Berufsausbildungssystem: Die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge ist weiter auf dem Sinkflug, ein „Übergangssystem“, das nicht einfach verschwinden wird und immer mehr, die studieren (wollen) und oft in „Mickey Mouse“-Fächern landen

Heute muss ein guter Tag gewesen sein für die Berufsausbildung in Deutschland – zumindest, wenn man als Beurteilungskriterium für eine solche Aussage die Betitelungen der Pressemitteilungen heranzieht: Gemeinsam die duale Ausbildung stärken, so erfahren wir es vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie und dass das nicht irgendwer will, sondern echte Schwergewichte, können wir dem nächsten Satz entnehmen: »Bund, Wirtschaft, Gewerkschaften und Länder schmieden neue Allianz für Aus- und Weiterbildung.« Die Zielsetzung kommt sympathisch rüber: »Die Partner der Allianz wollen gemeinsam die duale Berufsausbildung in Deutschland stärken und für die Gleichwertigkeit der betrieblichen und akademischen Ausbildung werben. Jedem ausbildungsinteressierten Menschen soll ein Pfad aufgezeigt werden, der ihn frühestmöglich zu einem Berufsabschluss führen kann. Die betriebliche Ausbildung hat dabei klaren Vorrang.«

Man hat sich einige Ziele gesetzt: »Die neue Allianz für Aus- und Weiterbildung löst den zum Ende des Jahres 2014 auslaufenden Nationalen Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs ab. Im Rahmen der Allianz will die Wirtschaft im kommenden Jahr 20.000 zusätzliche Ausbildungsplätze gegenüber den 2014 bei der Bundesagentur für Arbeit gemeldeten Stellen sowie jährlich 500.000 Praktikumsplätze zur Berufsorientierung zur Verfügung stellen. Sie hat zugesagt, jedem vermittlungsbereiten Jugendlichen, der bis zum Beginn des Ausbildungsjahres im Herbst noch keinen Platz gefunden hat, drei Angebote für eine Ausbildung zu machen. Die Partner der Allianz wollen jetzt den Einstieg in die assistierte Ausbildung auf den Weg bringen; als ersten Schritt streben sie für das Ausbildungsjahr 2015/2016 bis zu 10.000 Plätze für die assistierte Ausbildung an; das Bundesministerium für Arbeit und Soziales wird die gesetzlichen Grundlagen dafür auf den Weg bringen.« Den Text der neuen Allianz-Vereinbarung findet man hier. Es bewegt sich was – vor allem aber und das leider bei den tatsächlichen Zahlen. Die Abbildung verdeutlicht, was man den ebenfalls heute veröffentlichten Daten des Bundesinstituts für Berufsbildung zur Entwicklung auf dem so genannten „Ausbildungsmarkt“ entnehmen kann und muss: Die Zahl der neuen Ausbildungsverträge geht leider weiter den Bach runter.

Stephanie Matthes, Joachim Gerd Ulrich, Simone Flemming und Ralf-Olaf Granath vom Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) haben ihre Veröffentlichung über die Entwicklung des Ausbildungsmarktes im Jahr 2014 so überschrieben: Duales System vor großen Herausforderungen. Und damit sind sie noch im Dunstkreis des politischen Korrekten, deuten aber an, was man auch anders formulieren könnte, wenn man darf: Wir stehen vor einer fundamentalen Erschütterung, wenn nicht Infragestellung einer seit Jahrzehnten vorhandenen Aufgabenteilung im großen System der Berufsausbildung mit unterschiedlichen Zugangswegen und Ausbildungsformaten. Im vergangenen Jahr, also 2013, haben erstmals mehr junge Menschen ein Hochschulstudium begonnen als eine duale Berufsausbildung. Man muss das auch vor dem Hintergrund solcher Meldungen sehen: 64 Prozent der Schüler in NRW erreichen Hochschulreife. Im Bundesdurchschnitt waren es zwar weniger, aber immerhin noch erhebliche 54,9%. Und die duale Berufsausbildung – um die uns in der Welt viele beneiden – und die sicherlich bei allen Schwierigkeiten und Defiziten innerhalb dieses vielgestaltigen Systems als eine der zentralen (bisherigen) Erfolgsfaktoren für die deutsche Volkswirtschaft zu identifizieren ist, gerät immer stärker unter (einen doppelten) Druck. Zum einen „von oben“, weil immer mehr junge Menschen an die Hochschulen strömen, von denen früher viele eher eine duale oder fachschulische Ausbildung gemacht hätten. An den Hochschulen landen viele Studierende dann in einerseits völlig überfüllten Ausbildungsstätten mit den schlechtesten Personalschlüsseln überhaupt, zum anderen in einer „Hochschulwelt“, die sich stark verändert hat gegenüber dem, was viele früher als Hochschule erlebt haben. Dazu der Berufsbildungsexperte Felix Rauner von der Universität Bremen: »Wir zählen mittlerweile in Deutschland mehr als 2.000 Fächer in den Bachelor- und Masterstudiengängen. Dieses Angebot gleicht einem undurchschaubaren Dschungel von Spezialfächern, für die sich der Begriff der „Mickey Mouse“-Fächer eingebürgert hat« (vgl. „Wir brauchen eine Architektur paralleler Bildungswege“).

Aber auch „von unten“ kommt das (duale) Berufsausbildungssystem unter Druck. Man könnte ja angesichts des Wegbrechens potenzieller Auszubildender am oberen Rand auf den ersten Blick plausibel argumentieren, dass die Betriebe sich dann eben nach unten weiter öffnen müssen, also hin zu den „leistungsschwächeren“ Jugendlichen, denen bislang der Einstieg in die Berufsausbildung nicht oder nur mit einer erheblichen Zeitverzögerung gelungen ist. Aber das ist einfacher gesagt als getan. Zum einen gibt es nicht wegzudiskutierende, teilweise erhebliche Verhaltens- und Motivationsprobleme bei manchen Jugendlichen. Zum anderen: Hinsichtlich der in Deutschland so wichtigen dualen und fachschulischen Berufsausbildung muss für die zurückliegenden Jahre ein die Integrationsprobleme der leistungsschwächeren Jugendlichen verstärkendes Moment gesehen werden: Die Anforderungen sind nicht nur in vielen Tätigkeitsfeldern gestiegen, sondern auch in den Berufsausbildungen. Gleichsam ein „klassisches“, weil unmittelbar anschauliches Beispiel wäre der Vergleich der Ausbildungsanforderungen beim Kfz-Mechaniker vor 15 oder 20 Jahren und den Inhalten, die heute in der Mechatroniker-Ausbildung zu bewältigen sind. Insgesamt kann und muss man auch für viele Ausbildungsberufe von einem (vor allem kognitiven) „Upgrading“ sprechen, das natürlich im Ergebnis dazu führt, dass es zu einer Zugangsverengung bei diesen Berufen kommen muss. Das führt zu einer kognitiven Anforderungserhöhung in vielen Berufsausbildungen (einschließlich des berufsschulischen Teils der Ausbildung) in Verbindung mit „kognitiven Blockaden“ bei einem Teil der Schüler und Schülerinnen.

Das alles passiert in einem Kontext, der durch eine der tiefgreifendsten Veränderungen des Berufsausbildungssystems gekennzeichnet ist:

Die vergangenen Jahren waren vor allem durch die alljährlich sich wiederholenden Bemühungen um die Gewinnung zusätzlicher Ausbildungsplätze im dualen System geprägt. Immer wieder war davon die Rede, dass es nicht genügend Ausbildungsstellen geben würde, um alle Schulabgänger mit einer beruflichen Erstausbildung zu versorgen. Zu viele Jugendliche und zu wenige Ausbildungsplätze – das war die in der Vergangenheit dominierende Kurzformel. Von besonderer Relevanz für die öffentliche Wahrnehmung war die sich in diesem Zusammenhang immer stärker als besonderes Problem darstellende besondere Betroffenheit der Hauptschüler, die als die große „Verlierergruppe“ kommuniziert wurde – die Verfestigung dieser Sichtweise auf Hauptschüler hat sicher stark zum Akzeptanzverfall der Schulform Hauptschule mit beigetragen, auch wenn sich die Realität der Hauptschullandschaft in den einzelnen Bundesländern weitaus differenzierter dargestellt hat und immer noch darstellt.

Schaut man heute in die Berichterstattung über das Thema, dann muss man den Eindruck bekommen, die Situation in Deutschland ist eine komplett andere als noch vor wenigen Jahren. Als neue Kurzformel scheint sich spiegelbildlich zur bisherigen Perspektive zu etablieren: Zu wenige Jugendliche und zu viele Ausbildungsplätze. Die Medienberichte fokussieren einerseits auf in Einzelfällen schon grotesk daherkommende Versuche, überhaupt noch halbwegs akzeptable Interessenten für einen Ausbildungsplatz zu gewinnen, wobei dann die jungen Leute schon mal ein iPad oder einen Wochenendtrip nach London als Prämie kassieren können. Zum anderen aber wird immer wieder über das zweite Problem neben dem rein quantitativen Problem berichtet – die tatsächlich oder angeblich fehlende „Ausbildungsreife“ der potenziellen Auszubildende, wobei hier nur darauf hingewiesen werden kann, dass der Begriff der „Ausbildungsreife“ in maßgeblichen Teilen der Berufsbildungsforschung zu Recht als nicht sinnvoll erachtet wird. Aber er wabert immer wieder und sehr oft durch die öffentlichen Debatten – allerdings, wenn man ihn denn schon verwendet, in einem krassen Missverhältnis zu der tatsächlichen Ausformung von „mangelnder Ausbildungsreife“, denn ein solche wird unisono immer nur bei den Jugendlichen beklagt, es gibt sie aber auch spiegelbildlich bei so manchem Betrieb bzw. Arbeitgeber.

Was das zur Folge hat? Eine Konsequenz ist die, dass trotz der aus demografischen Gründen rückläufigen Zahl an (potenziellen) Auszubildenden die Parallelwelt des Übergangs von der Schule in den Beruf nicht einfach „verschwindet“, weil weiterhin zahlreiche junge Menschen aus ganz unterschiedlichen Gründen keinen schnellen und guten Einstieg in das Berufsleben finden (können). Dabei wäre das eigentlich zu erwarten, denn die Effekte des demografischen Wandels (in Verbindung mit der bereits erwähnten erheblichen Verschiebung zugunsten des hochschulischen Ausbildungssystems) würden erst einmal dafür sprechen, dass sich das „Übergangssystem“ von alleine erledigt. Um welche Größenordnung es allein beim demografischen Wandel geht, verdeutlicht dieses Zitat  des BIBB anlässlich der Veröffentlichung der Entwicklung und der Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge:

»Wesentliche Ursache für die nochmals gesunkene Zahl der Ausbildungsverträge ist der starke Rückgang der Zahl der nichtstudienberechtigten Abgänger und Absolventen aus allgemeinbildenden Schulen, die drei Viertel aller Auszubildenden stellen. Ihre Zahl sank nach Angaben des Statistischen Bundesamtes von 714.800 im Jahr 2004 auf 551.300 im Jahr 2014 … in den kommenden zehn Jahren wird die Zahl der Schulabgänger mit maximal mittlerem Schulabschluss um weitere 101.700 auf dann nur noch 449.600 zurückgehen.«

Und offensichtlich scheint das doch auch im Sinne eines Rückgangs der Eintritte in das so genannte „Übergangssystem“ zu wirken, denn die Abbildung verdeutlich, dass es zu einer erheblichen Bewegung gekommen ist. Im Jahr 2005 waren es noch deutlich mehr als 400.000 junge Menschen, die in den Übergangsbereich eingetreten sind, weil sie keinen direkten Zugang zu einer Berufsausbildung gefunden haben oder weil sie an einen (höheren) Schulabschluss herangeführt werden sollten. Auch wenn man einen deutlichen Rückgang der Zahl der Eintritte in den „Übergangsbereich“ erkennen kann – immer noch sind es mehr als 250.000 junger Menschen, die hier einmünden, also fast 27% aller Neuzugänge in das berufliche Ausbildungssystem. Um eine Einordnung dieser Zahlen zu ermöglichen: Das sind immer noch mehr junge Menschen, als insgesamt in das Schulberufssystem eintreten, das waren nur 212.000 Jugendliche, also da, wo beispielsweise Erzieherinnen oder das Pflegepersonal ausgebildet wird. Zum weiteren Vergleich: Eine duale Berufsausbildung haben im vergangenen Jahr 497.000 junge Menschen begonnen. Offensichtlich nimmt zwar rein quantitativ das Volumen der „Problemfälle“ im Sinne nicht vermittelbarer Jugendlicher parallel zum allgemeinen Rückgang der Zahl der Jugendlichen insgesamt ab, wobei man darauf hinweisen muss, dass es in den vergangenen zwei Jahren kaum noch Rückgänge bei der Zahl der Eintritte in das „Übergangssystem“ gegeben hat.

Fazit: Zwar reduziert sich die Zahl der Neuzugänge in das bestehende „Übergangssystem“, aber gleichzeitig kommt es zu einer Potenzierung der heute schon in vielen Maßnahmen zu beobachtende „Konzentration der Unerträglichkeit“ (auf beiden Seiten) durch eine Konzentration der (sozial)pädagogischen Schweregrade und damit zu einem absehbar weiter abnehmenden Wirkungsgrad der zersplitterten und punktuellen Förderlandschaft (weniger, aber die dann noch „schwerer“). Und dann muss man berücksichtigen, dass die meisten Fachkräfte, die im „Übergangssystem“ arbeiten, unter den schlechtesten Bedingungen überhaupt ihrer so schwierigen Arbeit nachgehen müssen – befristete Verträge, oftmals eine Bezahlung, die knapp oberhalb oder an den Hartz IV-Sätzen liegt und eine Landschaft, die durch eine sich ständig erneuernde fragile „Projektionitis“ charakterisiert ist.

Was mit diesen Ausführungen herausgestellt werden soll: Wir sollten nicht nur auf die rückläufige Zahl an tatsächlichen Ausbildungsverträgen schauen und im engeren Umfeld diskutieren. Dazu zählt letztendlich auch die heute proklamatorisch verkündete „Allianz für Aus- und Weiterbildung“. Wir stehen an einer ganz zentralen Wegscheide der Entwicklung und wenn man nicht wesentlich umfassender und beherzter an die Sache heran geht, dann werden wir erleben müssen, dass in den kommenden Jahren die „klassische“ Berufsausbildung bei uns (die eigentlich eine sehr moderne Veranstaltung ist) an die Wand gefahren wird, aber auch viele Hochschulen, an die nun immer mehr junge Menschen strömen, werden angesichts der Rahmenbedingungen und der Länderzuständigkeit schweren Schaden nehmen müssen. Und letztendlich – aber eigentlich sollte das im Mittelpunkt stehen – wird das erhebliche Auswirkungen haben auf die jungen Menschen.

Paketdienste segeln auf der Sonnenseite der „Amazon-Gesellschaft“. Aber das hat seinen Preis, dessen Bezahlung wieder mal ungleich verteilt ist

Jetzt ist wieder Hochsaison für die Paketdienste. Unmengen werden in diesen und den kommenden Tagen verschickt und müssen zugestellt werden. Aber auch unabhängig vom Weihnachtsgeschäft boomt die Branche. Denn unsere Gesellschaft mutiert immer mehr zu einer „Amazon-Gesellschaft“. Online bestellen und real an- und beliefern lassen setzt sich immer mehr durch. Laut einer Studie des Bundesverbandes Internationaler Express- und Kurierdienste (BIEK) wurden im Jahr 2013 knapp 2,7 Milliarden Sendungen verschickt. Das sind 57 % mehr als im Jahr 2000. Immer mehr gelbe, braune oder weiße Laster quälen sich im Schneckentempo durch die überfüllten Straßen – und dass sie in vielen Städten schon heute ein veritables Verkehrschaos anrichten, wie Michael Haberland in seinem Artikel Sie parken mitten auf der Straße: Wie Paket-Dienste Städte verstopfen beklagt, ist die eine durchaus problematische Auswirkung dieser Erfolgsstory. Besonders problematisch ist aber die Tatsache, dass die Expansion der Branche in vielen Fällen auf Kosten der dort arbeitenden Menschen vorangetrieben wird. Die teilweise skandalösen Arbeitsbedingungen sind schon oft und von vielen beleuchtet worden (vgl. beispielsweise den Blog-Beitrag Da schreit jemand – nicht – vor Glück. Die (noch) Zwei-Klassen-Gesellschaft bei den Paket- und Kurierdiensten und Wildwest bei den Arbeitsbedingungen oder auch Amazon mal wieder. Ab in den Osten und zurück mit dem Paketdienst).

Die Abbildung verdeutlicht einen trockenen, für die Betroffenen aber teilweise im wahrsten Sinne des Wortes schmerzhaften Aspekt: In den vergangenen Jahren hat es bei den Paketdiensten eine enorme Produktivitätssteigerung gegeben, gemessen an der Zahl der zugestellten Sendungen je Beschäftigten. Fast 22% mehr innerhalb der vergangenen zehn Jahre. Nun ist sicher jedem klar, dass man in diesem Bereich kaum durch technische Innovationen einen solchen Produktivitätssprung hinbekommen hat, sondern hier spiegelt sich u.a. eine massive Arbeitsverdichtung und eine Ausweitung der Zustellbezirke. Frank-Thomas Wenzel hat das, was hier angesprochen wird, schon in der Überschrift zu seinem Artikel auf den Punkt gebracht: Lange Tage, wenig Geld: »Unter den Paketdiensten herrscht ein gnadenloser Konkurrenzkampf. Leidtragende sind die Zusteller. Sie müssen oft unter massivem Zeitdruck und für einen Hungerlohn die Sendungen zum Kunden bringen.«

Da kann es dann nicht überraschen, wenn man beispielsweise in der Deutschen Verkehrs-Zeitung lesen muss: Paketdienste suchen Fahrer. „Gegenüber Branchen, die schrumpfen, ist das Schöne bei uns, dass der Paketmarkt wächst“, so wird Rico Back, Chief Executive Officer (CEO) der GLS-Gruppe, in dem Artikel zitiert. Doch die steigenden Mengen bescheren den Dienstleistern ein ganz praktisches Problem: Ihnen könnten eines Tages die Zustellfahrer ausgehen.

»Derzeit sind schätzungsweise rund 110.000 Fahrer für die Kurier-, Express- und Paketdienste in Deutschland unterwegs sind. Allein die Deutsche Post setzt aktuell rund 60.000 Mitarbeiter in der Paket- und Verbundzustellung ein. Knapp 15.000 davon sind Paketzusteller. Die vor allem auf dem Land tätigen sogenannten Verbundzusteller liefern Briefe und Pakete zusammen aus. Sie sind in der Regel mit dem Auto unterwegs.
Zu ihren jetzigen 50.000 Fahrern brauchen die Wettbewerber des Bonner Logistikkonzerns angesichts der erwarteten Zuwächse an Paketen pro Jahr sechs bis sieben Prozent mehr Fahrer, schätzt Back. Allein für GLS sind derzeit 5000 Fahrer im Einsatz. „Bis Ende dieses Jahrzehnts werden 20.000 weitere Fahrer benötigt“, ergänzt Boris Winkelmann, CEO beim DPD.«

Und was bedeutet das für die Branche? »Um diesen Bedarf zu decken, schaut sich der Paketdienst auch jenseits der Grenzen um. „Wir sind im Gespräch mit unserem spanischen Partner Seur, um Fahrer bei uns zu beschäftigen“, erläutert Winkelmann«, der CEO beim DPD. Das nun aber kann sich dann mit einer anderen Klage seitens der Unternehmen überschneiden: »Hermes-Geschäftsführer Thomas Horst weist auf einen anderen Aspekt hin: „Es wird immer schwieriger, Zusteller zu finden, die die qualitativen Anforderungen der Kunden auch tatsächlich erfüllen können. In Berlin ist es beispielsweise schwierig, überhaupt noch deutschsprachige Zusteller zu gewinnen.“« Ob das nun durch Fahrer aus Spanien besser werden würde?

Man könnte ja an dieser Stelle durchaus auch auf die Idee kommen, die Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten zu verbessern und dadurch die Attraktivität zu steigern. Davon findet man nichts. Lediglich einen Hinweis, dass das durchaus ein wichtiger Punkt sein kann, um genügend geeignetes Personal finden zu können: »Die Deutsche Post geht davon aus, durch die steigenden Paketvolumina bis 2020 weitere 12.000 Arbeitsplätze in der Paket- und Verbundzustellung zu schaffen. Zugleich verweist eine Pressesprecherin des Logistikkonzerns auf die tarifgebundenen und sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze, die das Unternehmen biete. Deshalb, so die Schlussfolgerung, „sehen wir derzeit keinen echten Mangel an Kräften in der Paketzustellung“.« Man achte auf die Formulierungskunst der Pressesprecherin: „derzeit keinen echten Mangel“.

Ach, die Deutsche Post. Ist sie im Vergleich mit den rabenschwarzen Konkurrenten vielleicht so etwas wie eine ziemlich graue Lichtgestalt, so transformiert sie sich derzeit eher in Richtung auf die Dunkelheit, um in der bildlichen Sprache zu bleiben. Diese Tage erst war sie wieder in der öffentlichen Diskussion angesichts der Klagen der Gewerkschaft ver.di über die vielen Befristungen: »Von den bundesweit insgesamt rund 127 000 Beschäftigten in den 49 Niederlassungen Brief arbeiten gut 21 000 Beschäftigte dauerhaft oder als Aushilfe mit einem befristeten Arbeitsvertrag. Das sind 17 Prozent aller Beschäftigten«, so ver.di in einer Pressemitteilung bereits im August dieses Jahres.

Und man kann es auch so aufrufen, wie das bereits in einem früheren Beitrag zum Thema formuliert wurde: »Inzwischen hat sich in der Branche eine Zwei-Klassengesellschaft entwickelt. Viele große Paketdienste haben Tarifverträge, die halbwegs akzeptable Konditionen bieten. Allerdings hat Postchef Frank Appel gerade angekündigt, dass neu Eingestellte künftig mit niedrigeren Löhnen rechnen müssen. Zugleich lagern die Konzerne einen großen Teil ihrer Aufträge aus. Daraus entsteht ein System von Sub-Sub-Unternehmen. Am Ende der Kette stehen Zusteller, die als Selbstständige arbeiten und mit Privatwagen die Pakete ausfahren. Als Lohn bleiben dann nach Recherchen des WDR  nicht selten gerade einmal 1000 Euro brutto im Monat übrig. Diese „Selbstständigen“ müssen dann ihren Verdienst mit Hartz IV aufstocken, um über die Runden zu kommen« (vgl. Frank-Thomas Wenzel: „Sklavenähnliche“ Arbeitsbedingungen).

Wie bekannt, jede Medaille hat zwei Seiten und die eine kann manchmal ganz schön hässlich sein.

Ein großer Autokonzern zeigt sich „sehr verwundert“ über ein Urteil. Das ist verständlich: Das Landesarbeitsgericht Stuttgart rügt Scheinwerkvertrag bei Daimler

Immer wieder diese Werkverträge. Und immer wieder Daimler. Ausgerechnet dieser Weltkonzern wurde in einer SWR-Reportage (Hungerlohn am Fließband – Wie Tarife ausgehebelt werden), die im ARD-Fernsehen zur besten Sendezeit (und kurz vor der Präsentation der neuen S-Klasse) im Mai 2013 ausgestrahlt wurde, damit konfrontiert, dass Werkverträge zum Lohndumping eingesetzt wurden. Daimler hat gegen die Berichterstattung im Fernsehen alle juristischen Register gezogen und wollte dem SWR untersagen lassen, den Beitrag erneut auszustrahlen (vgl. dazu auch den Blog-Beitrag Der Premiumhersteller mag das nicht. Also zerrt man kritische Berichterstattung vor das Gericht. Eigentlich aber geht es um eine Systemfrage, die sich um Werkverträge dreht). Damit hat das Unternehmen allerdings vor dem Stuttgarter Landgericht Schiffbruch erlitten (Daimler unterliegt SWR). Und jetzt ein neuer, diesmal äußerst schmerzhafter Schlag seitens der Rechtsprechung. Und wenn man sich die Fallkonstellation anschaut, dann wird verständlich, warum Daimler „sehr verwundert“ ist über die neue Entscheidung – und warum das bei vielen anderen Unternehmen für große Unruhe sorgen wird.

Zum Sachverhalt: Ein Ingenieur hat in zweiter Instanz einen Rechtsstreit mit der Daimler-Bustochter Evobus gewonnen, berichtet die Stuttgarter Zeitung in ihrem Artikel Gericht rügt Scheinwerkvertrag bei Daimler. Genauer:

»Das Landesarbeitsgericht Stuttgart gab einem Entwicklungsingenieur recht, der nach Angaben des Gerichts seit Mai 2011 durchgehend in derselben Abteilung auf demselben Arbeitsplatz am Standort Mannheim des Busherstellers Evobus eingesetzt war – allerdings nacheinander von drei Firmen, die wiederum im Rahmen von Werkverträgen für die Daimler-Tochter tätig waren … Im Fall des Mannheimer Entwicklungsingenieurs urteilte das Landesarbeitsgericht, dass es sich um einen Scheinwerkvertrag handle und rechtlich ein Arbeitsvertrag des Klägers mit der Daimler-Tochter zustande gekommen war … Ein Missbrauch von Werkverträgen liegt vor, wenn die Beschäftigten voll in den Arbeitsalltag eingebunden sind. Der Entwicklungsingenieur war nach der Prüfung des Gerichts voll betrieblich eingegliedert und unterstand dem Weisungsrecht von Evobus. Dies sei auch beabsichtigt gewesen, obwohl vertraglich anders vereinbart.«

Aber der eigentlich Hammer kommt erst noch. Denn auch wenn ein Gericht auf einen Scheinwerkvertrag erkannt hatte, also auf den Tatbestand der unerlaubten Arbeitnehmerüberlassung, blieb es für den faktischen Entleiher immer dann ohne irgendwelche Konsequenzen, wenn die Werkvertragsfirma gleichzeitig über eine Erlaubnis zur Arbeitnehmerüberlassung verfügt, denn dann konnte man diese „ziehen“ und die eigentlich vorgesehenen Rechtsfolgen für das entleihende Unternehmen vermeiden (vgl. dazu auch Sell, S. (2013): Lohndumping durch Werk- und Dienstverträge? Problemanalyse und Lösungsansätze. Remagener Beiträge zur Sozialpolitik 13-2013. Remagen, 2013). Der Arbeitsrechtler Peter Schüren hat das mal als „Reservefallschirm“ bezeichnet, mit dem man die eigentlich im Gesetz vorgesehene Sanktionierung des von all dem profitierenden entleihenden Unternehmens umgehen kann.

Und darauf haben sich auch die Anwälte bezogen, die das Daimler-Tochterunternehmen Evobus vertreten: »Auch im vorliegenden Fall argumentierten die Evobus-Anwälte laut Gericht, dass der Ingenieur von den Auftragnehmern als Leiharbeiter eingesetzt werden konnte.« Aber offensichtlich haben die Anwälte und das Unternehmen nicht damit gerechnet, dass dem Landesarbeitsgericht der Kragen platzen könnte, was aber eingetreten ist:

»Das Landesarbeitsgericht ist nun jedoch von der gängigen Rechtsprechung abgewichen und wies darauf hin, dass eine Leiharbeit weder aus dem Arbeitsvertrag des Ingenieurs noch aus den Werkverträgen ersichtlich gewesen sei. Das Gericht rügt, dass sowohl Evobus als auch der Auftragnehmer gerade bewusst den Sozialschutz des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes verhindern wollten. Das Gesetz verlangt unter anderem, dass Leiharbeiter nur vorübergehend eingesetzt werden dürfen, um etwa Auftragsspitzen zu bewältigen.«

Das sitzt und muss erst einmal verdaut werden.

Die große Koalition plant – so ist es jedenfalls im Koalitionsvertrag vereinbart – etwas gegen den Missbrauch von Werkverträgen zu unternehmen. Die Gesetzgebung sei für das nächste Jahr vorgesehen, sagte ein Sprecher des Bundesarbeitsministeriums auf Anfrage. Aber Frau Nahles kann sich sicher inspirieren lassen, von den seit längerem vorliegenden Reformvorschlägen wie auch von dem konkreten Urteil des Landesarbeitsgerichts Stuttgart. Hoffentlich wird das auch bald mit Leben gefüllt. So ein „nächstes Jahr“ kann ganz schön lange dauern.

Übrigens: Wer sich für die Reportage „Hungerlohn am Fließband – Wie Tarife ausgehebelt werden“, die im vergangenen Jahr im ARD-Fernsehen ausgestrahlt wurde, interessiert, der kann sich die hier anschauen. YouTube sei Dank: