Endlich kommt sie – die Qualitätsoffensive bei Gutachten zum Sorge- und Umgangsrecht vor Familiengerichten. Aber was genau kommt da (nicht)?

Es kommt offensichtlich Bewegung in ein Themenfeld, über das seit Jahren immer wieder und dabei oft auch sehr kritisch berichtet wurde: »Familiengerichte müssen viele Entscheidungen von großer lebenspraktischer Bedeutung treffen. Kann ein Kind in der Familie bleiben, wenn die Eltern Probleme mit der Erziehung haben? Soll ein Kind aus der Pflegefamilie zurück zu den leiblichen Eltern? Welches Umgangsrecht hat nach einer Trennung jener Elternteil, der nicht mit dem Kind zusammenlebt?«, so Christian Rath in seinem Artikel Qualitätsoffensive für Familiengutachter. Diese Fragen werden in nicht wenigen Fällen vom Gericht an einen Gutachter weitergereicht. Bis zu 10.000 solcher Gutachten werden jährlich erstellt. Aber mit diesen Gutachten bzw. den sie verfassenden Gutachtern gibt es immer wieder Probleme:

»Die Qualität der Gutachten ist allerdings schon lange in der Kritik. Als wichtigster Beleg hierfür gilt eine Untersuchung der Psychologie-Professoren Christel Salewski und Stefan Stürmer aus dem Jahr 2014. Die Professoren prüften 116 familiengerichtliche Gutachten aus Nordrhein-Westfalen und kamen zum Schluss, dass mindestens ein Drittel nicht wissenschaftlichen Ansprüchen genügt. Die Gutachter hätten, so Salewski und Stürner, methodisch problematische Verfahren wie „unsystematische Gespräche“ und „ungeplante Beobachtungen“ angewandt. Viele der Testverfahren, etwas das Malen der Familie als Tiere, seien wissenschaftlich umstritten und erlaubten nur „spekulative“ Ergebnisse.«

Rath bezieht sich hier auf die Studie Qualitätsstandards in der familienrechtspsychologischen Begutachtung von Christel Salewski und Stefan Stürmer. Das Ergebnis der Studie ist ernüchternd: In 56 Prozent der Gutachten fehlen  fachpsychologische Arbeitshypothesen, in 85,5 Prozent der Fälle werden die eingesetzten Verfahren gar nicht dargelegt und bei 35 Prozent der Arbeiten wurden Verfahren eingesetzt, die in der Wissenschaft als problematisch gelten.

Eine mediale Aufarbeitung der Thematik hat der WDR im vergangenen Jahr in der Dokumentation Wenn Gerichtsgutachten Familien zerstören ausgestrahlt. »Gutachter an Familiengerichten können über die Zukunft ganzer Familien entscheiden – über die Frage, ob ein Kind beim Vater oder der Mutter lebt, wie oft ein Elternteil es sehen darf oder ob es sogar in einem Heim leben muss. Der Film … erzählt von Fällen, bei denen Gutachten nachgewiesenermaßen gravierende Mängel aufweisen, die zu hanebüchenen Urteilen führen und ganze Familien zerstören … die Gutachter haben vor Gericht viel Macht. Doch ob sie überhaupt für diese wichtige Aufgabe qualifiziert sind, ist gesetzlich nicht vorgeschrieben. Auch kontrolliert werden die Gutachter von niemandem.  Der Film geht dramatischen Fällen nach, erzählt die Leidensgeschichten betroffener Eltern und Kinder und zeigen, dass unser Justizsystem hier dringenden Reformbedarf hat.«

Selbst das Bundesverfassungsgericht hat sich mit dem Thema beschäftigen müssen. Besonders markant ein Fall aus dem vergangenen Jahr. Ein besonders krasser Fall wurde im November 2014 durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bekannt. Dazu Christian Rath:

»Dabei ging es um das Sorgerecht eines ghanaischen Asylbewerbers für sein Kind. Eine Gutachterin hatte dem Mann unterstellt, er bevorzuge „afrikanische Erziehungsmethoden“, die auf die Unterwerfung des Kindes zielten. Die Verfassungsrichter fanden jedoch keine Belege dafür. Die „Sachverständige“ war eine Heilpraktikerin mit esoterischer Ausrichtung.«

