Diesseits und jenseits des „Muttertages“. Von glücklichen Müttern und armen Kindern

Seien wir ehrlich – viele Menschen werden versucht sein, den heutigen „Muttertag“ als ein Hochamt zugunsten der notleidenden Blumenhändler zu charakterisieren bzw. abzuwerten. Und es fehlt natürlich auch nicht an kritischen Einwürfen, die in ihrer Extremvariante auf eine Instrumentalisierung dieses „Feiertages“ im Nationalsozialismus meinen hinweisen zu müssen bzw. zumindest darauf aufmerksam machen, dass es scheinheilig sei, an einem Tag des Jahres die Mütter mit ihrem Tun vor allem im Bereich der unbezahlten Arbeit in den Familien zu würdigen und an den Verhältnissen ansonsten nichts zu ändern. Aber so einfach ist es eben nicht, wenn man einen kurzen Moment innehält und zurückblickt in die Entstehungsgeschichte dessen, was heute mehr oder weniger gelungen in vielen Familien inszeniert wird – zugleich wieder einmal ein Lehrbuchbeispiel, was im Laufe der Zeit aus einer ursprünglichen Absicht so werden kann.

Der Muttertag hat seinen Ursprung nicht in den Untiefen der nationalsozialistischen Mutterideologie und auch nicht in den Blumenläden auf der Suche nach neuen Absatzkanälen – sondern in der amerikanischen Frauenbewegung. Ann Maria Reeves Jarvis (1832-1905) versuchte im Jahr 1865, eine Mütterbewegung namens Mothers Friendships Day zu gründen und sie organisierte Mothers Day Meetings, wo sich die Frauen austauschen konnten. Als Begründerin des heutigen Muttertags gilt jedoch Anna Marie Jarvis (1864-1948), die Tochter von Ann Maria Reeves Jarvis. In ihrem 2008 veröffentlichten Beitrag Die Muttertagsmaschinerie schreibt Sandra Kegel zu dieser Frau (und ihrer Mutter):

»Begonnen hat alles mit dem Einsatz der unverheirateten und kinderlosen Lehrerin, die im Hause ihrer Eltern lebt, für die Rechte der Frauen, die ihrer Ansicht nach unterdrückt werden, etwa, weil sie nicht wählen dürfen. Unterstützt wird Anna Jarvis von ihrer Mutter Ann, die ebenfalls politisch aktiv ist und im Jahr 1858 die Vereinigung „Mother’s Work Days“ gründet, um gegen hohe Kindersterblichkeit und für bessere sanitäre Anlagen zu kämpfen. Während des amerikanischen Bürgerkriegs mobilisiert sie Geschlechtsgenossinnen und kümmert sich mit ihnen um die Verwundeten auf beiden Seiten sowie um die Annäherung der verfeindeten Lager.«

Frauen- und Friedensbewegung. Das sind also die Quellen dessen, was wir heute als „Muttertag“ besprechen. Und wichtig in diesem Entstehungskontext: »Was ihr vorschwebt, ist nicht die Würdigung eines Mutterbilds von edler Einfalt, stiller Größe und nimmermüder Opferbereitschaft. Der Tochter eines Methodistenpfarrers ist es um die soziale und politische Rolle von Frauen in der Gesellschaft zu tun«, so Kegel in ihrem Artikel. Aus diesem Impuls entwickelte sich eine Bewegung, die dazu geführt hat, dass 1914 der „Muttertag“ erstmals als offizieller Feiertag in den USA begangen werden konnte. Und jetzt passierte, was man in vielen anderen Beispielfällen auch immer wieder erleben muss – das kapitalistische System zeichnet sich aus durch eine unglaubliche Kapazität der „Landnahme“ solcher Dinge, die ursprünglich eine ganz andere Intention verfolgen wollten als denn die Steigerung der Absatzzahlen irgendwelcher „Merchandising“-Produkte in diesem Fall rund um einen Feiertag. Aber die Kommerzialisierung des „Muttertages“ war unaufhaltsam – und sie bzw. die kommerziellen Potenziale waren der Auslöser für die Übernahme in Deutschland.

Der eine oder die andere meint, das sei jetzt wieder eine dieser kritischen Übertreibungen? Also gut, schauen wir genauer hin, wie das in Deutschland gelaufen ist:

Sandra Kegel klärt uns auf: »In Deutschland ist es ein gewisser Rudolf Knauer, der 1922, als er aus Amerika von der Idee erfährt, begeistert mit Vortragsreisen durchs Land zieht und für eine solche Feier zu Ehren „der stillen Heldinnen unseres Volkes“ wirbt. Knauer aber handelt nicht als treusorgender Ehemann und Sohn, sondern als Beauftragter des Verbands Deutscher Blumengeschäftsinhaber, dessen Vorsitzender er 1923 wird – in jenem Jahr also, in dem die Inflation in Deutschland ihren Höhepunkt erreicht.« Da sind sie also schon, die Blumenhändler. Und die haben damals ein veritables Fallbeispiel für höchst modern daherkommende PR-Arbeit geliefert:

»Knauer wendet für seine Blumenoffensive geschickt eine PR-Strategie an, die man heute social marketing nennen würde: In der Verbandszeitung fordert er die Blumenhändler auf, „irgendeine gemeinnützige Gesellschaft“ als „neutrale Stelle“ zu finden, um den Muttertag aus Amerika zu importieren: „Ein zu starkes Hervortreten der Blumengeschäftsinhaber in Deutschland wäre einer baldigen Einführung nicht zum Vorteil“, warnt der Blumenlobbyist. Die „neutrale Stelle“ ist im Jahr 1925 gefunden: Die „Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundung“ – ein Dachverband konservativ bis völkisch orientierter Vereine, in dem sich Alkoholgegner ebenso organisieren wie der Reichsbund der Kinderreichen, die kirchlichen Frauenverbände und Sittlichkeitsvereine „zur Bekämpfung von Schmutz und Schund“ – nimmt das Ansinnen Rudolf Knauers nur zu gern auf. Denn dieses Umfeld sieht die Mutterschaft als wahre Berufung der Frau und geißelt weibliche Berufstätigkeit, genauso wie die immer populärer werdende Emanzipationsbewegung.«

Man ahnt schon, was jetzt kommen muss: Bereits 1933 wurde der Muttertag von den Nationalsozialisten zum öffentlichen Feiertag erklärt und erstmals am 3. Maisonntag 1934 als „Gedenk- und Ehrentag der deutschen Mütter“ verankert. Anfang der fünfziger Jahre wird der Muttertag wiederbelebt, allerdings nur in der Bundesrepublik; die DDR, wo er als westlich-reaktionär verschrien ist, ersetzt ihn durch den „Internationalen Frauentag“ am 8. März. Und schon ist alles wohlbeordnet in den ideologischen Welten einsortiert.

