Ein Klick als Streik im Kleinformat in der Welt der Wolke? Noch sehr unscharfe Bausteine eines digitalen Klassenkampfes der Unsichtbaren

Anschwellende Untergangsszenerien – so lassen sich viele Veröffentlichungen die Arbeitswelt der Zukunft betreffend derzeit charakterisieren. Ob nun die „Roboterisierungsdebatte“, die Auswirkungen von „Industrie 4.0“ oder auch die Beschreibung der „Crowd- oder Clickworker“ – meistens dominiert, ob bewusst oder unbewusst, die Perspektive auf Beschäftigte als Opfer einer Entwicklung, die unweigerlich, als sei sie aus sich selbst naturgesetzlichen Bewegungsimpulsen folgend und nicht von Menschen gemacht, zu einer Verflüchtigung von Arbeit und einer Auflösung der bekannten Arbeitsstrukturen führen müsse. Eine Entwicklung, bei der  das einzelnen Individuum immer stärker auf sich selbst verwiesen und in vielen Fällen auch sich selbst überlassen wird.

Und in der vor unseren Augen entstehenden „neuen“ Arbeitswelt scheint man mit einer Wiederkehr ganz alter Formen des Arbeitens konfrontiert zu werden, einer Renaissance des Tagelöhnertums beispielsweise, denn die „schöne neue Welt“ der Internet-Ökonomie hat nicht nur Platz für hippe Kreativlinge und Wissensarbeiter in durchaus attraktiv daherkommenden Beschäftigungsoasen wie Google & Co., sondern sie braucht auch ganz viele, die mit der „digitalen Drecksarbeit“ betraut werden müssen, so wie im real life heute auch unzählige Menschen in den unteren Etagen des Arbeitsmarktes ihre Dienste leisten müssen. Hinter den Kulissen der Internetgiganten machen viele Menschen digitale Drecksarbeit zum Hungerlohn. Ist das der „Arbeitsstrich des 21. Jahrhunderts“?, so die Fragestellung von Thomas Kutschbach, über die in dem Beitrag Digitale Drecksarbeit hinter unserem Rücken am 14.05.2015 berichtet wurde. Und wenn man dem Mainstream der Berichterstattung Glauben schenken würde, dann folgt daraus eine pessimistisch-resignierende Haltung dergestalt, dass man diesen „Kräften“, die da auf den „modernen“ Arbeitsmärkten wirken, nur wenig bis gar nichts wird entgegensetzen können. Dass man sich fügen muss in das Schicksalhafte dieser zahlreichen und undurchschaubaren Prozesse. Dass kollektive Gegenwehr unmöglich sein wird in diesen die Individualisierung im Sinne einer radikalen Vereinzelung metastasierenden Arbeitswelten.

Aber ist das wirklich so? Gibt es denn keine Anzeichen, dass sich auch in dem Bereich und damit unter extrem schwierigen Rahmenbedingungen eine eigene Art und Weise der Kollektivierung und des Widerstands gegen die scheinbar uneinnehmbare Macht der Auftraggeber und „Arbeitgeber“ entwicklen könnte?

Diese Frage mag für den einen oder anderen völlig aus der ferneren Zukunft gegriffen daherkommen, wo wir doch gerade hier in Deutschland konfrontiert sind mit Arbeitskämpfen, die einer längst vergangenen Welt zu entstammen scheinen. Die Lokführer, die sich scheinbar nur um sich selbst und ihre aus der Vergangenheit stammenden „Privilegien“ kümmernd, ein ganzes Land mit einer veritablen Mobilitätsbremse zumindest erheblich zu „entschleunigen“ vermögen, die Fachkräfte aus den Sozial- und Erziehungsdiensten, die erstmals kommunale Kindertageseinrichtungen in einem unbefristeten Streik lahmlegen, Mitarbeiter der Deutschen Post DHL, die sich wehren gegen eine Rutschbahn nach unten über Billigtöchter, in die sie sukzessive ausgelagert werden sollen oder die Amazon-Beschäftigten, die sich seit Jahren Mühen, ihren Arbeitgeber zu einem Tarifvertrag zu bewegen.

Aber dennoch lohnt die Blick durch das noch sehr enge Schlüsselloch auf die „neue Arbeitswelt“, denn die Probleme hinsichtlich der Organisierung der Beschäftigten bis hin zu der Frage, wie man dort so etwas wie „Arbeitskämpfe“ überhaupt auf die Beine stellen könnte, haben durchaus ihre Entsprechung in den aktuellen Streikaktionen, die alle im Dienstleistungsbereich, vor allem bei personenbezogenen Dienstleistungen, stattfinden. Und wo so etwas wie Streik wesentlich schwieriger zu organisieren und zu realisieren ist als in der alten Welt der Industrie.
Und mit dem Blick in die ersten Ausläufer der Zukunft hat sich Jonas Rest in seinem Artikel Der digitale Klassenkampf der Unsichtbaren beschäftigt.

„Ich bin ein Mensch, kein Algorithmus. Wir sind atmende Lebewesen, die ihre Familien ernähren.“ Das sind Worte von Kristy Milland aus Toronto aus einer E-Mail an Amazon-Chef Jeff Bezos. Aber warum hat sie diese Feststellung gerade an Bezos geschickt?

»Milland, 36 Jahre alt, wird von Amazon … als Computerprogramm vermarktet. Als „künstliche künstliche Intelligenz“. So nennt Amazon die Dienstleistung, die mehr als 500 000 Arbeiter wie Milland auf der Plattform Amazon Mechanical Turk erbringen. Turker nennen sie sich selbst. Sie erledigen dort Mikro-Aufträge, für die es zu aufwendig wäre, ein Programm zu programmieren.«

Und Kristy Milland ist gleichsam ein „Urgestein“ dessen, was als neue Arbeitswelt diskutiert wird:

»Die Kanadierin war eine der ersten, die auf Amazons Plattform arbeitete. Sie begann im November 2005, zunächst in Teilzeit. Als ihr Mann 2010 seinen Job verlor, begann sie Vollzeit zu arbeiten, bis zu 17 Stunden am Tag. Inzwischen hat Milland 834 186 Aufträge auf der Plattform erledigt. Für einen hat sie im Durchschnitt 19 Cent bekommen.«

Sie ist eine reale Person, ein Mensch – und wird dennoch auf Amazon Mechanical Turk als Computerprogramm gehandelt, nicht als konkreter Mensch. Warum? Sie selbst schätzt das so ein: „Wenn die Auftraggeber das Gefühl haben, es mit einem Computerprogramm zu tun zu haben, müssen sie sich keine Gedanken darüber machen, ob ein Mensch davon leben kann, wenn er für zwei Cent eine Aufgabe erfüllt. Es macht die Ausbeutung leichter.“ Aber sie will sich nicht länger fügen. Sie hat begonnen, die Turker zu organisieren und sie spricht reichlich euphemistisch bereits von einer „digitalen Arbeiterbewegung“. Zu einer Arbeiterbewegung gehört immer auch die Option (und hin und wieder auch die Praxis) des Arbeitskampfes gegen den Arbeitgeber. Aber sie ist realistisch: „Ein Streik ist schwierig, wenn man niemals sehen kann, ob die anderen Turker auch streiken – und die Personen aus über hundert verschiedenen Ländern kommen“. Hinzu kommt: Crowdworker haben keinen Arbeitsvertrag. Für sie gelten die Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Internet-Plattformen. Doch in den AGB „werden Auftraggeber und Plattformen einseitig geschützt, Crowdworker sind fast rechtlos“, urteilt Thomas Klebe, Leiter des gewerkschaftsnahen Hugo-Sinzheimer-Instituts für Arbeitsrecht.

Die Turker haben dennoch Wege gefunden, sich abzusprechen. Sie treffen sich in Online-Foren. Beispielsweise auf Turker Nation. Und da erfährt man dann, dass es ein Werkzeug für die Beschäftigten gibt: »Turkopticon ist eine Erweiterung für den Browser, mit der Auftraggeber bewertet und so dubiose Angebote gemieden werden können. So überziehen die Turker Amazons Plattform mit ihrem eigenen Netz.« Worin liegt die Bedeutung dieses kleine Programms? Dazu Jonas Rest in seinem Artikel:

Es ist ein kleines Werkzeug des digitalen Klassenkampfes. Wenn ein Auftraggeber sich nicht korrekt verhält, haben die Turker nun ein Mittel, um Druck zu machen. „Wenn Auftraggeber schlechte Bewertungen bei Turkopticon bekommen, merken sie das“, sagt Milland. Die Profi-Turker, die nach Millands Erfahrungen rund 80 Prozent der Arbeit erledigen, meiden den Auftraggeber dann. Die zehn- oder sogar hunderttausende Mini-Aufgaben werden dann nur langsam abgearbeitet – insbesondere solche, für die nur besonders qualifizierte Turker zugelassen sind. „Ein Streik im Kleinformat“, sagt Milland. „Die Auftraggeber korrigieren dann meist ihr Verhalten.“

Seit einem Jahr beginnen die Turker, die eigene Welt der nur auf sich selbst bezogenen Gegen-Bewertung zu verlassen und sie wenden sich direkt an Jeff Bezos als Verantwortlichen bei Amazon:

»Das Ziel der Kampagne: Amazon dazu zu bringen, mit der Qualität der Turker zu werben, anstatt sie zu verstecken, um die Plattform als spottbillige Auftragserledigungsmaschine zu positionieren. „Wir haben begonnen, unser Gesicht zu zeigen“, sagt Milland.«

Und der Artikel endet mit einer „Ironie der Geschichte“, dem Wiederaufleben eines Merkmals der „alten“ Welt des Arbeitskampfes – den Streikposten:

»Besonders eine der ältesten Aktionsformen der Arbeiterbewegung lässt Milland nicht mehr los: Streikposten. Mit ihnen will sie die Amazon-Zentrale lahmlegen. Die Turker müssten dabei auch nicht die Sperrung ihrer Konten fürchten. Milland sagt: „Die Ironie wäre, dass Amazon keine Ahnung hätte, wer wir sind.“ Der Konzern interessiert sich ja nicht für die Identität der Turker.«

Fazit: Gleichsam in einem sehr frühen embryonalen Zustand sehen wir erste Geh-Versuche in einem völlig individualisierten und mehr als heterogenen Feld. Aber wieder einmal zeigt sich: Kollektivierung war und bleibt eines der zentralen Ansatzpunkte gewerkschaftlicher Arbeit. Man darf gespannt sein, ob es gelingen kann und wird, dass sich die Arbeitnehmer zusammenschließen und etwas werden bewegen können. Sicher ist das angesichts der Rahmenbedingungen keineswegs, aber eben auch nicht ein von vornherein zum Scheitern verurteiltes anspruchsvolles Unterfangen.

Die Aufregung über den gesetzlichen Mindestlohn scheint langsam hinter den Kulissen zu verschwinden. Ein besonderer Grund, erneut hinzuschauen

Auf der einen Seite war das ja zu erwarten gewesen – nach der anfänglich nicht nur aufgeregten, sondern stellenweise apokalyptisch daherkommenden Debatte über die bestimmt schlimmen Folgen des gesetzlichen Mindestlohns ist mittlerweile, nach der definitiven Feststellung, dass die meisten noch am Leben und sogar noch weitere dazugekommen sind, eine eigenartige, weil scheinbare Beruhigung eingekehrt. Das liegt nun sicher auch an der Tatsache, dass sich die Medien bereits auf neue Themen gestürzt und den Mindestlohn hinter sich gelassen haben, vor allem, weil es nicht zu den von zahlreichen Kritikern im Vorfeld in Aussicht gestellten dramatischen Arbeitsmarktszenen gekommen ist. Da berichtet man dann lieber über verzweifelte Eltern im Angesicht des Kita-Streiks oder die verwundbare „Amazon“-Gesellschaft, wenn die Paketzusteller der Deutschen Post DHL in den Ausstand treten. Hin und wieder wird das Thema erneut angerissen – so in Artikeln über die derzeitige Spargel-Ernte (die es nach den Vorhersagen einiger Kritiker des Mindestlohns eigentlich betriebswirtschaftlich gesehen gar nicht mehr geben dürfte) bis hin zu teilweise skurrilen Ausführungen wie denen von Dietrich Creutzburg in seinem Artikel Vernichtet der Mindestlohn die Spreewaldgurke?  Liest man den Beitrag genau, dann wird einem an mehreren Stellen klar, dass die Probleme derjenigen, die die Spreewaldgurke anbauen und verarbeiten, vielgestaltig sind und der Mindestlohn sicher nicht das Hauptproblem darstellt. Auch wenn die anfänglich partiell nur als hysterisch zu bezeichnende Debatte über den Mindestlohn hinter die Kulissen zu verschwinden scheint, zeigt ein genaueres Hinschauen einige Baustellen, mit denen man sich beschäftigen muss.

Derzeit können mindestens fünf mehr oder weniger große Baustellen identifiziert werden:

1. Die These vom „Bürokratiemonster“


In Teilen der Wirtschaft (und vor allem auf Seiten der Funktionäre aus den Verbänden) läuft man immer noch Sturm gegen bestimmte Folgen, die aus der Einführung eines stundenbezogenen Mindestlohns resultieren – vor allem die Erfassung und Dokumentation der Arbeitszeit. Verdeutlichen wir diese Argumentation am Beispiel der Landwirtschaft und den dort so wichtigen Saisonarbeitern vor allem aus Osteuropa. Dabei muss angemerkt werden, dass dieser Bereich insofern einen Sonderstatus hat, weil der ansonsten fällige Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde hier (noch) nicht gilt, sondern für eine Übergangszeit ein abgesenkter Stundenlohn von 7,40 Euro, wobei übrigens bestimmte Kosten für Unterbringung und Verpflegung sogar noch verrechnet werden können. Thorsten Winter beschreibt in seinem Artikel Da wird der Landwirt zum Papierwirt die Wahrnehmung eines Teils der Unternehmen:

„Was uns stört, ist die Zettelwirtschaft“, heißt es beim Anbieter Wetterauer Früchtchen in Münzenberg. Bauernpräsident Friedhelm Schneider spricht sogar von einem „Bürokratiemonster“. Denn nun müssten auch Familienbetriebe für alle Erntehelfer, die Kost und Logis als Sachleistung erhielten, Miet- und Bewirtungsverträge abschließen.
Zudem sei die Auszahlung regelmäßig zu quittieren, obwohl Saisonarbeiter aus Sicherheitsgründen ihr Geld lieber zur Abreise hätten. Praxisfern sei die Pflicht, Arbeitszeiten aufzuzeichnen und Familien vorzuschreiben, wie diese helfende Verwandte zu entlohnen hätten. „Es kann doch nicht Ziel sein, uns Landwirte von unserer eigentlichen Tätigkeit, der Nahrungsmittelerzeugung, abzuhalten“, hat Schneider Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) per Brief wissen lassen.
Und die Chefin des Landfrauenverbands, Hildegard Schuster, mahnt: „Der Landwirt ist doch kein Papierwirt.“

Es gibt allerdings auch zahlreiche andere Stimmen, dazu beispielsweise der Artikel Berliner Gastgewerbe hat kaum Grund zur Klage von Nick Kaiser. Hier müsste was zu finden sein, denn nach Angaben es IAB ist Anteil der vom Mindestlohn betroffenen Betriebe deutschlandweit im Gastgewerbe mit rund 30 Prozent besonders groß. »In Berlin bleiben in der Gastronomie und Hotellerie bislang allerdings größere finanzielle Auswirkungen der neuen Lohnuntergrenze von 8,50 Euro pro Stunde aus, wie eine Umfrage der Deutschen Presse-Agentur ergab«, so Kaiser. Er liefert einige Zitate aus Nachfragen bei den Betrieben:

„Für uns hat der eingeführte Mindestlohn und die dazugehörige Dokumentation momentan keine direkte Auswirkung“, sagte Jana Seifert, die Geschäftsführerin der „Arena“ in Treptow, zu der das im Sommer beliebte „Badeschiff“ gehört …
Am „Beach Mitte“, der nach Angaben der Betreiber größten innerstädtischen Strandfläche Europas, gibt es neben zahlreichen Beachvolleyballplätzen auch einen großen Gastronomiebereich. Auch hier seien „keine nennenswerten Änderungen“ durch den Mindestlohn festzustellen, erklärte ein Sprecher.

Anders wieder die Verbandsebene: »Der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga) gehört zu den schärfsten Kritikern des Mindestlohns. Nach Angaben des Hauptgeschäftsführers des Dehoga Berlin, Thomas Lengfelder, sind nicht etwa gestiegene Personalkosten das Problem, sondern die „bürokratischen Begleiterscheinungen“. Vor allem wegen der Verpflichtung, Arbeitszeiten zu dokumentieren, sei der Unmut sehr groß.« Für diese Position findet sich zumindest ein Zeuge aus dem betrieblichen Bereich: „Die Bürokratie ist abartig, völlig über das Ziel hinaus geschossen“, wird Oliver Winter zitiert, Geschäftsführer der Hostel- und Hotelkette A&O, die mit drei Häusern in Berlin vertreten ist. „Wir verwalten uns mit Stundenzetteln jetzt zu Tode.“

Allerdings trennt sich hier wohl die Spreu vom Weizen, denn: In vielen Unternehmen ist es schon zuvor gang und gebe gewesen, Arbeitszeiten aufzuzeichnen. Dazu zählt auch das bereits erwähnte „Circus“, wie Gesellschafter Hierath erklärte: „Der zusätzliche bürokratische Aufwand für uns geht gegen null, da wir bereits vorher ein elektronisches Zeiterfassungssystem genutzt haben.“
Übrigens: Das Bundesarbeitsministerium hat auf die Kritik reagiert und bietet auf seiner Internet-Seite eine zum Download an. Arbeitnehmer können Sie auf Ihr Handy herunterladen und mit einer Start- und stopft-Taste ihrer Arbeitszeiten erfassen. Pausen können durch anhaltende einberechnet werden. Die so erfassten Zeiten werden dem Arbeitgeber automatisch per Mail zugesandt. Kontrollbehörden akzeptieren diese Konten im Mehl-Postfach des Arbeitgebers. Geht es noch einfacher?

Man muss an dieser Stelle darauf hinweisen: Die Dokumentation von Arbeitszeiten war auch vor der Einführung des Mindestlohns zu Beginn dieses Jahres gesetzlich vorgeschrieben. Neu sind jetzt die im Mindestlohngesetz vorgesehenen hohen Geldstrafen von bis zu 30 000 Euro für Verstöße gegen die Dokumentationspflicht – wenn diese denn kontrolliert werden würden. Das hängt aber wie ein Damoklesschwert über den Betrieben, die gegen die mit den Dokumentationspflichten verbundenen Regelungen verstoßen.

Und damit sind wir bei der zweiten, letztendlich viel größeren Baustelle angelangt.

2. Das eigentliche Problem ist das Arbeitszeitgesetz

Bereits am 22.04.2015 wurde im Beitrag (Schein-)Welten des gesetzlichen Mindestlohns nach seiner Geburt anlässlich der Berichterstattung über eine Demonstration von 5.000 Gastwirten gegen das „Bürokratiemonster“ Mindestlohngesetz ausgeführt: Wenn man genauer hinschaut, dass öffnet sich eine ganz andere Sichtweise auf den eigentlichen Gegenstand des Protestes. Denn der ist weniger bis gar nicht das Mindestlohngesetz und die damit verbundene Auflage, mindestens 8,50 Euro pro Stunde zu zahlen, sondern das Arbeitszeitgesetz, wobei die Verstöße gegen dieses Gesetz in der Vergangenheit oftmals und in der Regel kaschiert werden konnten, nunmehr aber durch die Stundendokumentation der beschäftigten Arbeitnehmer offensichtlich werden, wenn es denn mal eine Kontrolle geben sollte. Franz Kotteder hatte in seinem Artikel 5000 Wirte demonstrieren gegen ausufernde Bürokratie anlässlich der Protestveranstaltung den Punkt getroffen:

»Es geht den Hoteliers und Wirten vielmehr um die Pflicht, die geleistete Arbeitszeit minutiös Woche für Woche aufzulisten und gleichzeitig um die Arbeitszeitgrenzen nach dem schon viel länger geltenden Arbeitszeitgesetz, das maximal zehn Stunden Arbeit pro Tag festschreibt. „Wenn ich eine Hochzeit habe“, so ein Wirt aus Freyung am Rande der Demo, „dann dauert die doch oft zwölf oder gar 14 Stunden – oder auch nicht. Ich müsste dafür also auf Verdacht neue Leute verpflichten, die nach zehn Stunden den Service übernehmen.“«

Sagen wir es in aller Deutlichkeit: Ganz offensichtlich ist es so, dass das Mindestlohngesetz mit der aus ihm resultierenden Verpflichtung, die Arbeitszeiten der Beschäftigten zu dokumentieren, vor allem deshalb als Problem wahrgenommen wird, weil dadurch gleichsam offensichtlich wird, dass man gegen das Arbeitszeitgesetz verstößt. Dann ist aber die Regelung der Beschränkung der Höchstarbeitszeit im Arbeitszeitgesetz das eigentliche „Problem“, nicht aber der Mindestlohn. Der kann nichts dafür, wenn ein anderes Gesetz (bisher) umgangen wurde, was jetzt schwieriger wird, weil mit einem Mindeststundenlohn, der nur dann nachvollziehbar ist, wenn es eine Dokumentation der geleisteten Arbeitsstunden gibt, denn ansonsten kann man den nicht überprüfen. Da beißt die Maus keinen Faden ab.

Wie das bei der Diskussion über das so genannte „Bürokratiemonster“ Mindestlohn munter durcheinander geht, verdeutlicht auch der Artikel unter der sicher nicht unbewusst meinungsstimulierenden Überschrift „Fünf Stunden täglich für den ganzen Papierkram“, der in der Print-Ausgabe der FAZ am 13.05.2015 erschienen ist. in diesem Artikel wird eine Frau zitiert, die in Stuttgart ein Café leitet:

„Jeden Tag jede Stunde festzuhalten: Wer soll das leisten?“ Große Betriebe und Ketten hätten ein System dafür. „Für die Kleinen ist es bitter.“ 25 Mitarbeiter habe das Café … Hinzu kämen andere bürokratische Anforderungen für den Café-Betreiber: Allergiker-Angaben und Vermessungen, etwa von Spülbecken. „Eigentlich müsste man täglich 5 Stunden extra arbeiten für den ganzen Papierkram.“ Der Mindestlohn selbst sei Dank kein Problem für das Stuttgarter Café.

Um es ganz deutlich zu sagen – hier wird alles in einen Topf geworfen und einmal ungerührt. Ohne Zweifel ist es so, dass viele Betriebe, vor allem die kleinen und mittleren Unternehmen, heute zahlreichen bürokratischen und teilweise völlig abstrusen Auflagen unterworfen werden, die das Leben der Inhaber bzw. der Betriebsleiter nicht nur erschweren, sondern oftmals zu einer kafkaesken Veranstaltung werden lassen.  Und es lassen sich ohne weiteres zahlreiche Beispiele für eindringt notwendigen und den entsprechenden willen vorausgesetzt auch realisierbaren Bürokratie-Abbau anführen. Aber nun gerade die Arbeitszeit-Erfassung im Kontext des Mindestlohngesetzes als Paradebeispiel dafür heranzuziehen, das entbehrt nicht nur jeder Grundlage, sondern legt die Vermutung nahe, dass man andere Ziele verfolgen will.

Und auch in diesem Artikel werden wir erneut konfrontiert mit der Tatsache, dass nicht das Mindestlohngesetz, sondern das Arbeitszeitgesetz das zentrale Problem ist: Ein niedersächsischer Spargelbauer wird mit den folgenden Worten zitiert:  Ihn stört vor allem das Arbeitszeitgesetz. „Der Mähdrescher kann nicht aufhören, wenn der Fahrer zehn Stunden gemacht hat“, sagt er.
Es ist richtig, das Arbeitszeitgesetz sieht eine tägliche Arbeitszeitgrenze von zehn Stunden vor.  Allerdings können Betriebe ihre Mitarbeiter in Ausnahmefällen 12 Stunden pro Tag arbeiten lassen, wenn Sie dies vorher beantragen. Dies muss von den Aufsichtsbehörden der Länder genehmigt werden. Nach einem Beschluss der Arbeits- und Sozialministerkonferenz Mitte April dieses Jahres können diese Ausnahmen zudem leichter erteilt werden.

Fazit zu diesem Teil: Wenn schon die Betriebe und ihre Verbände hier Amok laufen gegen das Mindestlohngesetz, dann sollten Sie so ehrlich sein, und das richtige Gesetz adressieren, also das Arbeitszeitgesetz. Also, Visier nach oben klappen und der Politik offen gegenübertreten, dass man längere Arbeitszeiten haben möchte. Darüber kann man dann ja offen streiten.

3. Die angebliche „Zerstörung“ der Minijobs

Die Kritiker des Mindestlohns haben im Vorfeld der Einführung der Lohnuntergrenze immer wieder und voller Vehemenz davor gewarnt, dass es zu erheblichen Beschäftigungsverlusten nach der Einführung kommen würde. Mehr als 900.000 Arbeitsplätze, die verloren gehen werden, wurden damals in den Raum gestellt, beispielsweise von dem Münchener ifo-Institut für Wirtschaftsforschung. Allerdings haben alle seriösen Bilanzierung der ersten 100 Tage des gesetzlichen Mindestlohns gezeigt, dass es ganz im Gegenteil zu den Vorhersagen nicht zu den negativen Beschäftigungseffekten gekommen ist, sondern die Beschäftigung in Deutschland ist weiter deutlich angestiegen. Vor diesem unerfreulichen Hintergrund für die Kritiker musste deren Argumentationslinie verhindert werden und man hat sich, neben der Argumentation, dass die großen Beschäftigungsverluste erst mit einer gewissen Zeitverzögerung eintreten werden, darauf fokussiert, die rückläufige Zahl an Minijobbern gleichsam als „Beweis“ für die schädlichen Folgen des gesetzlichen Mindestlohns der Öffentlichkeit zu präsentieren.

Ein trauriges Beispiel dafür ist beispielsweise diese Meldung aus der WirtschaftsWoche vom 15. Mai 2015: Mindestlohn kostete allein im Februar 136.000 Mini-Jobs. Ohne irgend eine notwendige Ergänzung wie beispielsweise vermutlich oder geschätzt oder vielleicht. Der Artikel bezieht sich dabei auf Aussagen des Präsidenten des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung, Clemens Fuest, der auch Mitglied der Mindestlohnkommision des Bundes ist. Wie kommt er darauf? Welche Belege kann er vorweisen? Nichts, gar nichts.

Der gleiche Versuch wurde bereits vor einiger Zeit versucht. So beispielsweise von Dietrich Creutzburg in seinem Artikel „Der Mindestlohn vernichtet Minijobs“ in der Online-Ausgabe der  FAZ vom 26.03.2015. Der bezog sich auf die Veröffentlichung Hundert Tage Mindestlohn: Unternehmen unter Anpassungsdruck von Andreas Knabe und Ronnie Schöb, die im Auftrag der Lobbyorganisation Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) erstellt wurde. Creutzburg schrieb damals:

»Die Zahl der Minijobs geht neuerdings stark zurück. Für den Monat Januar zählte die zuständige Meldestelle, die Minijobzentrale, bundesweit 255.000 geringfügige Beschäftigungsverhältnisse weniger als noch für Dezember. Die Gesamtzahl der Minijobs im gewerblichen Sektor ging damit um fast 4 Prozent auf 6,6 Millionen zurück. Zwar gibt es zum Jahreswechsel oft einen Rückgang: Von Dezember 2013 auf Januar 2014 sank die Zahl um 91.000. Nun aber ist der Rückgang fast dreimal so stark. Das könnte bedeuten, dass der zum 1. Januar eingeführte Mindestlohn mehr als 150.000 Minijobs vernichtet hat.«

Creutzburg schreibt wenigstens noch von „könnte bedeuten“ – die mit der Erstellung des so genannten Frühjahrsgutachtens beauftragten Wirtschaftsforschungsinstitute waren da weniger zimperlich:

»Der seit Anfang 2015 geltende gesetzliche Mindestlohn vernichtet nach Einschätzung der führenden Wirtschaftsforscher im laufenden Jahr bis zu 220.000 Minijobs in Deutschland. Dieser Trend habe sich in Erwartung der Lohnuntergrenze von 8,50 Euro pro Stunde schon im Herbst gezeigt und im Januar dann stark beschleunigt. In der Summe seien – bereinigt um saisonale Schwankungen – in dem Bereich bereits rund 120.000 Menschen weniger beschäftigt, sagte der Konjunkturchef des Ifo-Instituts, Timo Wollmershäuser, am Donnerstag bei der Vorstellung des Frühjahrsgutachtens in Berlin. Im Jahresverlauf werde die Zahl der geringfügigen Beschäftigten (450-Euro-Jobs) dann um insgesamt etwa 220.000 sinken.« (Quelle: Rhein-Zeitung, 17.04.2015, S. 7)

Das ist – vorsichtig formuliert – eine mutige Interpretation der vorliegenden Daten. Denn das die Arbeitsplätze verloren gegangen sind, könnte so sein. Das muss es aber nicht zwangsläufig bedeuten. »Offen ist, was aus den Betroffenen wurde. Ob die Minijobs in reguläre Stellen umgewandelt wurden oder wegfielen, lasse sich aus den Zahlen noch nicht ablesen«, so Dietrich Creutzburg die Minijob- Zentrale zitierend. Es kann und wird in einem bislang allerdings noch nicht bestimmbaren Umfang zu einer Verschiebung von der bisherigen geringfügigen in den teilzeitigen
sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsbereich gekommen sein oder aber eine Aufstockung der Arbeitszeit bei anderen in den Unternehmen Beschäftigten bei Wegfall des Minijobs.

Interessante Hinweise, die in diese Richtung gehen, kann man in dem Artikel Mindestlohn wirkt anders als gedacht von Eva Roth finden: Der Mindestlohn hat im Einzelhandel überraschende Auswirkungen: In einigen Supermärkten werden zusätzliche Minijobber eingestellt – wegen des Mindestlohns, schreibt sie in ihrem Beitrag. Und den hätte der Herr Fuest mal lesen sollen:

»Die Handelsgesellschaft Edeka Hessenring hat im Januar die Gehälter ihrer Minijobber erhöht – und genau deswegen stellt sie nun zusätzliche Beschäftigte ein. Edeka Hessenring ist in der Gegend um Fulda, Kassel, Erfurt und Göttingen für 49 Edeka-Verbrauchermärkte mit rund 8000 Beschäftigten zuständig.
Etwa 1.700 bis 1.900 der Angestellten sind Minijobber, die die Regale einräumen, putzen und aufräumen. Ihre Stundenverdienste seien durch den Mindestlohn um rund einen Euro gestiegen, sagt Hans-Richard Schneeweiß, Geschäftsführer von Edeka Hessenring. Dadurch entstand folgendes Problem: Wenn die Leute weiter wie bisher gearbeitet hätten, wären sie über die monatliche Verdienstschwelle von 450 Euro gekommen, die ein Minijobber maximal verdienen darf. Viele Rentner, Schüler und Studenten wollten aber laut Schneeweiß Minijobber bleiben. Also hat das Unternehmen ihre Arbeitszeit verkürzt, damit sie nicht über die Verdienstschwelle kommen. Die Arbeit ist aber nicht weniger geworden. Deshalb will Schneeweiß insgesamt 150 bis 200 zusätzliche Minijobber einstellen, bis Ende Februar seien bereits 60 neue Leute angeheuert worden.«

Also mehr (statt weniger) Minijobber einzustellen ist eine Art und Weise, mit den Mindestlohnauswirkungen umzugehen. Daneben gebe es noch zwei andere typische Reaktionen.

»Manche Unternehmen haben demnach die Arbeitszeit der Leute belassen, dadurch sind ihre monatlichen Verdienste über die Schwelle von 450 Euro gestiegen. Die Händler haben deswegen die Stellen in sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze umgewandelt … Diese Variante ist offenbar relativ häufig praktiziert worden … Die Umwandlung von Minijobs in reguläre Stellen hat für Unternehmen einen Vorteil: Sie müssen weniger Abgaben entrichten. Bei einem Minijob zahlt der Arbeitgeber rund 30 Prozent Sozialbeiträge, der Beschäftigte nur knapp vier Prozent. Bei einer voll sozialversicherungspflichtigen Stelle beträgt der Arbeitgeber-Anteil nur rund 20 Prozent. Etwa den gleichen Beitrag müssen Beschäftigte von ihrem Bruttogehalt an die Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung abführen.«

An dieser Stelle wird auch erkennbar, dass die bisherigen „Wettbewerbsvorteile“ der Minijobs aus Arbeitgebersicht durch den Mindestlohn verändert worden sind zuungunsten der geringfügigen Beschäftigung:

»Früher waren die Minijobs für Unternehmen trotz der höheren Abgaben kostengünstig, weil die Stundenlöhne sehr niedrig waren, und oft nur bei sechs oder sieben Euro lagen. Beschäftigte wiederum haben die geringe Entlohnung häufig deshalb akzeptiert, weil sie fast keine Abzüge hatten und – anders als regulär Beschäftigte – kaum Steuern und Sozialbeiträge entrichten mussten.«

Es wird noch von einer weiteren Reaktion berichtet: In manchen Unternehmen hat der Mindestlohn zu Outsourcing geführt: Händler hätten Minijobber entlassen und Tätigkeiten wie das Regale-Einräumen an externe Firmen vergeben.

Fazit: »Von einem massiven Jobabbau durch den Mindestlohn, wie ihn führende Ökonomen vorhergesagt haben, ist im Einzelhandel derzeit also keine Rede«, so Eva Roth am Ende ihres Beitrags.

4. Anschwellende Detailfragen und ihr Aufschlagen in der Welt der Rechtsprechung

Natürlich ist es keine wirkliche Überraschung, dass ein derart viele Arbeitsverhältnisse und damit eben auch unterschiedliche Fallkonstellationen betreffende gesetzliche Regelung wie der Mindestlohn zu Definitions- und Abgrenzungsfragen führt, die oftmals letztendlich von der Rechtsprechung geklärt werden müssen.  Mit Blick auf den folgenden Fall bzw. die neue Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts muss hinzugefügt werden, dass wir bereits seit mehreren Jahren über unterschiedliche Branchen-Mindestlöhne verfügen, wo es auch immer wieder Unklarheiten gibt, die am Ende nur durch eine richterliche Entscheidung einer vorläufigen Klärung zugeführt werden können.

»Mindestlöhne gelten auch an Feiertagen und bei Krankheit. Das hat das Bundesarbeitsgericht entschieden. Das Urteil betraf zwar noch nicht den seit Jahresbeginn geltenden allgemeinen Mindestlohn, dürfte aber übertragbar sein«, so Christian Rath in seinem Artikel anlässlich einer Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts, bei der es allerdings nicht um den seit Januar dieses Jahres geltenden gesetzlichen Mindestlohn ging, sondern um den Branchen-Mindestlohn für pädagogische Fachkräfte in der Weiterbildung.
Zum Sachverhalt berichtet das Bundesarbeitsgericht in seiner Pressemitteilung Mindestlohn für pädagogisches Personal auch bei Entgeltfortzahlung an Feiertagen und bei Arbeitsunfähigkeit:

»Die Klägerin war bei der Beklagten als pädagogische Mitarbeiterin beschäftigt. Sie betreute Teilnehmer in Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen nach dem SGB II und SGB III. Das Arbeitsverhältnis unterfiel kraft „Verordnung über zwingende Arbeitsbedingungen für Aus- und Weiterbildungsdienstleistungen nach dem Zweiten oder Dritten Buch Sozialgesetzbuch“ (MindestlohnVO) des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales dem Geltungsbereich des Tarifvertrags zur Regelung des Mindestlohns für pädagogisches Personal vom 15. November 2011 (TV-Mindestlohn). Dieser sah eine Mindeststundenvergütung von 12,60 Euro brutto vor. Die Beklagte zahlte zwar für tatsächlich geleistete Arbeitsstunden und für Zeiten des Urlaubs diese Mindeststundenvergütung, nicht aber für durch Feiertage oder Arbeitsunfähigkeit ausgefallene Stunden. Auch die Urlaubsabgeltung berechnete sie nur nach der geringeren vertraglichen Vergütung.«

Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts fiel eindeutig aus: »Auch für Feiertage und bei Krankheit muss der Mindestlohn bezahlt werden. Schließlich verlange in beiden Fällen bereits das Entgeltfortzahlungsgesetz, dass der Beschäftigte das bekommt, was „er ohne den Arbeitsausfall erhalten hätte“. Dies gelte auch dann, wenn sich das Entgelt nach einer Mindestlohnregelung richte, betonte das Bundesarbeitsgericht«, so Rath in seinem Artikel.
Dies ist nur ein Beispiel für das, was uns noch bevorstehen wird.

5. Die Mindestlohnkommission. War da nicht mal was?

Natürlich muss es  am Anfang eines derart umfangreichen und völlig unterschiedliche Fallkonstellationen umfassenden Gesetzes zu zahlreichen Fragen und sicherlich auch Problemstellungen kommen, die dann, wenn sie auftreten, einer nüchternen Analyse und Bewertung unterworfen werden sollten. Bereits lange vor der Einführung des gesetzlichen Mindestlohnes habe ich dafür plädiert, die Mindestlohnkommission von Anfang an gerade zu diesen dann auftretenden strittigen Fällen sowie mit Blick auf eine differenzierte Arbeitsmarkteinschätzung der neuen Lohnuntergrenze unter Volllast arbeiten zu lassen. Daraus ist bekanntlich nichts geworden. Nur wenige Monate nach dem offiziellen Start der Kommission hatte ihr Vorsitzender Henning Voscherau Anfang April aus gesundheitlichen Gründen das Amt niederlegen müssen. Bislang ist noch kein Nachfolger bzw. keine Nachfolgerin in Sicht. Auch die wenigen Stellen für die Geschäftsstelle, die der Mindestlohnkommission zur Verfügung gestellt wurden, sind derzeit noch nicht besetzt, von einer Arbeitsfähigkeit der Kommission kann also in keiner Art und Weise die Rede sein. Das ist gerade in dieser Phase weit mehr als nur eine ungute Situation (vgl. zu diesem Thema den Artikel mit der bezeichnenden Überschrift Mindestlohn ohne Expertise). Damit werden grundsätzlich mögliche Chancen vergeben.

Foto: © Stefan Sell

Das Tarifeinheitsgesetz ante portas – Andrea Nahles (und die SPD) allein zu Haus? Vom doch gefährdeten Streikrecht und mehr statt weniger Streiks

In wenigen Tagen wird der Deutsche Bundestag über das „Tarifeinheitsgesetz“ entscheiden – und so, wie es derzeit aussieht, wird die übermächtige große Koalition das Gesetz verabschieden.
Der Deutsche Bundestag schreibt mit Blick auf den 22. Mai 2015 in seiner Vorabberichterstattung:

»Der Sitzungstag beginnt um 9 Uhr mit der einstündigen abschließenden Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Tarifeinheit (18/4062). Ziel der Vorlage ist es laut Bundesregierung, „die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie zu sichern“. Diese werde gefährdet, wenn in einem Unternehmen mehrere Gewerkschaften für eine Berufsgruppe Tarifabschlüsse durchsetzen wollten und es dabei zu „Kollisionen“ komme, die der Aufgabe der Ordnung des Arbeitslebens nicht mehr gerecht werden könnten, so die Regierung. Dagegen wendet sich sowohl ein Antrag der Fraktion Die Linke (18/4184), die in dem Tarifeinheitsgesetz einen „Verfassungsbruch mit Ansage“ sieht, als auch ein Antrag von Bündnis 90/Die Grünen (18/2875), die durch die geplante gesetzliche Tarifeinheit die Existenzberechtigung von Gewerkschaften infrage gestellt sieht. Beide Anträge werden ebenfalls abschließend beraten.«

Die Kritiker des Tarifeinheitsgesetzes haben immer wieder als einen ihrer zentralen Kritikpunkte darauf hingewiesen, dass durch dieses Gesetz das Streikrecht eingeschränkt wird, was die zuständige Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) bislang stets verneint hat. Nun aber hat die Bundesregierung zum ersten Mal zugegeben, dass mit dem Gesetz zur Tarifeinheit das Streikrecht eingeschränkt wird. Und dieser Punkt ist verfassungsrechtlich von größter Bedeutung. Zumindest berichtet das Thomas Öchsner in der Süddeutschen Zeitung in seinem Artikel Regierung schürt Zweifel am Tarifgesetz. Er bezieht sich auf eine Antwort der Parlamentarischen Staatssekretärin im Bundesarbeitsministerium, Anette Kramme (SPD), auf eine Kleine Anfrage der Grünen.

Und hier der entscheidende Passus aus dem Artikel:

»Die Grünen-Arbeitsmarktpolitikerin Beate Müller-Gemmeke hatte wissen wollen, ob die Arbeitsgerichte künftig auf der Grundlage des geplanten Gesetzes einen Streik als „unverhältnismäßig“ untersagen können. Denn der Kern des Gesetzes wird sein, dass im Falle rivalisierender Gewerkschaften in einem Betrieb nur noch der Tarifvertrag derjenigen Gewerkschaft gelten soll, die dort die meisten Mitglieder hat. Als „unverhältnismäßig“ gilt in der Rechtsprechung ein Streik unter anderem dann, wenn er auf ein Ziel gerichtet ist, das mit ihm gar nicht erreicht werden kann. Staatssekretärin Kramme antwortete den Grünen: Die Prüfung eines Streiks durch ein Gericht „kann ergeben“, dass dieser „unverhältnismäßig sein kann, soweit ein Tarifvertrag erzwungen werden soll, dessen Inhalte evident nicht zur Anwendung kommen“.«

Die Koalition will das Gesetz am kommenden Freitag im Bundestag verabschieden. Fast alle Berufsgewerkschaften haben eine Klage dagegen vor dem Bundesverfassungsgericht angekündigt. Und sie werden das mit guten Erfolgsaussichten machen können. Aber – bis es zu einer entsprechenden Entscheidung des höchsten deutschen Gerichts kommen kann und wird, geht einige Zeit ins Land und für die eine oder andere Sparten- bzw. Berufsgewerkschaft kann das existenzbedrohende Folgen haben.

Der Marburger Bund hat dazu übrigens den folgenden Tweet abgesetzt:

»Nahles in der „Allgemeinen Zeitung“ (Mainz) zum ‪#‎Tarifeinheitsgesetz‬: „Die Mehrheit ist noch nicht sicher. Das liegt aber nicht an der SPD.“«

Wenn dem so sein sollte, dann sollte der eine oder andere Sozialdemokrat noch mal ganz fest in sich gehen. Ansonsten wird am Freitag, wenn im Bundestag die Abstimmung ansteht, ein weiterer Treppenwitz der Geschichte geschrieben werden: Eine sozialdemokratische Arbeitsministerin beschädigt das Streikrecht und diese Beschädigung wird sich nicht nur gegen die renitente Lokführergewerkschaft GDL richten, sondern die Gewerkschaften insgesamt treffen. Man kann sich schon vorstellen, beim wem dann am Ende der Woche die Sektkorken knallen werden. Traurig. Vielleicht aber auch nur Ausdruck der Tatsache, was passiert, wenn man kein festes Wertefundament (mehr) hat, von dem aus man Politik gestaltet.

Und es gibt noch weitere, nur auf den ersten Blick technisch daherkommende Aspekte zu berücksichtigen: Joachim Jahn berichtet in seinem Artikel „Untaugliche Tarifeinheit“ aus der Print-Ausgabe der FAZ vom 13.05.2015: »Arbeitsrichter erwarten mehr statt weniger Streiks.«

Wie das? Wurde dem interessierten Bürger nicht gerade das Gegenteil versprochen, beispielsweise durch die „Zähmung“ der renitenten Lokführer?

»Das geplante Gesetz zur Tarifeinheit stößt bei jenen auf vernichtende Kritik, die es anwenden müssen – den Arbeitsrichtern. „Völlig illusorisch“ sei die Erwartung der Politik, dass Arbeitsgerichte dann im Eilverfahren Streiks verbieten könnten, sagte der Vorsitzende des Bundes der Arbeitsrichter, Joachim Vetter«, berichtet Jahn. Warum das?

Die Erwartung der Politik, dass Arbeitsgerichte im Eilverfahren Streiks verbieten könnten, habe die Koalition nicht in das Gesetz selbst hineingeschrieben, sondern in dessen Begründung versteckt. „Ausführungen in Gesetzesbegründungen haben aber keine Bindungswirkung für die Gerichte“, wird Vetter in dem Artikel zitiert.

Ein weiterer Grund für die ablehnende Einschätzung des Arbeitsrechtlers:

»Nicht praktikabel sei auch die Erwartung, dass Richter bei einem Antrag auf ein Streikverbot feststellen können, welches jeweils die größere Gewerkschaft sei. Denn darüber müssten Arbeitsrichter in Eilverfahren innerhalb von Stunden oder Tagen entscheiden. Doch dürften Arbeitgeber ihre Beschäftigten gar nicht nach ihrer Mitgliedschaft fragen.«

In welchen Umsetzungsabgründen wir mit dem neuen Gesetz geraten würden, kann man auch an dem folgenden Punkt erkennen – hinsichtlich der gerade nicht simplen Frage, was denn eigentlich ein „Betrieb“ sei:

»Zu zahlreichen Streitigkeiten wird es nach Vetters Einschätzung ferner darüber kommen, wann ein „Betrieb“ vorliegt. Dieser stellt nämlich dem Gesetz zufolge den Maßstab dafür da, welche Arbeitnehmerorganisation die Mehrheit oder Minderheit vertritt; er wird dort aber nicht definiert. Sollte man sich nach den Vorgaben des Betriebsverfassungsgesetzes richten, wäre überdies zu klären, was für „Betriebsteile“ und „gewillkürte Betriebe“ gelte.«

Es wird sogar die Vorhersage gewagt, dass am Ende mehr statt weniger Streiks zu erwarten sind:

»Der Richterverband fürchtet ohnehin, dass die Wirkung des Tarifeinheitsgesetzes nach hinten losgeht. Entgegen der Absicht von CDU/CSU und SPD werde es nämlich die Anreize zum Streik noch steigern, weil Spartengewerkschaften nun zur Durchsetzung eines eigenen Tarifvertrags erst recht um Mitglieder kämpfen müssten, um die notwendige Mehrheit in den Betrieben zu erlangen.«

Zahlreiche Akteure, darunter der Marburger Bund, die GDL und der Deutsche Beamtenbund haben zwischenzeitlich bereits angekündigt, dass sie gegen das Tarifeinheitsgesetz vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe klagen werden. Sie können sich auf diesem Weg bestätigt und gestärkt fühlen durch die folgenden Ausführungen des Arbeitsrechtlers Joachim Vetter:

»Das Tarifeinheitsgesetz hält er dagegen kaum für verfassungsmäßig. Die Verdrängung der Abkommen, die die jeweilige Minderheitsgewerkschaft abschließt, sei schon sehr problematisch. In jedem Fall unverhältnismäßig und nicht nachvollziehbar sei aber, dass diese sich dem Tarifvertrag der größeren Konkurrenz nur dann anschließen darf, wenn sie zuvor kollidierende Regelungen abgeschlossen hat.«

Interessant in diesem Zusammenhang auch ein Blog-Beitrag der ehemaligen stellvertretenden DGB-Bundesvorsitzenden Ursula Engelen-Kefer unter der Überschrift Streiks für die Dienstleistungsgesellschaft: Sie sieht wie andere auch eine direkte Verantwortung des derzeit durch den Bundestag getriebenen Gesetzentwurfs zur Tarifeinheit für die Eskalation der Konflikte bei der Deutschen Bahn:

»Warum sollte die Bahn ein kompromißfähiges Angebot vor allem bezüglich der Einbeziehung der Lokrangierführer vorlegen, wenn nach Verabschiedung des Gesetzes und dessen Geltung ab Juli diesen Jahres, die Streikfähigkeit der GdL gebrochen ist. Und warum sollten die GdL und ihr Vorsitzender jetzt einlenken, wenn sie nach Einführung des Tarifeinheitsgesetzes ihre tarifpolitischen Vorstellungen nicht mehr durchsetzen kann, weil ihr Streikrecht faktisch abgeschafft wurde? Warum sollte sich eine größere Gewerkschaft im Vorfeld mit der kleineren über tarifliche Regelungen einigen, wenn die kleinere auch einfach ausgeschaltet werden kann?«

Aber sie geht noch erheblich weiter. Sie sieht und begründet die Notwendigkeit einer spürbaren Aufwertung der personenbezogenen Dienstleistungen – ob bei Lokführern, Erzieherinnen oder anderen Berufsgruppen. Und de wir man ihnen nicht kampflos gewähren. »Hilfreich wäre, wenn die Bundesregierung diese notwendigen Umstrukturierungen im Gefälle von Löhnen und Arbeitsbedingungen fördern und nicht durch ein verfassungswidriges Streikverbot für Spartengewerkschaften und ihren Einsatz zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in den personenbezogenen Dienstleistungen einschränkt.«