Über diese Entscheidung des BVerfG wurde am 29.11.2014 auf der Facebook-Seite von „Aktuelle Sozialpolitik“ berichtet. Das Gericht selbst hat seine Pressemitteilung zu der Entscheidung (Beschluss vom 19. November 2014 – 1 BvR 1178/14) unter die Überschrift Sorgerechtsentziehung setzt eingehende Feststellungen zur Kindeswohlgefährdung voraus gestellt. Bei dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts muss man zwei in sich höchst problematische konfigurierte Ebenen unterscheiden.

Zuerst die Ebene der Begutachtung – hier findet das Gericht klare Worte:

»Im Sachverständigengutachten wird die verfassungsrechtlich gebotene Frage nach einer nachhaltigen Gefährdung des Kindeswohls weder explizit noch in der Sache gestellt. Stattdessen prüft es die Erziehungsfähigkeit der Eltern in einer Weise, die nicht geeignet ist, das rechtliche Merkmal der Kindeswohlgefahr in tatsächlicher Hinsicht aufzuklären. Als Kriterien zieht es unter anderem heran, ob die Eltern dem Kind vermittelten und vorlebten, dass es „sinnvoll und erstrebenswert ist, zunächst Leistung und Arbeit in einer Zeiteinheit zu verbringen, sich dabei mit anderen messen zu können und durch die Erbringung einer persönlichen Bestleistung ein Verhältnis zu sich selbst und damit ein Selbstwertgefühl aufbauen zu können“, ob die Eltern der „geistigen Entwicklung ihres Kindes größtmögliche Unterstützung und Hilfe zukommen lassen, damit die Kinder hier nach ihrem geistigen Vermögen auf eine persönliche Bestleistung hin gefördert werden und diese erbringen können“ und ob die Eltern den Kindern ein „adäquates Verhältnis zu Dauerpartnerschaft und Liebe vorleben“.

Mit diesen Fragestellungen wird die Erziehungsfähigkeit des Beschwerdeführers an einem Leitbild gemessen, das die von Art. 6 Abs. 2 und Abs. 3 GG geschützte primäre Erziehungszuständigkeit der Eltern verfehlt. Eltern müssen ihre Erziehungsfähigkeit nicht positiv „unter Beweis stellen“; vielmehr setzt eine Trennung von Eltern und Kind umgekehrt voraus, dass ein das Kind gravierend schädigendes Erziehungsversagen mit hinreichender Gewissheit feststeht. Außerdem folgt aus der primären Erziehungszuständigkeit der Eltern in der Sache, dass der Staat seine eigenen Vorstellungen von einer gelungenen Kindererziehung grundsätzlich nicht an die Stelle der elterlichen Vorstellungen setzen darf. Daher kann es keine Kindeswohlgefährdung begründen, wenn die Haltung oder Lebensführung der Eltern von einem von Dritten für sinnvoll gehaltenen Lebensmodell abweicht und nicht die aus Sicht des Staates bestmögliche Entwicklung des Kindes unterstützt.«

Aber die zweite Ebene, die das Kind bzw. den Jugendlichen selbst betrifft, ist höchst ambivalent hinsichtlich der Hürden, die damit aufgebaut werden für die Jugendämter, einzugreifen. Zugleich hat das Gericht in diesem Zusammenhang einen mehr als denkwürdigen Satz in die Welt gesetzt, der hier aus dem Urteil selbst zitiert werden soll (Beschluss vom 19. November 2014 – 1 BvR 1178/14, Randziffer 38):

»Die Eltern und deren sozio-ökonomische Verhältnisse gehören grundsätzlich zum Schicksal und Lebensrisiko eines Kindes.«

Das muss man erst einmal sacken lassen. Und sie schieben hinterher:

»Zwar bedarf es danach etwa bei einer unzureichenden Grundversorgung der Kinder keiner ausführlichen Darlegung, dass Kinder derartige Lebensbedingungen nicht ertragen müssen. Stützen die Gerichte eine Trennung des Kindes von den Eltern jedoch – wie hier – auf Erziehungsdefizite und ungünstige Entwicklungsbedingungen, müssen sie besonders sorgfältig prüfen und begründen, weshalb die daraus resultierenden Risiken für die geistige und seelische Entwicklung des Kindes die Grenze des Hinnehmbaren überschreiten. Dies ist hier nicht geschehen.«

Besonders die bereits zitierte Grenzziehung, dass Voraussetzung für eine Trennung von Eltern und Kind sei, »dass ein das Kind gravierend schädigendes Erziehungsversagen mit hinreichender Gewissheit feststeht«, wird dazu führen, dass man sehr lange abwarten muss, bevor man zu entziehenden Maßnahmen greifen darf. Vielleicht und wahrscheinlich in dem einen oder anderen Fall so lang, bis das Kind leider „in den Brunnen“ gefallen ist.

Aber hier interessiert besonders der Umgang mit den Gutachten und den Gutachtern. Christian Geyer-Hindemith hat das in seinem Artikel mit der Überschrift Warum ohne seine Tochter? anlässlich der bereits dargestellten Entscheidung des BVerfG so eingeordnet:

»Mehr als ein halbes Dutzend Mal haben die Karlsruher Richter in diesem Jahr Jugendämter und Gerichte gerügt, weil sie Eltern ohne tragfähige Begründung das Sorgerecht für ihre Kinder entzogen haben. Dabei geht es selbstverständlich nicht um jene vergleichsweise wenigen, aber stark beachteten Fälle von schlimmer Verwahrlosung, bei denen das Jugendamt zu Recht und mitunter bedauerlicherweise auch zu spät einschreitet. Nein, stattdessen geht es um die vielen Fälle alltäglicher Denormalisierung, in denen der Staat unbotmäßig in private Lebensverhältnisse eingreift.  Im Detail werden hier die Ansichten einer Sachverständigen dekonstruiert, welche maßgeblich dafür verantwortlich war, dass einem um Asyl ersuchenden Afrikaner zu Unrecht das Sorgerecht für seine Tochter aberkannt wurde. Zumal die beiden Fachgerichte werden gerügt, die ohne Wenn und Aber das fragliche Gutachten zur Grundlage ihrer nun aufgehobenen Entscheidung gemacht haben.«

Aber nun soll es besser werden. Denn der Bundesjustizminister hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, nach dem ein Fall wie der, der in Karlsruhe gelandet ist, wo also eine Heilpraktikerin das Gutachten verfasst hat, nicht mehr möglich wäre, denn: Laut Gesetzentwurf des Justizministeriums „soll das Gutachten durch einen Sachverständigen mit einer geeigneten psychologischen, psychotherapeutischen, psychiatrischen, medizinischen, pädagogischen oder sozialpädagogischen Berufsqualifikation erstattet werden“.

Also endlich (nur noch) Profis ans Werk, wenn denn der »Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Sachverständigenrechts und zur weiteren Änderung des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit«, wie die wortmäandernde Bezeichnung offiziell heißt, Gesetzeskraft erlangen wird.

So einfach ist es dann am Ende aber auch wieder nicht. Denn mit Blick auf die Ergebnisse der Studie zu den Gutachten: Mehr als 90 Prozent der von Salewski/Stürner geprüften Gutachten stammen von studierten Psychologen. Der Studienabschluss allein scheint also nicht zu genügen.
Rath weist in seinem Artikel darauf hin, dass es sehr wohl eine an einer bestimmten Qualifikation gebundene Verbesserung des Gutachtenwesens geben kann: „Nachweislich höher“, so Salewski/Stürner, war die Qualität der Gutachten nur, wenn sie von zertifizierten „Rechtspsychologen“ erstellt wurden. Das sind Psychologen, die speziell für die Mitwirkung in gerichtlichen Verfahren ausgebildet sind.

Und denen einen oder anderen wird es jetzt nicht wirklich überraschen:

Im Gesetzentwurf des Bundesjustizministers tauchen die „Rechtspsychologen“ überhaupt nicht auf.