Eine immer wieder vorgetragene Kritik am Muttertag bezieht sich auf die dadurch – ob bewusst oder unbewusst – transportierte Stabilisierung der unentgeltlichen Haushalts-, Erziehungs- und Pflegearbeit  im Sinne einer asymmetrischen Verteilung zwischen den Geschlechtern. Das wurde bereits im vergangenen Jahr in dem Blog-Beitrag Vom (eigentlich frauenbewegten) „Muttertag“ diesseits und jenseits des Blumenhandels bis hin zu einem (vergifteten) Lobgesang auf die unbezahlte Hausarbeit aufgegriffen und beleuchtet.

In diesem Jahr soll es um zwei etwas anders gelagerte Aspekte gehen, die anschlussfähig sind an den „Mutter“-Begriff: Zum einen die Frage, ob denn „die“ Mütter in Deutschland glücklich sind und zum anderen die Tatsache, dass bei allen Unterschieden Mütter eines gemeinsam haben: Sie haben Kinder. Und ein Teil ihrer Kinder wird sozialpolitisch hoch relevant in diesen Tagen erneut thematisiert unter dem Dach der „Kinderarmut“ und der ungleichen Chancen zwischen den Kindern in unserer Gesellschaft.

Aber fangen wir mit dem „Glück“ an. Wobei das zugegebenermaßen noch schwieriger daherkommt als die Bestimmung von „Armut“, über die bekanntlich gerade derzeit wieder einmal heftig gestritten wird.
Norwegen ist das beste Land für Mütter – Deutschland auf Platz acht. So eine der Überschriften von Artikeln, in denen über eine neue Studie berichtet wird. Das Ranking ist das Ergebnis der diesjährigen internationalen Vergleichsstudie, die die Kinderschutzorganisation Save the Children in New York veröffentlicht hat. Für ihren 16. jährlichen Mütter-Index untersuchte die Hilfsorganisation 179 Länder. Deutschland gehört demnach zu den Top Ten und belegt Platz acht. Also dürfen wir uns freuen. Bevor man jetzt aber eine Falsche aufmacht, werfen wir noch einen Blick auf die Kriterien, mit denen die Organisation versucht zu messen, was „glückliche Mütter“ ausmacht. Dafür verwendet Save the Children fünf Kriterien:

Müttersterblichkeit, die Sterblichkeit bei unter fünfjährigen Kindern, die durchschnittliche Dauer der Ausbildung, Pro-Kopf-Einkommen und die Beteiligung von Frauen an der Regierung.

Nicht nur der eine oder andere Leser wird an dieser Stelle skeptisch den Blick auf den Aussagegehalt solcher Kriterien für den Glückszustand der Mütter richten. Ohne das hier wirklich vertiefen zu können: Bereits eine Annäherung an den Glücksbegriff auf Wikipedia-Nievau muss zahlreiche Fragezeichen generieren:

»Das Wort „Glück“ kommt von mittelniederdeutsch gelucke/lucke (ab 12. Jahrhundert) bzw. mittelhochdeutsch gelücke/lücke. Es bedeutete „Art, wie etwas endet/gut ausgeht“. Glück war demnach der günstige Ausgang eines Ereignisses. Voraussetzung für den „Beglückten“ waren weder ein bestimmtes Talent noch auch nur eigenes Zutun. Dagegen behauptet der Volksmund eine mindestens anteilige Verantwortung des Einzelnen für die Erlangung von Lebensglück in dem Ausspruch: „Jeder ist seines Glückes Schmied“. Die Fähigkeit zum Glücklichsein hängt in diesem Sinne außer von äußeren Umständen auch von individuellen Einstellungen und von der Selbstbejahung in einer gegebenen Situation ab.«

Wer es hier wissenschaftlich fundierter braucht, dem seien nur beispielhaft die Beiträge zur Glücksforschung des Ökonomen Karl-Heinz Ruckriegel empfohlen, der sich seit Jahren und intensiv damit beschäftigt.

Wie schwierig das mit „dem“ Glück „der“ Mütter ist, kann man an einer aktuellen und überaus kontroversen Debatte aufzeigen, die sich an einer neuen Studie entzündet hat. »Anfang April veröffentlichte die israelische Wissenschaftlerin Orna Donath eine Studie, in der 23 Mütter öffentlich ihren Kinderwunsch bereuten. Vor allem in Deutschland entwickelte sich eine hitzige Debatte. Zahlreiche Medien berichteten darüber, unter dem Hashtag „RegrettingMotherhood“ diskutierten Männer und Frauen in sozialen Netzwerken«, so der Einstieg in das informative Tageschau-Dossier Alles gut zum Muttertag? Mutterschaft im Wandel von Anna-Mareike Krause und Michael Stürzenhofecker.

»Eine junge israelische Wissenschaftlerin veröffentlicht eine Studie in einer amerikanischen Fachzeitschrift für Geschlechterwissenschaft – und das deutsche Internet explodiert. Wie kann das sein? Nun, es ging um Mütter«, so die lapidare und auf die besondere Überhöhung des Mütter-Begriffs gerade in Deutschland abstellende Zusammenfassung in dem Artikel Mütter, die wie Männer denken von Anna Sauerbrey. Sie verweist auf einen interessanten Punkt: »An Frauen, die wie Männer denken, fühlen und handeln, hat sich die Gesellschaft gewöhnt. An Mütter, die wie Männer denken, fühlen und handeln, nicht.« Das Thema hat seine medialen Kreise gezogen – neben vielen Zeitungsartikeln wurde es auch in Radiobeiträgen aufgegriffen. Vgl. hierfür nur stellvertretend die Sendung Ich bereue – Vom Glück und Elend der Mütter des Hessischen Rundfunks.
Warum wird das hier aufgerufen? Um an diesem einen Beispiel zu zeigen, dass man äußerst behutsam mit Begriffen wir „Glück“ umgehen sollte. Es eignet sich nicht wirklich für eine gesellschaftspolitische Thematisierung von so komplexen und zugleich normativ enorm aufgeladenen Tatbeständen wie dem Geschlechterverhältnis oder dem Selbstverständnis von dem, was als „Mutterrolle“ verstanden wird, wobei sich das bereits zwischen zwei benachbarten Gesellschaften wie Deutschland und Frankreich erheblich unterscheiden kann (vgl. dazu und mit Blick auf weitere Länder den Artikel mit der leider sehr euphemistischen Überschrift Glückliche Mütter – was andere Länder besser machen).

Also rufen wir den zweiten Aspekt auf und der kommt leider weitaus handfester und bedrängender daher als die Frage nach dem „Glück“ der Mütter. Es geht um die Kinder bzw. um einen Teil von ihnen. Also denjenigen, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens gelandet sind, sondern auf der anderen Seite. Die in Armut leben (müssen).

Armutsgefährdete Kinder sind materiell unterversorgt und sozial benachteiligt – unter dieser erst einmal leider nicht wirklich überraschend daherkommenden Diagnose hat die Bertelsmann-Stiftung auf zwei neue Studien hingewiesen, die von ihr in Auftrag gegeben wurden: »Jedes fünfte Kind in Deutschland gilt als armutsgefährdet. Verzicht und ein Mangel an gesellschaftlicher Teilhabe sind die Folgen. Doch die staatliche Unterstützung für Familien in prekären Lebenslagen orientiert sich zu wenig an den Bedarfen der Kinder. Zu diesen Ergebnissen kommen zwei Studien der Bertelsmann Stiftung.«

»In der Bundesrepublik wachsen 2,1 Millionen unter 15-Jährige in Familien auf, deren Einkommen unter der Armutsgefährdungsgrenze liegt. Eine repräsentative Befragung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) verdeutlicht, was Armut für den Alltag der Kinder bedeutet: Er ist geprägt von Verzicht und einem Mangel an Teilhabe. Für eine zweite Untersuchung haben Armutsforscherinnen der Universität Frankfurt vertiefende Interviews mit Eltern und Fachkräften geführt. Demnach kann das staatliche Unterstützungssystem Armut nur unzureichend auffangen.«

Die beiden Studien – die man nicht frei zugänglich abrufen kann, sondern als Buchpublikationen bestellen müsste – werden von der Stiftung so zusammengefasst:

»Das IAB hat den Lebensstandard von Kindern aus SGB-II-Haushalten untersucht und mit der Situation von Kindern in gesicherten Einkommensverhältnissen verglichen. Während im Bereich der elementaren Grundversorgung nur geringe Benachteiligungen vorliegen, zeigen sich in anderen Bereichen deutlichere Unterschiede: 20 Prozent der Kinder im Grundsicherungsbezug leben aus finanziellen Gründen in beengten Wohnverhältnissen – gegenüber 3,9 Prozent der Kinder, die in gesicherten Einkommensverhältnissen aufwachsen (Übrige). Drei von vier Kinder, deren Eltern SGB-II-Leistungen erhalten, können keinen Urlaub von mindestens einer Woche machen (Übrige: 21 Prozent), 14 Prozent leben in Haushalten ohne Internet (Übrige: 1 Prozent), 38 Prozent in Haushalten ohne Auto (Übrige: 1,6 Prozent) und knapp einem Drittel ist es aus finanziellen Gründen nicht möglich, wenigstens einmal im Monat Freunde zum Essen nach Hause einzuladen (Übrige: 3,3 Prozent). Bei jedem zehnten Kind mit SGB-II-Bezug besitzen nicht alle Haushaltsmitglieder ausreichende Winterkleidung (Übrige: 0,7 Prozent).

Das Aufwachsen von Kindern in armutsgefährdeten Familien ist vielfach geprägt von einem Bündel an Problemen. Das zeigen Familieninterviews der Armutsforscherinnen Sabine Andresen und Danijela Galic (Universität Frankfurt). Zur chronischen Geldnot kommen oftmals Krankheiten, Trennung der Eltern, beengte Wohnverhältnisse und unsichere Schulwege hinzu. Erziehung bedeutet für die Eltern häufig Erklärung von Nein-Sagen und Verzicht. Eine große Belastung, denn auch bei einkommensschwachen Eltern sind die Kinder der Lebensmittelpunkt: Sie wünschen sich für ihre Kinder vor allem gute Bildung und sind bereit, dafür eigene Bedürfnisse zurückzustellen. Das Gefühl fehlender Selbstbestimmung führt bei einkommensschwachen Eltern oftmals zu Resignation und Erschöpfung. Auslöser ist auch Unzufriedenheit mit staatlicher Unterstützung. Eltern, die von der Grundsicherung leben, klagen über zu viele behördliche Anlaufstellen, wechselnde Ansprechpartner und bürokratische Hürden. Sie vermissen, als Familie mit spezifischen Problemlagen wahrgenommen zu werden. Die befragten Fachkräfte aus Verwaltung und Bildungseinrichtungen problematisieren ähnliche Themen und pflichten den Familien bei. Zeitmangel, bürokratische Hürden und verschiedene Zuständigkeitsbereiche erschweren passgenaue Unterstützung.«

Und was folgt daraus – zumindest für die Auftraggeberin, also die Bertelsmann-Stiftung?

»Bislang, so die Andresen/Galic-Studie, konzentriere sich die Familien- und Sozialpolitik zu stark auf die Integration von Eltern in den Arbeitsmarkt. Empfehlenswert sei die Einrichtung zentraler Anlaufstellen mit festen Ansprechpartnern, die die jeweilige Familiensituation kennen. Zugleich sollten strukturelle Veränderungen Fachkräften mehr Entscheidungsspielräume und eine passgenaue Unterstützung ermöglichen. Zudem setzt sich die Bertelsmann Stiftung dafür ein, das Existenzminimum für Kinder zu überprüfen und die staatliche Grundsicherung anzupassen.«

Übrigens – von „Glück“ wird im vorliegenden Fall nicht einmal gesprochen.

Erzieherinnen als „Müllmänner 2.0“? Der Kita-Streik stellt mehrere Systemfragen gleichzeitig

Auch wenn es übertrieben formuliert erscheint: Wir stehen vor einem historischen Moment. Weit über 90 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder von ver.di und GEW und auch denjenigen, die im Deutschen Beamtenbund organisiert sind, haben sich für einen unbefristeten Arbeitskampf ausgesprochen. Wir sprechen hier von Erzieher/innen und anderen Beschäftigten der kommunalen Kindertageseinrichtungen. Die Medienmaschinerie läuft an und produziert überall solche Meldungen: Ab Freitag bleiben viele Kitas zu: »Rund 150 Kitas werden am Freitag in Rheinland-Pfalz geschlossen bleiben. Schwerpunkte sind die Regionen Koblenz, Rheinhessen mit Mainz und die Pfalz.« Die Streiks in Rheinland-Pfalz sollen nach und nach ausgeweitet werden. Am Dienstag, dem 12. Mai, wird es einen landesweiten Streiktag geben, zu dem alle Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst bei den Kommunen aufgerufen werden. So oder ähnlich kann man es aus vielen Regionen Deutschlands hören und lesen. Der Streik ist unbefristet und kann nach Angaben der Gewerkschaften mehrere Wochen dauern. Sie fordern eine finanzielle Aufwertung der Sozial- und Erziehungsberufe unter anderem durch eine deutlich höhere Eingruppierung. Der nun anlaufende Kita-Streik ist auch deshalb von besonderer Bedeutung, weil mit ihm mehrere „Systemfragen“ verbunden sind.

Den Gewerkschaften geht es um eine deutliche Anhebung der Vergütungen für die Fachkräfte in den kommunalen Kindertageseinrichtungen, wobei das Besondere darin besteht, dass nicht eine prozentuale Erhöhung der gegebenen tariflichen Vergütung gefordert wird, sondern die Fachkräfte sollen um mehrere Stufen nach oben gehoben werden. In der Gesamtschau würde das Vergütungsniveau um 10 % ansteigen müssen, die betroffenen Kommunen bzw. ihre Spitzenverbände geben an, dass dies Mehrkosten in einer Bandbreite von 500 Mio. bis 1,2 Milliarden € zur Folge hätte.

Zur Begründung für diesen erheblichen Vergütungssprung wird vor allem auf zwei Aspekte verwiesen: Zum einen sei das Aufgabenprofil der pädagogischen Fachkräfte in den Kindertageseinrichtungen in den vergangenen Jahren erheblich ausgeweitet wie auch vom Anspruch her gesehen angehoben worden. Dies stellt vor allem auf die Tatsache ab, dass die Kindertageseinrichtungen in den vergangenen Jahren, vor allem seit der Rezeption der Pisa-Ergebnisse, zu Bildungseinrichtungen deklariert worden sind (die sie auf dem Papier schon immer waren, denn das Kinder- und Jugendhilfegesetz, also das SGB VIII, spricht seit jeher von dem frühpädagogischen Dreiklang aus Bildung-Betreuung und Erziehung). Aber unbestreitbar ist, dass sich seit dem vergangenen Jahrzehnt sowohl die Erwartungen der Politik an die Kindertageseinrichtungen hinsichtlich des Bildungsauftrags nach oben verschoben haben (so gibt es in allen Bundesländern so genannte Bildungspläne bzw. Bildungsempfehlungen für die Kitas), wie aber auch auf Seiten eines (wachsenden) Teils der Eltern, die sehr viel Wert legen auf die Bildungselemente in der frühpädagogischen Arbeit. Diese Entwicklung korrespondiert mit einer intensiven Auseinandersetzung über die Bedeutung der ersten Lebensjahre vor dem Schuleintritt für die weitere Bildungslaufbahn der Kinder und in jeder Sonntagsrede zu diesem Thema wird das besonders hervorgehoben.

Hinzukommt unbestreitbar eine erhebliche Veränderung der Belastungsprofile der Arbeit der pädagogischen Fachkräfte in den Kindertageseinrichtungen. Dies zum einen dadurch, dass in den vergangenen Jahren, vor allem in Westdeutschland, immer mehr jüngere Kinder in die Kindertageseinrichtungen aufgenommen werden (müssen), die ganz andere Anforderungen an die Arbeit der Fachkräfte stellen hinsichtlich der Betreuungsintensität wie auch der Bildungsaufgaben, die dieser Altersgruppe angemessen sind. Hinzu kommt eine deutliche Zunahme der Ganztägigkeit, also immer mehr Kinder, die anders als früher nicht nur vier oder fünf Stunden in der Einrichtung verbleiben, sondern teilweise sieben Stunden oder noch länger.

Vor diesem Hintergrund wird derzeit argumentiert, dass das Niveau der Vergütung der pädagogischen Fachkräfte in den Kindertageseinrichtungen, das tatsächlich im Vergleich über alle Bildungsstufen derzeit am niedrigsten ist, eigentlich auf das Niveau der Grundschullehrer angehoben werden müsste. An dieser Stelle ist eine erste „Systemfrage“ zu diagnostizieren: Eine Umsetzung dieser Forderung würde unweigerlich zu einem Konflikt innerhalb der bestehenden Hierarchie der gegebenen Ausbildungssysteme führen, denn die Kritiker dieser Forderung verweisen sofort darauf, dass die – sicherlich sehr anspruchsvolle und teilweise bis zu fünf Jahre umfassende – Ausbildung der Erzieherinnen als eine fachschulische Ausbildung nicht vergleichbar sei mit dem Studium, dass Grundschullehrer zu absolvieren haben. Die überaus ausgeprägte Hierarchie unseres Ausbildungssystems wird dann daran erkennbar, dass die im Vergleich geringere Vergütung der Grundschullehrer gegenüber den Lehrern an weiterführenden Schulen ebenfalls damit begründet wird, dass sie nicht das gleiche Studium wie beispielsweise ein Gymnasiallehrer absolviert haben. Insofern wird hier zum einen grundsätzlich die Ausbildungsfrage aufgeworfen, zum anderen bekommen wir hier ein wenig Licht in das „Schattendasein“ der fachschulischen Ausbildung in Deutschland, die neben der üblicherweise im Mittelpunkt der Diskussion stehenden „dualen Ausbildung“ sowie der an Hochschulen steht. Die fachschulische Berufsausbildung, zu der beispielsweise auch die meisten Gesundheitsberufe gehören, ist eine Domäne der Frauen.
Insofern wird hier auch als eine weitere „Systemfrage“ die Diskussion über den Stellenwert und die Ausgestaltung „typischer“ Frauenberufe aufgeworfen.

Aber damit noch lange nicht genug. Der nun anlaufende unbefristete Kita-Streik wirft zugleich eine fundamentale „Systemfrage“ auf, die sich zugleich als zentrale „Achillesferse“ des Kita-Streiks erweisen könnte, wenn man sie nicht mitdenkt bzw. parallel adressiert: die Finanzierungsfrage der – teilweise völlig unterschiedlich ausgestalteten – Kita-Finanzierungssysteme in den Bundesländern.

Vereinfachend und zuspitzend formuliert: Die derzeit bestehenden Finanzierungssysteme der Kindertageseinrichtungen in den einzelnen Bundesländern weisen trotz aller Unterschiede Zwei zentrale Schwachstellen auf. Zum einen müssen wir von einer erheblichen Unterfinanzierung des Kita-Systems ausgehen. Schon vor vielen Jahren hat die Wirtschaftsorganisation OECD als Soll-Vorgabe für eine ausreichende finanzielle Ausstattung des Elementarbereichs einen Wert in Höhe von einem Prozent des Bruttoinlandsproduktes der jeweiligen Volkswirtschaft vorgegeben, in Deutschland kommen wir derzeit auf etwa 0,6 %. Dabei handelt es sich keineswegs um eine „Wünsch dir was“-Größe, sondern skandinavische Länder erreichen diese Größenordnung und auch unser Nachbarland Frankreich kommt in die Nähe dieses Werts. Anders ausgedrückt: In Deutschland müssten mehrere Milliarden Euro zusätzlich zu den bereits getätigten Ausgaben aufgewendet werden, um nach diesen Maßstäben eine angemessene Finanzausstattung erreichen zu können.

Neben der Unterfinanzierung von besonderer Bedeutung gerade auch mit Blick auf den nun anlaufenden großen Kita-Streik ist die eklatante Fehlfinanzierung des Systems der Kindertagesbetreuung in Deutschland.  Diese Finanzierung lässt sich vereinfachend so beschreiben: Über alle Bundesländer hinweg tragen die Kommunen mindestens 60 % der Kosten der Kindertagesbetreuung. Betrachtet man nun auf der anderen Seite die monetär bezifferbaren Nutzen aus der Kindertagesbetreuung, vor allem in Form der Steuern und Sozialversicherungsbeiträge, die nicht nur von den Beschäftigten im Kita-System generiert werden, sondern vor allem aufgrund der Tatsache, dass die Eltern, vor allem die Mütter, durch die Bereitstellung dieser Infrastruktur überhaupt erst in die Lage versetzt werden, einer Teilzeit- oder gar Vollzeitbeschäftigung nachgehen zu können, aus der wiederum Steuern und Sozialversicherungsbeiträge generiert werden,  dann wird man zu dem Ergebnis kommen müssen, dass die Hauptnutznießer auf der Ebene des Bundes und vor allem der Sozialversicherungen zu verrotten sind. Würde man nun ein rationales Finanzierungskonzept zugrundelegen, dann müssten diese Hauptnutznießer auch entsprechend an der Regelfinanzierung der Kindertageseinrichtungen (sowie der Kindertagespflege, die in der Diskussion oftmals vergessen wird) beteiligt werden. Das ist heute aber keineswegs der Fall, der Bund ist erst seit einigen Jahren an der Finanzierung vor allem des Ausbaus der Betreuungsangebote für die unter dreijährigen Kinder beteiligt. Die Sozialversicherungen überhaupt nicht. Seit Jahren wird vor diesem Hintergrund eine regelgebundene anteilige Finanzierung der Betriebskosten der Kindertageseinrichtungen (sowie der Ausgaben für die Kindertagespflege) seitens des Bundes gefordert. Entsprechende Modelle, wie man das umsetzen kann, beispielsweise in Form eines Kita-Fonds  sind in den vergangenen Jahren ausgearbeitet worden. Es fehlt schlichtweg der politische Wille, diesen Ansatz umzusetzen.

Vor dem Hintergrund der Forderung der Gewerkschaften und der Lage vieler Kommunen in Deutschland, die sich beispielsweise unter der Haushaltssicherung befinden und mit einer enormen Verschuldung konfrontiert sind, wird schnell erkennbar, das die zentralen und durchaus berechtigten Forderungen der Gewerkschaften, die Vergütungen deutlich anzuheben, in diesem Bereich nur dann wirklich eine Chance auf Umsetzung gekommen werden, wenn die Finanzierungsfrage im Sinne einer Entlastung der Kommunen gelöst wird.

Eine weitere „Systemfrage“ berührt die Gewerkschaften und ihre Strategie als solches. Die älteren Semester werden sich an die 70er und teilweise 80er Jahre erinnern, in denen die damalige Gewerkschaft ÖTV bei Tarifauseinandersetzungen gerne auf die berühmten Müllmänner zurückgegriffen hat, wenn es um die Demonstration der möglichen bzw. tatsächlichen Folgen eines Arbeitskampfes im öffentlichen Dienst ging. Die Nachfolgegewerkschaft Verdi steht heute vor dem Problem, dass die meisten Müllmänner privatisiert worden sind und als Speerspitze eines Arbeitskampfes im öffentlichen Dienst schlichtweg nicht mehr zur Verfügung stehen (können). Es gibt durchaus Strategen im Gewerkschaftslager, die den Erzieherinnen in den Kindertageseinrichtungen angesichts ihrer enorm gewachsenen Bedeutung im gesellschaftlichen Gefüge unseres Landes eine vergleichbare Funktionalität zu schreiben, wie sie früher die Müllmänner im öffentlichen Dienst eingenommen hatten. Die konnten durch einen Arbeitskampf innerhalb einer sehr überschaubaren Frist weite Teile der Bevölkerung empfindlich treffen und damit einen entsprechenden Druck aufbauen, dass die öffentlichen Arbeitgeber in einer Tarifauseinandersetzung einlenken. Es ist ja nicht von der Hand zu weisen, dass man angesichts der die enormen Bedeutung, die die Kindertagesbetreuung heute angesichts der gestiegenen Erwerbstätigkeit der Mütter in unserer Gesellschaft hat, davon ausgehen kann und muss, das Streikaktionen in diesem Bereich zu empfindlichen Einschränkungen führen können und müssen. Vor diesem Hintergrund kann es durchaus Sinn machen, perspektivisch die Erzieherinnen gleichsam zu einer Speerspitze zukünftiger Arbeitskämpfe zu machen, also gleichsam zu „Müllmänner 2.0“.

Auf der anderen Seite kann und darf man nicht übersehen, dass wir gerade in diesem Bereich nicht nur aus gewerkschaftlicher Sicht mit zahlreichen Besonderheiten konfrontiert sind: Zum einen gibt es nicht „die“ Gewerkschaft, die in diesem Bereich alleine für die Interessen der Beschäftigten kämpft, sondern mit Verdi und der GEW zwei DGB-Gewerkschaften und auch der Deutsche Beamtenbund mischt teilweise mit seinen Mitgliedern mit., vor allem hinsichtlich des Verhältnisses zwischen den beiden DGB-Gewerkschaften Verdi und GEW. Hinzu kommt eine weitere Besonderheit, die auch in den vor uns liegenden Tagen deutlich erkennbar werden wird: Viele Bürger werden aus ihrer Perspektive mehr oder weniger erstaunt zur Kenntnis nehmen, dass eben nicht „die“ Kitas streiken bzw. gestreikt werden, sondern nur ein Teil der kommunalen Kitas. Man wird dann ebenfalls zur Kenntnis nehmen müssen, dass die Mehrheit der Kindertageseinrichtungen nicht in kommunaler Trägerschaft betrieben werden, sondern von den so genannten freien Trägern, insbesondere handelt es sich hierbei um konfessionell gebundene Einrichtungen der evangelischen und der katholischen Kirche. In diesen Einrichtungen arbeitet die Mehrzahl der Erzieherinnen, die haben aber aufgrund der Sonderrechte der Kirchen kein Streikrecht. Sie werden in der nun anlaufenden großen Auseinandersetzung lediglich als Zaungäste die Entwicklung begleiten und beobachten können.

Darüber hinaus den Blick wieder gerichtet auf die nun vor einem unbefristeten Streik stehenden Erzieherinnen in den kommunalen Kindertageseinrichtungen: Es handelt sich im wahrsten Sinne des Wortes um ein „Experiment“, denn so eine Arbeitskampfmaßnahme hat es in der bisherigen Geschichte im Bereich der pädagogischen Fachkräfte von Kindertageseinrichtungen noch nicht gegeben. Im Jahr 2009 gab es bereits über einen längeren Zeitraum zahlreiche Warnstreikaktionen in Kindertageseinrichtungen, die allerdings begrenzt waren auf in der Regel ein bis zwei Tage. Es wird spannend sein, zu verfolgen, wie die Erzieherinnen auf einen längeren Ausstand reagieren werden, vor allem dann, wenn nach ein bis zwei Tagen die am Anfang sicher vorhandene breite Sympathie vor allem bei den Eltern einer heftigen Kritik an den Streikaktionen weichen wird. Es gibt zahlreiche Skeptiker, die befürchten, dass die Erzieherinnen gerade aufgrund ihrer hohen intrinsischen Motivation erhebliche Probleme haben werden, einen längeren Arbeitskampf auch durchzuhalten. Dem wird entgegengehalten, dass es in den vergangenen Jahren eine erhebliche Politisierung vieler Erzieherinnen gegeben hat, dass also die Haltung und die Verfassung vieler betroffener Fachkräfte heute eine andere sei als noch vor ein paar Jahren und man deshalb diesen Schritt wagen könne.

Über all diese inneren Fragen den Kita-Streik betreffend weit hinausreichend ist als eine weitere „Systemfrage“ der Hinweis erlaubt, dass es bekanntlich das so genannte „Lernen am Modell“ gibt. Damit soll an dieser Stelle zum Ausdruck gebracht werden, dass wenn die Erzieherinnen erfolgreich bzw. halbwegs erfolgreich sein sollten mit ihrer unbefristeten Streikaktion, dann wird das auf andere Bereiche ausstrahlen, wo sich mittlerweile ein erheblicher und überaus nachvollziehbarer Druck aufgebaut hat: gemeint ist an dieser Stelle vor allem der ganze Bereich der Pflege, also die Pflegekräfte und ihre wachsende Unzufriedenheit angesichts der teilweise wirklich desaströsen Arbeitsbedingungen, denen sie ausgesetzt sind. Die werden sich dann in absehbarer Zeit auch der Entscheidung ausgesetzt sehen, ob sie in den großen Konflikt gehen werden bzw. wollen bzw. können.

Die demografische Entwicklung ist eine große Herausforderung. Aber sie taugt nicht wirklich als Schreckgespenst zur Rechtfertigung der sozialpolitischen Planierraupe. Wenn man ein wenig rechnet

Vor wenigen Tagen wurde die neueste Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes veröffentlicht (Statistisches Bundesamt: Bevölkerung Deutschlands bis 2060). Ein mutiges Unterfangen, im Jahr 2015 bis zum Jahr 2060 den Blick zu weiten und für diesen Zeitpunkt Zahlen zu präsentieren – wobei die Statistiker immer wieder selbst darauf hinweisen, dass es sich um keine Prognosen handelt, sondern um Vorausberechnungen auf der Grundlage ganz bestimmter Annahmen, vor allem zur Geburtenrate, der Entwicklung der Lebenserwartung sowie des Wanderungssaldos, also der Bilanzierung der Zu- und Abwanderung. Wenn die getroffenen Annahmen nicht eintreten oder sich die wirklichen Werte anders entwickeln, dann bekommen wir ganz andere Ergebnisse. Darauf und auf die kritischen Anfragen an eine Vorausschau, die einen so langen Zeitraum abzubilden versucht, gerade aus Sicht der Überprüfung dessen, was zurückliegende Vorausberechnungen in den Raum gestellt haben und was aus ihnen geworden ist, habe ich in dem Beitrag Zwischen Unausweichlichkeit und Glasperlenspiel: Vorhersagen der demografischen Entwicklung im Spannungsfeld von Notwendigkeit und scheinbarer Gewissheit vom 26.04.2015 hingewiesen. Dass wir tendenziell weniger und vor allem im Durchschnitt eine deutlich ältere Gesellschaft werden, diese beiden großen Schneisen lassen sich durchaus ableiten aus den drei grundlegenden Bestimmungsfaktoren der Bevölkerungsentwicklung und da braucht man auch nichts herumzudeuteln.

Sehr wohl aber muss man die von vielen Medien sofort und gerne aufgegriffenen Schreckensszenarien als Ableitungen aus den tatsächlich bzw. unterstellten Folgen der demografischen Entwicklung in die Mangel nehmen – denn hier wird erneut „die“ Demografie als eine quasi naturgesetzliche Begründung herangezogen für den Einsatz der sozialpolitischen Planierraupe, da man sich das bisherige einfach „nicht mehr leisten“ könne bzw. weil man die „Jungen“ ansonsten in die Knechtschaft der Alten treibt. Dass es genau zu solchen Reaktionen kommt, habe ich bereits am 28.04.2015 in dem Beitrag Leider erwartbare Folgeschäden des schnellen Konsums der neuen Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes: „Nur die Rente mit 74 kann Deutschland noch helfen“ aufgegriffen und kritisiert. Aber für viele ist die Kraft des scheinbar Faktischen sehr stark – und da reichen dann oft nur einige wenige Zahlen, mit denen man verdeutlicht, dass die Entwicklung im Desaster enden müsse. Allerdings nur, wenn man dann aufhört zu rechnen. Sollte man aber nicht.

Und genau das leistet Johannes Steffen in seinem instruktiven Beitrag Schreckgespenst Demografie. Rente mit 74 und Kündigung des Generationenvertrages?, den man sich genauer anschauen sollte. Dies aus mehreren Gründen, zum einen, weil er nicht bei den gängigen Schreckenswerten die Relation zwischen Alten und (mehr oder weniger) Jungen betreffend stehenbleibt, sondern weiter rechnet. Zum anderen, weil er in seinen Berechnungen als einer der wenigen überhaupt neben der wie selbstverständlich auch für die Zukunft fortgeschriebenen Grenze für „die Alten“ bei 65 auch mit der neuen Altersgrenze von 67 rechnet, man muss an dieser Stelle darauf hinweisen, dass die Anhebung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre keineswegs abgeschafft ist, sondern Schritt für Schritt scharf gestellt und voll für den Geburtsjahrgang 1964 – nicht zufälligerweise der geburtenstärkste Jahrgang in Deutschland – gelten wird.

Johannes Steffen hat sich nun die neuen Zahlen der 13. Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes angeschaut und mal konsequent weitergerechnet, er ist also nicht bei dem ersten Rechenschritt stehen geblieben, den man in vielen Artikeln noch finden kann Mit Blick auf das Zieljahr 2060 führt er am Anfang aus:

»Der Bevölkerungsrückgang geht einher mit einer Verschiebung des Altersaufbaus: Die Anzahl junger Menschen unter 20 Jahren sinkt von 14,7 Millionen auf nur noch 10,9 Millionen, die der Älteren ab 65 Jahren [ab 67 Jahren] aufwärts steigt von 16,8 [15,1] Millionen auf 22,3 [20,6] Millionen. Und schließlich sinkt die Anzahl der Personen im mittleren Alter von 20 bis unter 65 [67] Jahren von 49,3 [51,0] Millionen auf 34,3 [36,1] Millionen.«

An dieser Stelle kommt dann der sogenannte „Altenquotient“ zum Vorschein, auf den sich so viele immer gerne beziehen: Der „Altenquotient“ ist das zahlenmäßige Verhältnis der Älteren ab 65 [67] Jahren zu den Menschen im Alter von 20 bis unter 65 [67] Jahren.  Er steigt von von 34 [30] im Jahr 2013 auf 65 [57] im Jahr 2060. In anderen Worten:

»Während heute auf 100 Personen im mittleren Alter 34 [30] Personen im Alter von 65 [67] Jahren und mehr entfallen, verschlechtert sich diese Relation bis 2060 auf 100 zu 65 [57]. Das entspricht einer Steigerung des »Altenquotienten« um 90 [92] Prozent.«

Wie sollen das die arbeitenden Jahrgänge stemmen? Eine Verschlechterung des „Altenquotienten“ um 90 Prozent in den vor uns liegenden Jahren – da ist es doch mehr als offensichtlich, dass die mittlere Generation das nicht mehr schultern kann. Folglich konnte man sofort die Stimmen wieder hören, die eine weitere Anhebung des Renteneintrittsalter fordern, beispielsweise auf die besagten 74 Jahre (vgl. dazu nur als ein Beispiel den Artikel Nur die Rente mit 74 kann Deutschland noch helfen von Tobias Kaiser).

Aber man darf an dieser Stelle nicht stehen bleiben – und die Argumentation von Johannes Steffen geht so:
Von der mittleren Altersgruppe müssen nicht nur die Älteren, sondern auch die Jüngeren ökonomisch geschultert werden (nicht umsonst gab es ja mal den Begriff des „Drei-Generationen-Vertrags“). Also müssen wir einen Blick werfen auf den „Jugendquotienten„, der definiert ist als das Verhältnis der unter 20jährigen Menschen zu denen in der Altersgruppe 20 bis 65 [67]. Und hier muss man feststellen, sollte die Bevölkerungsvorausberechnung stimmen, dass sich auch der »Jugendquotient« leicht von 30 [29] Prozent auf 32 [30] Prozent erhöht.

An dieser Stelle bildet Steffen den ersten „Gesamtquotient (A)„, also die Summe der Altersgruppe unter 20 Jahren und der ab 65 [67] Jahren im Verhältnis zur mittleren Altersgruppe.
Dieser Gesamtquotient (A) steigt von heute 64 [59] auf 97 [87] im Jahr 2060 an. Und die guten Kopfrechner werden sofort erkennen: Der ursprüngliche Zuwachs von 90 Prozent beim Altenquotienten hat sich damit auf 51 [49] Prozent fast halbiert.

Aber Steffen hört an dieser Stelle nicht auf und argumentiert weiter: Die mittlere Altersgruppe muss nicht nur die Jüngeren und die Älteren »tragen«, sondern selbstverständlich auch sich selbst. Vor dem Hintergrund dieses Zusammenhangs bildet er den „Gesamtquotient (B)„, der das zahlenmäßige Verhältnis der Gesamtbevölkerung zur Bevölkerung mittleren Alters abbildet. Und wie sehen hier die Werte aus? Der „Gesamtquotient (B)“ steigt von 164 [159] auf 197 [187] oder um nur noch 20 [18] Prozent. »Der rechnerische Anstieg schrumpft noch einmal um mehr als die Hälfte«, so Steffen.

Aber wir sind noch nicht am Ende. Völlig zu Recht notiert Steffen:
»Schließlich sind nicht alle Personen im erwerbsfähigen Alter auch tatsächlich erwerbstätig. Ökonomisch entscheidender ist daher der „Gesamtquotient (C)“ – das zahlenmäßige Verhältnis der Gesamtbevölkerung zur Anzahl der Erwerbstätigen der mittleren Altersgruppe.«
Um den zu bestimmen, muss man eine Annahme machen, wie es mit der Erwerbstätigenquote im Jahr 2060 aussehen wird bzw. könnte. Er geht davon aus, dass die Erwerbstätigenquote der mittleren Altersgruppe – also der Anteil der Erwerbstätigen an der gleichaltrigen Bevölkerung – bis 2060 um fünf Prozentpunkte ansteigen wird und begründet diese Annahme mit dem Hinweis, dass alleine von 2005 auf 2013 die Erwerbstätigenquote der mittleren Altersgruppe laut Mikrozensus um fast sieben Prozentpunkte angestiegen ist.

Wenn man so vorgeht, dann reduziert sich der Zuwachs weiter auf 13 [9] Prozent bis zum Jahr 2060.

Fazit dieses Rechenwegs: Der vermeintlich untragbare »Belastungsanstieg« von anfänglich 90 [92] Prozent (»Altenquotient«) reduziert sich am Ende auf gerade noch 13 [9] Prozent (Gesamtquotient C).

Anders formuliert und vielleicht für viele fassbarer, was das bedeutet:

»Entfielen 2013 auf jeden Erwerbstätigen der mittleren Altersgruppe (einschließlich seiner selbst) 2,0 Köpfe der Gesamtbevölkerung, so wären es im Jahr 2060 2,3 [2,2] Köpfe.«

Und auch der letzte Gedankenschritt des Johannes Steffen soll hier zitiert werden. Er geht davon aus, dass ja in den vielen Jahren bis 2060 die Produktivität der Menschen nicht stehen oder gleichsam eingefroren bleibt. In den Jahren 1992 bis 2014 lag der durchschnittliche Zuwachs der Stundenproduktivität bei 1,4 Prozent, so dass er diesen fortschreibt:

Bei einem weiteren Anstieg der Arbeitsproduktivität je Erwerbstätigenstunde von im Durchschnitt 1,4 Prozent jährlich steigt die Leistung pro Erwerbstätigen bis 2060 um fast 100 Prozent. Davon können alle Generationen gleichermaßen profitieren – sofern die Verteilung »stimmt«.

Damit wären wir natürlich bei dem entscheidenden Punkt – wenn die Verteilung stimmen würde. Aber unabhängig von den vielen sich an dieser Stelle ergebenden Fragen kann man eines ganz gewiss sagen: Die Demografie kann nicht dazu instrumentalisiert werden, eine Zwangsläufigkeit von Renten- und anderen Kürzungen als quasi unvermeidbare Konsequenz aus der Bevölkerungsentwicklung zu behaupten.