Digitale Drecksarbeit hinter unserem Rücken

Es verändert sich viel in der Arbeitswelt – und das häufig nicht zum Guten. In den vergangenen Jahren wurde viel diskutiert über Leiharbeit, Werkverträge oder befristete Beschäftigung. Immer wieder tauchen auch Berichte auf über die Arbeitswelt jenseits der in Berliner Cafés mit Apple-Geräten arbeitenden Kreativlinge. Vieles, um das es hier geht, nutzen wir alle, beispielsweise Google und Facebook. Aber auch in dieser anscheinend schönen neuen Glitzerwelt gibt es Drecksarbeit, digitale Drecksarbeit, um genau zu sein.

»Google-Suchergebnisse bewerten, pornografische Inhalte bei Youtube herausfiltern, Hass-Postings bei Facebook löschen: Hinter den Kulissen der Internetgiganten machen viele Menschen digitale Drecksarbeit zum Hungerlohn. Ist das der „Arbeitsstrich des 21. Jahrhunderts“?«, so die Fragestellung in dem Artikel Die unsichtbaren Porno-Löscher bei Youtube von Thomas Kutschbach.

Er verweist darauf, dass auf der einen Seite Google einer der attraktivsten Arbeitgeber ist, dessen Arbeitsbedingungen gerne in den Medien gehypt werden.»Es ist eine scheinbar perfekte Welt da im Silicon Valley. Doch längst nicht jeder, der für Google tätig ist, darf daran teilhaben. Für den Suchmaschinengiganten arbeiten Tausende unsichtbarer Helfer zu Mini-Löhnen. Ohne Versicherung, ohne Urlaubsanspruch, ohne Arbeitnehmerrechte.«

Kutschbach bezieht sich auf einen Vortrag bei der diesjährigen re:publica in Berlin:

»Die „Magie” der Google-Suche ist nur möglich, weil Heerscharen von „Google quality raters” den ganzen Tag vor dem Rechner sitzen und Suchergebnisse bewerten. Menschen bringen dem Algorithmus bei, welche gefundenen Webseiten gut sind und welche nicht. „Hat sich schon mal jemand gefragt, warum es bei Youtube keine Pornos gibt?”, fragt Speaker Johannes Kleske bei seinem Vortrag „Mensch, Macht, Maschine” ins Publikum. Er gibt die Antwort gleich selbst: „Weil es Menschen gibt, die sie den ganzen Tag lang aussortieren.”«

Die Menschen, die das tun, werden Datenhausmeister genannt, auch Begriffe wie Crowdworker oder Clickworker sind geläufig.
»Sie sind das schlecht bezahlte Prekariat der digitalen Welt«, so Kutschbach.

Aber wie kann das sein, in der Welt der Algorithmen und der Programme?

»Es gibt sie, weil Menschen in vielen Bereichen einfach besser arbeiten als Maschinen. Beim Identifizieren von Werbung oder Hasskommentaren zum Beispiel.«

Amazon treibt dieses Geschäftsmodell mit „Amazon mechanical turk” auf die Spitze. Dort bestimmt eine Computerschnittstelle, welche Aufgaben von Clickworkern übernommen werden. Der Algorithmus wird zum Vorgesetzten, so Kutschbach.
Johannes Kleske hat in seinem Vortrag sogar vom „Arbeitsstrich des 21. Jahrhunderts“ gesprochen.

Kann man was dagegen machen? Schwierig, vor allem aufgrund der Vereinzelung und des brutalen Konkurrenzkampfes in der Branche. Aber:

»So hat die IG Metall am 1. Mai die Plattform faircrowdwork.org gestartet. Und auch einige Startups gehen schon in eine andere Richtung. Der Butler-Service Alfred setzt bewusst auf festangestellte Mitarbeiter, um die Qualität des Services zu garantieren.«

Kleine Schritte auf einem unvermeidbaren Weg. Immerhin.

Die Pflege allein zu Haus. Diesseits und jenseits der auch am diesjährigen Tag der Pflege vorgetragenen warmen Worte braut sich was zusammen

Der internationale Aktionstag „Tag der Pflege“ („International Nurses Day“, eigentlich müsste man also richtigerweise von „Tag der Krankenschwestern und -pfleger sprechen) am 12. Mai wird in Deutschland seit 1967 veranstaltet. Es ist der Geburtstag von Florence Nightingale, der Begründerin der systematischen Krankenpflege. Solche mehr oder weniger sinnvollen Tage des … werden dann gerne genutzt, um den Müttern, Vätern (kommt diese Woche auch noch) oder wem auch immer seine Aufwartung zu machen und auf die Schulter zu klopfen.

Aber sie können auch einen Impuls setzen, einen etwas genaueren Blick zu werfen auf das, was da meistens als toll, wertvoll und unverzichtbar semantisch eingenebelt wird. Gerade im Bereich „der“ Pflege ist das auch wahrlich dringend angezeigt. Wobei die Anführungsstriche bereits andeuten, dass es mit „der“ Pflege gar nicht so einfach ist.

Welche Pflege meinen wir denn? Die in den Krankenhäusern oder Psychiatrien? Die in den Altenpflegeheimen oder ambulanten Pflegedienste, die wiederum nicht nur die Pflegebedürftigen nach dem SGB XI betreuen, sondern auch in die häusliche Krankenpflege nach dem SGB V involviert sind und damit die versorgen, die immer schneller aus den unter Fallpauschalenbedingungen agierenden Kliniken wieder ausgestoßen werden (müssen)? Oder meinen wir vielleicht die „24-Stunden-Pflege“ eines demenzkranken Familienangehörigen in seinem häuslichen Umfeld mithilfe einer osteuropäischen Pflege- oder Betreuungskraft? Oder die Pflege der vielen Angehörigen, die das allein machen, ohne auf professionelle Unterstützung zurückzugreifen? Bereits diese erste Annäherung verdeutlicht, dass wir es mit einem mehr als unübersichtlichen Gelände zu tun haben.

Sozialpolitisch im engeren Sinne besonders relevant sind dann beispielsweise solche Äußerungen:

»Mit eindringlichen Worten hat die Freie Wohlfahrtspflege in NRW Reformen bei der Pflege angemahnt. „Es wird einen gesellschaftlichen Knall geben», warnte der Vorsitzende der Freien Wohlfahrtspflege, Ludger Jutkeit, am Dienstag in Düsseldorf. Bis 2030 werde die Zahl der Pflegebedürftigen im bevölkerungsreichsten Bundesland nach offiziellen Behörden-Schätzungen auf 700.000 ansteigen, bis 2050 sogar auf 930.000. Unter dem Motto „Wir für Sie“ haben die Mitgliedsverbände am Dienstag eine landesweite „Initiative für eine gute Pflege heute und in Zukunft“ gestartet.
Dringend nötig sei eine Aufwertung des Pflegeberufs, forderte Jutkeit. Mehr wohnortnahe Pflegeangebote seien ebenso notwendig wie eine stärkere Einbindung von Ehrenamtlichen. „Sonst werden wir das nicht schaffen“, betonte der Vorsitzende der Freien Wohlfahrtspflege. Bereits jetzt werden knapp 580.000 kranke und alte Menschen in NRW gepflegt. Knapp ein Drittel lebt nicht mehr zu Hause, sondern in Heimen.«

Dabei ist das noch eine sehr zurückhaltend formulierte Stellungnahme mit kritischen Tönen. Aus den Reihen der Pflege selbst kommen da ganz andere Stimmen und auch die Medienberichte als gesellschaftliches (Problem-)Beobachtungssystem zeichnen überwiegend ein düsteres Bild von der Pflege. Hier nur einige Beispiele aus der aktuellen Fernseh-Berichterstattung:

Kontraste: Streit um abgelegene Dörfer für Demenzkranke (07.05.2015)
Zur Betreuung und Pflege von Demenzkranken gibt es in Deutschland erste „Demenzdörfer“. In diesen Einrichtungen soll den Erkrankten in einem Maße Sicherheit und Bewegungsfreiheit ermöglicht werden, was sie in konventionellen Heimen nicht finden. „Demenzdörfer“ liegen meist abseits, dort, wo bauen preiswert ist. Die Betreiber werden hart kritisiert: Inklusion sei da nicht möglich, die Kranken würden einfach abgeschoben. Obwohl gerade die dort alles finden, was sie brauchen.

Zu wenig Pfleger für zu viele Heimbewohner – bereits jetzt ist zu spüren, was angesichts immer älter werdender Generationen auf uns zukommt. Das Problem: Es entscheiden sich viel zu wenige Menschen für einen Job als Pflegekraft. die story stellt die Frage: Was macht diesen Job so unattraktiv? Djamila Benkhelouf und Philipp Kafsack begleiten zwei erfahrene Pflegekräfte bei ihrer Arbeit in einem Haus für demenziell erkrankte Menschen und bekommen einen intensiven Einblick in diesen emotional und körperlich extrem herausfordernden Beruf. Gleichzeitig überprüft die story die groß angekündigte Pflegereform der Bundesregierung auf deren Praxistauglichkeit und trifft eine Frau, die Deutschland verlassen hat, weil sie die miserablen Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte hier nicht mehr ertragen hat. die story will wissen: Sind die Pfleger Opfer eines völlig veralteten und falsch organisierten Pflegesystems? Und was bringt die Pflegereform tatsächlich?
Alte Menschen, die krank oder dement sind, brauchen Pflege. In Deutschland sind das zweieinhalb Millionen. Doch die Rente reicht oft nicht aus, um die Kosten zu decken, etwa eine Unterbringung im Heim. Deshalb sind heute schon 40 Prozent der Pflegebedürftigen auf das Sozialamt angewiesen. Und es werden immer mehr. Die Autoren Hauke Wendler und Carsten Rau haben gefragt: Was läuft bei der Pflege falsch? Was sollten Betroffene und ihre Angehörigen wissen?

Report Mainz: Riskante Nächte im Pflegeheim (14.04.2015)
In vielen Pflegeheimen arbeiten viel zu wenig Nachtwachen, teilweise ist eine Pflegekraft für 90 Bewohner verantwortlich. Die bayerische Pflegeministerin will das jetzt ändern.

WDR tag 7: Pflege macht arm (07.04.2015)
Sieben Jahre lang hat sie ihre schwerkranke Mutter gepflegt, rund um die Uhr. Jetzt aber, nach dem Tod der Mutter, nimmt Renate Lonn die Fäden ihres Lebens wieder auf. Sie will raus aus Hagen. Die Realität aber treibt sie ins Jobcenter, sie muss Hartz IV anmelden.

Wir sind noch gar nicht auf Betriebstemperatur beim Verlinken der aktuellen Beiträge, stoppen aber an dieser Stelle in Anbetracht des wahrscheinlichen Einwands des einen oder der anderen, dass das eben eine sehr verzerrte Wahrnehmung dessen sei, was Pflege ist, denn Medien neigen bekanntlich dazu, oft oder ausschließlich einen eher skandalisierenden, zumindest einen nur problem- bzw. defizitfokussierten Zugang zum Thema zu wählen.
Aber auch die eher wissenschaftlich fundierte Literatur ist da nur graduell – nicht aber von der Richtung – anders, natürlich mit einem höheren Differenzierungsgrad versehen. Aus der Vielzahl an Studien zu den sehr unterschiedlichen Bereichen seien hier nur neuere Arbeiten zu einem Teil des Pflegesystems exemplarisch herausgegriffen, der immer im Schatten der Pflegedebatte steht: Die zahlreichen osteuropäischen Pflegekräfte und Haushaltshilfen, die in vielen deutschen Familien dafür sorgen, dass Pflegebedürftige zu Hause versorgt werden können und (noch) nicht ins Heim müssen.
Patrycja Kniejska thematisiert in ihrer im Mai 2015 veröffentlichten Expertise die All-inclusive-Pflege aus Polen in der Schattenzone. Ergebnisse von Interviews mit polnischen Pflegekräften, die in deutschen Privathaushalten beschäftigt sind. In diesem Kontext sei auch auf die im Juli 2014 publizierte Expertise Haushaltsnahe Dienstleistungen durch Migrantinnen in Familien mit Pflegebedürftigkeit. 24 Stunden verfügbar – Private Pflege in Deutschland von Andrea von der Malsburg und Michael Isfort hingewiesen. Man muss sich an dieser Stelle darüber im Klaren werden, dass die meisten dieser Menschen in halb-legalen bzw. illegalen Verhältnissen arbeiten (müssen), die seit Jahren beklagt werden und die es mit sich bringen, dass die Betroffenen hier bei uns eigentlich – wenn es denn jemand kontrollieren würde – ständig mit einem Bein im Gefängnis stehen.

Die Politik ist seit vielen Jahren über diesen Tatbestand informiert, vergleiche dazu beispielsweise meine Ausführungen in dem bereits 2010 erschienenen Paper Abschied von einer „Lebenslüge“ der deutschen Pflegepolitik. Plädoyer für eine „personenbezogene Sonderregelung“ und für eine aktive Gestaltung der Beschäftigung von ausländischen Betreuungs- und Pflegekräften in Privathaushalten). Faktisch nutzen wir in erheblichem Umfang das immer noch enorme Wohlstandsgefälle zwischen Osteuropa und uns in Form der Beschäftigung von osteuropäischen Pflegekräften und Haushaltshilfen zu unseren Gunsten aus, aber die politischen Entscheidungsträger agieren weiterhin im Grunde nach dem Vogel-Strauß-Prinzip.  Gleichzeitig sind die betroffenen Menschen aus Osteuropa in der unguten Situation, dass sie im Regelfall alleine auf sich gestellt in Privathaushalten arbeiten, ohne dass es eine systematische Einbettung und Begleitung durch Außenstehende gibt, was selbstverständlich Ausbeutungssituationen befördert. Hinzu kommt die Tatsache, dass die Frauen in ihren Herkunftsländern erhebliche Lücken reißen, den viele von Ihnen haben kleine Kinder, die sie oft monatelang zurücklassen müssen. Außerdem fehlen viele von ihnen in den Pflegesystem ihrer Länder. Das teilen Sie dann mit den vielen Ärzten aus Osteuropa, die mittlerweile in deutschen Krankenhäusern den Zusammenbruch des medizinischen Versorgungssystems gerade in den ländlichen Regionen bei uns verhindern. 

An dieser Stelle soll ein Blick auf die mehr als heterogenen Pflegewelt geworfen – und mit einem besonderen Fokus auf die Menschen, die in der Pflege arbeiten – die Frage gestellt werden, was denn die zentrale Baustellen in der Pflegelandschaft sind. Nicht wirklich überraschend landen wir da bei einigen wenigen zentralen Entwicklungen, die wir auch aus anderen Handlungsfeldern der Sozialpolitik kennen, die aber in der Pflege – sowohl in den Krankenhäusern wie auch in der Altenpflege – massive Schneisen geschlagen haben, mit der Folge einer erheblichen Druckzunahme im Kessel.

Wenn man es auf den Punkt bringen muss, dann lässt sich sagen, dass in den beiden großen Bereichen der Pflege in den vergangenen Jahren Prozesse stattgefunden haben, die dazu führen, dass nicht nur generell davon gesprochen werden muss, dass zu wenig Pflegepersonal vorhanden ist, sondern dieses dann auch noch ständig unter Volllast-Bedingungen arbeiten muss. Man kann sich das sowohl mit Blick auf die Krankenhäuser wie auch auf die Altenheime ganz einfach verdeutlichen:
  • Anfang des Jahrtausends wurde die Finanzierung der Krankenhäuser in Deutschland fundamental umgestellt, von der bis dahin dominierenden Finanzierung über tagesgleiche Pflegesätze in zu einem Fallpauschalensystem auf DRG-Basis. Die Absicht, die mit diesem Systemwechsel damals verbunden war, wurde keineswegs verschwiegen: Es ging um eine bewusste Ökonomisierung der Krankenhäuser dergestalt, dass die Kosten der Krankenhausbehandlung dadurch gesenkt werden sollten, dass die Patienten immer kürzer zu behandeln sind und gleichzeitig auf die Kliniken ein enormer Spezialisierungsdruck ausgeübt wurde. Beide Effekte sind eingetreten – allerdings mit der für das Pflegepersonal durchaus als fatal zu bezeichnenden Folge, dass die – wie gesagt beabsichtigte – deutliche Erhöhung der Umschlagsgeschwindigkeit der Patienten dazu geführt hat, dass man in den Krankenhäusern nur noch mit pflegeintensiven Fällen konfrontiert ist und der in früheren Zeiten immer vorhandene Puffer an Patienten, die letztendlich in den letzten Tagen ihres Aufenthalts lediglich Hotellerie-Leistungen in Anspruch genommen haben, nicht mehr vorhanden ist. In der Konsequenz für das natürlich dazu, dass das Pflegepersonal permanent unter Druck arbeiten muss, weil es eine Konzentration im Sinne einer deutlichen Zunahme der Pflegeintensität gegeben hat.
  • Einen durchaus vergleichbaren Prozess haben die Altenheime in Deutschland in den vergangenen zwanzig Jahren durchgemacht. wenn man früher ein Altenheim betreten hat, dann wurde man mit einer typischen Drittel-Mischung der Bewohner konfrontiert. Ein Drittel der Menschen waren noch so fit, dass sie im wesentlichen nur auf Hotellerie-Leistungen angewiesen waren  Und in unterschiedlicher Art und Weise durchaus am gesellschaftlichen Leben innerhalb des Heims teilnehmen konnten. Ein weiteres Drittel der Bewohner war normal und das andere schwer pflegebedürftig. Wenn man heute in ein Pflegeheim in Deutschland kommt, dann wird man mit einer ganz anderen Konstellation konfrontiert: Das durchschnittliche Heimeintrittsalter liegt bei über 85 Jahren und die meisten Bewohner sind in der Pflegestufe zwei oder drei und der Anteil der Demenz Kranken beläuft sich oft auf über 60 %. Wir sehen etwas, was der Heimkritiker Klaus Dörner als „Konzentration der Unerträglichkeit“ für beide Seiten im Pflegeprozess, also für die Bewohner wie auch für die Pflegekräfte, bezeichnet hat. Eine – wohl gemerkt aus Sicht der Institutionen und der dort arbeitenden Menschen – „gesunde“ Mischung der Bewohnerschaft ist heute nicht mehr gegeben. Auch hier haben die Pflegeintensität und die damit verbundenen Belastungsprofile ganz enorm zugenommen. 
Insofern kann man – summa summarum – die an vielen Stellen von den Pflegekräften vorgetragenen Klagen über eine dauerhafte Überlastung absolut nachvollziehen. Angesichts der deutlichen Verschiebung der Grundgesamtheit ihrer „Kunden“ in Richtung auf schwerere Fälle bringt es mit sich, dass immer mehr Pflegekräfte im wahrsten Sinne des Wortes „auf dem Zahnfleisch gehen“.
Was wäre die eigentliche Konsequenz, die man aus einer solchen Situation beziehen müsste? Natürlich, die Gewerkschaften als Vertreter der Arbeitnehmer müssten versuchen, die Arbeitsbedingungen des Personals (wieder) zu verbessern. Aber die in diesem Bereich zuständige Gewerkschaft Verdi bewegt sich eben nicht auf einem normalen Markt, sondern die Finanzierung der Krankenhäuser wie auch der Pflegeheime wird im wesentlichen determiniert über administriere Preise, die vom Staat bzw. den Sozialversicherungen – wenn auch formal in Verhandlungen – diktiert werden. Und wie soll beispielsweise ein Pflegeheim, dessen Gesamtkosten anteilig zu 70 % oder mehr aus Personalkosten besteht, die Vergütungen der Pflegekräfte deutlich anheben, wie es vielleicht bzw. sicher angebracht wäre, wenn die so genannten „Kostenträger“ über harte Budgetregeln eine solche Maßnahme aufgrund der begrenzten Refinanzierung gar nicht zulassen.

Gerade in solchen Systemen zeigt sich die besondere Bedeutung und Sinnhaftigkeit von – idealerweise auf fachwissenschaftlicher Basis kalkulierter – Standards, beispielsweise einer konkreten Verpflichtung, bestimmte Personalschlüssel zu realisieren. Gerade im Krankenhausbereich wird darüber seit vielen Jahren erbittert diskutiert und gestritten. Und natürlich versucht die Krankenhaus-Seite jeden Vorstoß in diese Richtung abzublocken und zu verhindern.
Aber wir sehen erste zarte Pflänzchen des Widerstands gegen die ständige Verweigerungshaltung hinsichtlich der angesprochenen Standards der Personalausstattung. Vgl. dazu mit Blick auf die Krankenhäuser den Diskussionsbeitrag Personalbesetzungsstandards für den Pflegedienst der Krankenhäuser: Zum Stand der Diskussion und möglichen Ansätzen für eine staatliche Regulierung von Michael Simon aus dem vergangenen Jahr oder auch die Studie Instrumente zur Personalbemessung und ‐finanzierung in der Krankenhauspflege in Deutschland von Dominik Thomas, Antonius Reifferscheid, Natalie Pomorin und Jürgen Wasem.
Auch die Beschäftigten selbst haben in jüngster Zeit die Initiative in diesem Bereich ergriffen und das, was beispielsweise an der Charité in Berlin abgelaufen ist, kann gar nicht hoch genug bewertet werden: »Die Krankenschwestern und -pfleger gehen auf die Barrikaden: Sie wollen kommende Woche streiken. Es geht ihnen nicht um mehr Geld, sondern um mehr Personal auf den Stationen«, so  Jörn Boewe und Johannes Schulten in ihrem Artikel Diagnose: Heilung kaum mehr möglich. Da wurde im Vorfeld über den damals noch geplanten Streik der Pflegekräfte an der Charité berichtet. Und die Forderung hinter der damaligen Streikandrohung geht so:

»Es ist ein ungewöhnlicher Ausstand. Denn es geht dabei nicht um mehr Geld, sondern um mehr Personal auf den Stationen. Eine Pflegekraft soll auf einer Normalstation nicht mehr als fünf Patienten betreuen, auf Intensivstationen zwei, fordert die Gewerkschaft Verdi. Nachts soll niemand mehr allein auf einer Station eingesetzt werden. Derzeit betreut eine Pflegekraft an der Charité im Schnitt zwölf Patienten.«

Und die Pflegekräfte haben durchaus konsequent ihr Anliegen vorangetrieben: „Gravierender Warnstreik“ an der Charité – 400 Operationen fallen aus, so eine der vielen Schlagzeilen. »Der Charité-Ausstand ist im Kern ein politischer Streik – er fordert nicht nur die Universitätsklinik, sondern das Gesundheitswesen heraus. Zu Recht«, so die Kommentierung von Hannes Heine unter der Überschrift Ein krankes System:

»Manchmal macht eine Handvoll engagierter Männer und Frauen einen Unterschied, der bald Hunderttausende, mittelbar gar Millionen betreffen wird. Als am Montag der Streik an der Charité begann, könnte das so ein Moment gewesen sein: Die Schwestern und Pfleger der Universitätsklinik legten die Arbeit nicht etwa nieder, weil sie mehr Lohn wollten – obwohl viele von ihnen auch damit einverstanden wären. Die Streikenden fordern hingegen mehr Kollegen auf den Stationen. Sie wollen nachts nicht mit 25 Patienten allein sein, sie wollen mit Schwerkranken reden, ohne gleich zum nächsten Patienten hetzen zu müssen, sie wollen Überstunden abbauen, statt anzuhäufen. Kurz: Sie wollen ein anderes Gesundheitssystem.«

Und er fügt an: »Bislang ist es nur den Ärzten gelungen, aus den gedeckelten Töpfen mehr zu erkämpfen. Die Pflegekräfte aber werden kaum irgendwo in der westlichen Welt so verheizt wie in Deutschland. Selbst in den USA gehen Kliniken pfleglicher mit ihrem Personal um.«
Und auch in der Altenpflege geht es immer wieder und immer stärker um dieses eine Thema: mehr Personal ist erforderlich.

Warum aber tut sich dann so wenig? Neben vielen anderen Aspekten muss man schlichtweg zur Kenntnis nehmen, dass das Arbeitsfeld, in dem sich die Pflegekräfte bewegen, eben nicht vergleichbar ist mit einer Automobilfabrik bei Daimler oder VW, die man durchaus lahmlegen kann durch eine Streikaktion, ohne dass deshalb die Republik zum Stillstand kommt oder neben den Schäden für die Arbeitgeber irgendwelche weiteren Auswirkungen auf die Bürger zu beobachten sind. Denn, seien wir ehrlich: Ein Streik in einem Pflegeheim ist erst einmal eine apokalyptische Vorstellung für die Betroffenen, die ja 24 Stunden am Tag den Pflegekräften im positiven wie negativen Sinne ausgeliefert sind. Und auch viele Pflegekräfte äußern genau an dieser Stelle ihre Vorbehalte bzw. ihrer Ablehnung von „klassischen“ Streikaktionen.
Vor diesem Hintergrund werden viele Pflegekräfte überaus aufmerksam den derzeit laufenden und mittlerweile unbefristeten Streik der Erzieher/innen in den kommunalen Kindertageseinrichtungen beobachten und verfolgen. Denn die sind mit den gleichen Problemen konfrontiert, die wir auch in der Pflege antreffen. Sollte es den Gewerkschaften Verdi und GEW gewinnen, die streikenden Erzieherinnen zu einem halbwegs akzeptablen Tarifergebnis zu führen, dann wird sich über kurz oder lang auch und gerade bei den Pflegekräften, die in teilweise noch desaströseren  Arbeitsbedingungen fest hängen, ein großer Arbeitskampf entwickeln, um anzuschließen an die neuere Entwicklung bestimmter Berufe oder Branchen, denen es nicht nur, aber auch aufgrund ihrer Streikfähigkeit gelungen ist, der Gegenseite zu signalisieren, dass man eben nicht mehr alles mit ihnen machen kann.
Der Pflege bzw. korrekter: den Menschen, die pflegen,  wäre genau das wirklich zu wünschen.

Die kleinen egoistischen Wilden? Beiträge zur Versachlichung der Debatte über Berufs- und Spartengewerkschaften

»Bei der Rolle der Berufsgewerkschaften in der Tarifpolitik handelt es sich um ein heikles, sehr kontrovers und häufig auch emotional diskutiertes Thema. Für die einen sind die Berufs- und Spartengewerkschaften der neue Typus einer kämpferischen Gewerkschaft, die unbeeindruckt von den Restriktionen einer eingefressenen Sozialpartnerschaft für die originäre Interessenvertretung ihrer Mitglieder steht. Für die anderen sind sie hingegen eine Gefahr für die Wettbewerbsfähigkeit, die rücksichtslos und ohne Blick auf die Interessen der Gesamtbelegschaften die Einzelinteressen kleiner Belegschaftsgruppen vertreten.« So beginnt ein wirklich lesenswerter Artikel von Reinhard Bispinck vom gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung mit der Überschrift Wirklich alles Gold, was glänzt? Zur Rolle der Berufs- und Spartengewerkschaften in der Tarifpolitik.
Er beginnt seine Einordnung mit dem Hinweis auf fünf zentrale Entwicklungslinien in der Tarif- und Gewerkschaftslandschaft: Erosion der Tarifbindung, Fragmentierung der Tariflandschaft, Pluralität der Gewerkschaftsverbände, Über- und Unterbietungskonkurrenz sowie eine gestiegene Bedeutung der Berufs- und Spartengewerkschaften.

Wenn man über Tarifpolitik – auch über die Tarifpolitik der Berufsgewerkschaften – spricht, muss man sich bewusst sein, dass es um ein schrumpfendes Handlungsfeld geht, in dem nur noch 58 Prozent der Beschäftigten durch Tarifverträge erfasst werden –  Ende der 1990er Jahre waren es noch mehr als 70 Prozent. »Nur noch in Ausnahmefällen gibt es den Idealtypus des branchenübergreifenden Flächentarifvertrages, der einheitlich Arbeits- und Einkommensbedingungen in den betreffenden Betrieben regelt.« Und diese Fragmentierung des Tarifsystems wird ergänzt durch Gewerkschaftspluralität, was seit einem wegweisenden Urteil des Bundesarbeitsgerichts aus dem Jahr 2010 auch Tarifpluralität bedeutet, jedenfalls noch, denn ein „Tarifeinheitsgesetz“ ist schon von der Bundesregierung auf den Weg gebracht worden. Neben den DGB-Gewerkschaften gibt es die Berufs- oder Spartengewerkschaften. Und die sind seit geraumer Zeit in das Visier der Politik geraten. Und die Debatte über sie hat in den Medien teilweise hysterische Züge angenommen, vor allem mit einem völlig verengten Blick auf die GDL (und besonders auf den Vorsitzenden dieser Truppe, also auf Claus Weselsky) sowie auf die Pilotengewerkschaft Cockpit, die regelmäßig die Lufthanseaten unter den Piloten in den Ausstand führen.

Immer wieder – so Bispinck – wird im Zusammenhang mit den Sparten- und Berufsgewerkschaften vor „englischen Verhältnissen“ gewarnt, wonach die 600 Klein- und Kleinstgewerkschaften in Großbritannien den Industriestandort ruiniert haben. Aber das entlarvt er für Deutschland als das, was es ist – Unsinn. Denn:
»Es gibt hier nicht etwa 600, sondern nur sechs Berufsgewerkschaften, die man als streikfähige Gewerkschaften bezeichnen kann, als akzeptierte Tarifvertragsparteien mit eigenständigen Tarifverträgen. Diese Zahl ist seit langer Zeit stabil, selbst nach dem BAG-Urteil von 2010 hat sich daran nichts geändert.«

Von den sechs wichtigsten Berufsgewerkschaften sind die meisten auch keine Neugründungen, sondern haben Jahrzehnte – im Fall der Gewerkschaft der Lokomotivführer (GDL) – sogar mehr als ein Jahrhundert Geschichte hinter sich. Sie zeichnen sich aus durch einen hohen Organisationsgrad. Und wie sagt man so schön: Man muss auch mal die Kirche im Dorf lassen, was zutreffend ist, wenn man sich die tarifpolitische Bedeutung der „kleinen“ Gewerkschaften vor Augen führt:

»Laut dem jährlichen Tarifregister des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) haben wir rund 47.000 sogenannte Ursprungstarifverträge. Änderungs- und Paralleltarifverträge sind in diesen Zahlen nicht berücksichtigt. Zusammengerechnet sind es aber nur 567 Ursprungstarifverträge, die Marburger Bund, GDL, Vereinigung Cockpit (VC), Deutscher Journalisten-Verband (DJV), UFO und der Verband der medizinischen Fachangestellten (VmF) abgeschlossen haben. Die meisten Tarifverträge wurden mit dem Marburger Bund abgeschlossen, gefolgt von der GDL. Sehr häufig handelt es sich dabei um Firmentarifverträge.«

Und wie ist es mit der gerade gegenwärtig heftig diskutierten „Streikwelle“ durch diese Gewerkschaften? Auch hier ist wieder ein nüchterner Blick angesagt:

»Die Bedeutung der Streiks in der Tarifpolitik der Berufsgewerkschaften wird deutlich überschätzt. Es gibt zwar eine Reihe von spektakulären Arbeitskämpfen, die von Berufsgewerkschaften durchgeführt worden sind, aber keineswegs nur solche. Die normale Tarifrunde einer Berufsgewerkschaft ist nicht immer durch Warnstreiks oder Streiks gekennzeichnet. Im Gegenteil: Wir haben in den letzten Jahren ein völlig normales Tarifgeschäft beobachten können.«

Der entscheidende Punkt hierbei ist: Arbeitskämpfe in den Vertretungsbereichen der Berufsgewerkschaften erfahren häufig eine ganz andere mediale Aufmerksamkeit. Bispinck dazu: »Wenn – wie in dieser Tarifrunde 2015 – 890.000 Beschäftigte in den Metallbetrieben warnstreiken, dann steht das in der Zeitung, es nimmt aber niemand wahr. Wenn tausende Beschäftigte  bei der Bahn, in den Krankenhäusern oder im Luftverkehr in den Streik treten, ist die unmittelbare Betroffenheit eine ganz andere.« Wir sind hier also konfrontiert mit einem Auseinanderfallen der subjektiven Wahrnehmung und der objektiven Daten.

Und Bispinck treibt die notwendige Differenzierung und damit verbunden auch Relativierung weiter, in dem er darauf hinweist, dass es im Kern um drei Bereiche geht:

»Das erste Konfliktfeld ist der Flughafen. Es gibt verschiedenste Berufsgruppen und mehrere zuständige Gewerkschaften. Piloten, Kabinenpersonal, Bodenpersonal, Fluglotsen, Sicherheitspersonal und das breite Spektrum von Dienstleistungsanbietern rund um das gesamte Flughafengeschäft. Die großen oder größeren Player sind hier ver.di, Cockpit, UFO und die Gewerkschaft der Flugsicherung (GdF).

Bei der Bahn ist das Feld übersichtlicher, was aber nicht heißt, dass es weniger konfliktträchtig wäre. Die beiden dort aktiven Gewerkschaften sind die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) und die GDL. Und wir haben mit der Deutschen Bahn AG einen Arbeitgeber, der versucht, in diesem Umfeld Tarifkollisionen in Tarifverträgen zu vermeiden.

Schließlich das Konfliktfeld Krankenhaus. Neben ver.di ist hier vor allem der Marburger Bund ein aktiver tarifpolitischer Akteur. In der aktuellen Diskussion um die Berufsgewerkschaften steht dieser Bereich nicht im Zentrum, weil es in den vergangenen Jahren nur selten zu Tarifkonflikten mit Streiks mit dem Marburger Bund gekommen ist.«

Und wie ist es mit der Gefahr der „Überbietungskonkurrenz“? Immerhin: »Hohe Tarifabschlüsse durch Cockpit (Lufthansa 2001), Marburger Bund (Ärzte 2006) und GDL (Deutsche Bahn 2008) legen den Schluss nahe: Wenn Berufsgewerkschaften antreten, erzielen sie deutlich bessere Ergebnisse.« Wie so oft kann es helfen, wenn man die Abschlüsse über einen längeren Zeitraum verfolgt. »Das Ergebnis: Bei der Deutschen Bahn hat die EVG in den Jahren 2007 bis 2014 etwas besser abgeschnitten als die GDL, bei der Lufthansa erreichten Cockpit ein Plus von 17 Prozent, UFO 21 Prozent und ver.di 27 Prozent.«

»Bleibt die Frage: Haben wir es bei den Berufsgewerkschaften mit einer klientelorientierten, gruppenegoistischen Tarifpolitik zu tun, während die DGB-Gewerkschaften ihrerseits eine solidarische Tarifpolitik betreiben, die Belegschaften insgesamt in den Blick nimmt …«
Auch hier ergibt der Vergleich mit den „Normal“- also DGB-Gewerkschaften keine Sonderrolle der Berufs- und Spartengewerkschaften:

»Hohe Tarifforderungen für einzelne Beschäftigtengruppen sind … kein „Privileg“ der Berufsgewerkschaften: Zwei Beispiele zeigen, dass auch DGB-Gewerkschaften entsprechende Forderungen in den Tarifverhandlungen stellen. Im Bewachungsgewerbe Nordrhein-Westfalen forderte ver.di 2013 30 Prozent mehr. In der aktuellen Auseinandersetzung im Sozial- und Erziehungsdienst werden im Schnitt zehn Prozent gefordert, bei genauerer Betrachtung für einzelne Berufsgruppen sogar ein Plus von bis zu 20 Prozent.«

Soweit die nüchterne Analyse von Bispinck.

Und ein weiterer Beitrag – mit einem besonderen Fokus auf das vor der Verabschiedung stehende Tarifeinheitsgesetz – soll hier nicht unerwähnt bleiben:

Mittlerweile fahren die Züge bei der Deutschen Bahn wieder bzw. sie versuchen es, wieder in Gang zu kommen. Die GDL verspricht den Kunden dieses Mobilitätsunternehmens eine „Pause“, in der sie nicht mit weiteren Streikaktionen rechnen müssen. Aber an der grundsätzlich verfahrenen Situation hat sich nichts geändert. Und während nicht wenige Medien ihr Heil zu suchen meinen in einer völlig unterirdischen Personalisierung des Konflikts mit einer Fokussierung auf einen angeblich völlig abgehoben bis durchgeplanten GDL-Chef Weselsky, gab es in den zurückliegenden Tagen durchaus erstaunlich viele differenzierte Kommentare in der Presse über die Hintergründe des scheinbaren Amoklaufs der Gewerkschaft GDL.

Das besten Beispiel für eine klare Sicht auf den eigentlichen Grundkonflikt, mit dem wir es nunmehr zu tun haben, liefert nicht irgendein linker Journalist, sondern Rainer Hank, der verantwortliche Wirtschaftsredakteur der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, gemeinhin bekannt für seine – wie gewisse Kreise sagen würden – ausgesprochen neoliberalen Positionen. Der hat heute in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung einen Beitrag veröffentlicht, der hier nur empfohlen werden kann: Warum Weselsky nicht durchgeknallt ist, so kompakt hat er seinen Artikel überschrieben. Und er feuert gleich im Untertitel die Kernaussage ab: »Versteht noch jemand, was bei der Bahn los ist? Ja. Es ist die große Koalition, die Weselsky in den Streik hineingetrieben hat.«
So ist das wohl leider. Greifen wir einige Argumente von Hank heraus:

»Weselsky ist nicht durchgeknallt. Er mag womöglich nicht gerade ein Charmeur sein. Aber er hat intuitiv erkannt, dass es in diesem Streit nicht nur um die Bahn geht, sondern um ein grundsätzliches Thema: Wie halten wir es mit den Freiheitsrechten von Minderheiten?« Und weiter: »Das sogenannte Tarifeinheitsgesetz aus dem Hause von Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) ist nicht die mögliche Lösung des Konflikts, sondern in Wirklichkeit seine Ursache.«

Und dann verdichtet Hank das Grundproblem völlig zutreffend:

»Es ist die Ironie der Geschichte, dass SPD-Minister sich zum Handlanger der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (und von Teilen des Deutschen Gewerkschaftsbundes) machen lassen: Die beiden Kartellverbände fühlen sich aus unterschiedlichen Gründen von den kleinen Gewerkschaften bedroht und verstehen es prächtig, ihre Machtanmaßung als Gemeinwohlinteresse zu kaschieren. In Wirklichkeit soll das Diktat der Mehrheit die Minderheit ersticken. Dabei hatten gerade die Arbeitgeberverbände noch nie ein Problem damit, durch Leiharbeit oder Werkverträge verursachte Lohnkonkurrenz in ihren Betrieben friedlich zu handhaben.«

Genau in diese Richtung habe ich in mehreren Beiträgen im Blog „Aktuelle Sozialpolitik“ argumentiert.

Vgl. dazu Der Blick verengt sich auf den mehrtägig angelegten Streik der Lokführer. Und gleichzeitig wird im Parlament das Streikrecht und seine (eingeschränkte) Zukunft auf die Tagesordnung gesetzt,

Die Katze aus dem Sack lassen. Unionspolitiker fordern eine explizite Verankerung des Streikverbots für kleine Gewerkschaften und in der „Daseinsvorsorge“ Einschränkungen des Streikrechts für alle 

sowie vor allem den Beitrag Schwer umsetzbar, verfassungsrechtlich heikel, politisch umstritten – das ist noch nett formuliert. Das Gesetz zur Tarifeinheit und ein historisches Versagen durch „Vielleicht gut gemeint, aber das Gegenteil bekommen“ vom 5. März 2015.

Man kann nur weiterhin hoffen, dass der eine oder die andere noch rechtzeitig über das Tarifeinheitsgesetz nachdenkt, bevor es zur endgültigen Abstimmung im Bundestag kommt.