Eine Billion Euro unter die Leute bringen. Da muss man nochmal nachdenken. Das bedingungslose Grundeinkommen wird an die Basis zurück gegeben

Die Billion für alle wurde vertagt. Unter dieser Überschrift hat die taz darüber berichtet, dass auf dem Parteitag der Linken in Bielefeld nicht nur der Rückzug des wortgewaltigen Gregor Gysi behandelt wurde, sondern auch eine fundamentale Frage der Sozialpolitik stand im Raum – und wurde vertagt. Weil sich bei dieser Frage auch bei den Linken zwei Lager gegenüberstehen. Gemeint ist die Forderung nach Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens. Ein grundlegender Systemwechsel wäre so etwas. Und der hat eine bunte Schar an Anhängern, die sich aus ganz unterschiedlichen politischen Lagern speisen. Man kann sagen von ganz links bis hinein in die neoliberale Ecke sind unterschiedlichste Befürworter eines bedingungslosen Grundeinkommens unterwegs.

Bei einem Teil der Linken gibt es nicht nur die allgemeine Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen, sondern sie wird mit einem konkreten Euro-Betrag in Höhe von 1.080 Euro pro Monat unabhängig von Arbeit, Einkommen und Vermögen konkretisiert. Und diese Idee ist keineswegs ein nur sektiererischer Vorstoß. Das Modell hat mit der Parteivorsitzenden Katja Kipping eine prominente Befürworterin. Aber sie ist ja nicht alleine im Vorstand, sondern ihr männliches Pendant,  Bernd Riexinger, ist in dieser Frage zugleich ihr entschiedener Gegner. Auf dem Parteitag in Bielefeld diskutierten sie erstmals über ihre Meinungsverschiedenheit in dieser Grundsatzfrage.

Bei dem Streit geht es zum einen sicher um grundlegende Fragen der Philosophie, gar der Anthropologie bzw. den Vorstellungen, die man sich so vom Menschen macht. Für die einen ein Freiheitsversprechen,  für die anderen eher die Idealisierung des menschlichen Handelns angesichts der tatsächlichen Triebkraft der Faulheit bzw. der Vermeidung unnötiger Arbeit auf Kosten anderer. Nicht wirklich überraschend ist die Tatsache, dass vor allem der gewerkschaftlich ausgerichtete Teil der Partei mit großem Widerwillen auf den ganzen Ansatz reagiert. Hier hat Arbeit einen ganz eigenen Stellenwert. Im Artikel wird das schnoddrig so formuliert: »Wer gezwungen sei, für seinen Lebensunterhalten zu schuften, sei fremdbestimmt. Das Grundeinkommen sorge dagegen für Freiheit. Sinngemäß übersetzt: Arbeit ist scheiße. Das sehen aber nicht alle in der Partei so. Schon gar nicht diejenigen, die aus den Gewerkschaften stammen und von Haus aus ein liebevolleres Verhältnis zur Arbeit pflegen.«

Zum anderen aber geht es natürlich und letztendlich entscheidend um die Frage der Finanzierung eines solchen Systemwechsels. Denn dass jeder einzelne einen Betrag von 1080 € pro Monat bekommen soll, müsste natürlich in der Addition gesehen werden. Und die Größenordnung eines solchen Modells wäre wahrhaft gigantisch: »Knapp eine Billion Euro pro Jahr soll der Staat gleichmäßig an die Bevölkerung verteilen.«

Nur mal so zur Orientierung: Das gesamte Bruttoinlandsprodukt in Deutschland, also die volkswirtschaftliche Wertschöpfung insgesamt, bewegt sich in der Größenordnung von 2,9 Billionen Euro. Wo soll das Geld herkommen? Genau, das wird den einen oder anderen jetzt nicht wirklich überraschen:

»Um das Geld zusammenzubekommen, wollen die Befürworter die Steuern vor allem für Reiche erhöhen.«

Aber mal ehrlich – so viele Reiche können gar nicht erwischt werden. Auch wenn es weh tut – die Quellen für die Umverteilung müssten schon auch unten und in der Mitte angezapft werden. So wird der ehemalige DM-Chef Götz Werner, der als wandernde Plakatwand seit Jahren für ein bedingungsloses Grundeinkommen landauf landab wirbt, gerne zitiert. