent krankgeschrieben werden«, so Andreas Mihm in seinem Artikel.
Nun könnte der eine oder andere kritische Geist sofort argwöhnen, hier solle etwas zu Lasten der schwächsten Glieder in der Kette, als den Arbeitnehmern, verändert werden. Dem scheint nicht so zu sein, wenn man die Argumentation von Andreas Mihm bzw. das Beispiel von den Folgen einer „nur“ 50 Prozent-Arbeitsunfähigkeit als Bewertungsmaßstab heranzieht:
»Würde ein Arbeitnehmer zu 50 Prozent krankgeschrieben, so erhielte er die Hälfte des Lohnes und die Hälfte des im zustehenden Anteils an Lohnfortzahlung. Bleibt er länger als sechs Wochen krank, springt dann die Krankenkasse ein, allerdings nur mit der Hälfte des Krankengelds – denn der Beschäftigte ist ja zu 50 Prozent arbeitsfähig und verdient Geld. Unter dem Strich hätte er mehr Geld als beim heutigen Modell mit völliger Krankschreibung.«
Er hätte zwar durchaus in diesem Beispielfall mehr Geld als im heutigen Regelungskosmos, aber auch – das hat der Autor sicher zufällig übersehen – auch 50 Prozent Arbeit, die er heute nicht hat bzw. hätte.
Wie beim Kleingedruckten der Versicherungen mit vielen (potenziell) bösen Überraschungen muss man auch hier genauer hinschauen, um zu erkennen, dass sich die Arbeitnehmer in der Gesamtbetrachtung oftmals schlechter stellen würden, bekämen wir einen solchen Systemwechsel: Anno Fricke gibt uns in seinem Bericht 25 prozentige Arbeitsunfähigkeit soll möglich sein! über das Sondergutachten den folgenden unscheinbar daherkommenden Hinweis:
»Die Zahlung eines Teilkrankengelds solle bereits während der ersten sechs Wochen der Krankheit, also während der Phase der Entgeltfortzahlung, möglich sein.«
Nun beläuft sich die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall in der Regel auf 100 Prozent des Bruttoentgelts, was aber beim Krankengeld und damit auch beim Teilkrankengeld in den ersten sechs Wochen, nicht der Fall war und auch nicht sein wird. Eine Verbesserung für den Arbeitnehmer sieht völlig anders aus, es läuft real auf Leistungskürzungen hinaus.
Und dass das sicher kein einzelner Zufall ist, kann man auch diesem Punkt entnehmen, der in dem Artikel von Andreas Mihm aufgeführt wird:
»Weitere Fehlanreize könnten vermieden werden, wenn alle Bezieher von Arbeitslosengeld auch Krankengeld in gleicher Höhe erhielten. Heute sei es so, dass etwa befristet Beschäftigte, die gegen Ende ihrer Beschäftigung krank würden, das höhere Krankengeld bezögen, auch wenn sie inzwischen arbeitslos seien. So würden Bezieher von Krankengeld, die kurz vor dem Ende ihrer Befristung erkrankten gegenüber jenen Krankengeldempfängern besser gestellt, die erst kurz nach Ende der Befristung krank würden.«
Und ein weiteres von Mihm genanntes Beispiel für die angesprochene Unwucht ist die Tatsache, dass man versucht, den Krankenkassen mehr Möglichkeiten zur Steuerung zu geben:
»Wie bei der Erwerbsminderungsrente sollten sie Krankengeldempfänger zur Beantragung der Altersrente drängen können, „wenn die Voraussetzungen erfüllt sind“. Weigert sich der Versicherte, könnte die Kasse das Krankengeld sogar streichen.«
Ganz unabhängig von diesen großen Fragezeichen aus Arbeitnehmersicht muss natürlich auch gesehen werden, dass wir keine wirkliche Tradition einer anteiligen Krankschreibung in unserem Land haben, das wäre für die Betroffenen wie auch für die Ärzte eine völlig neue Situation.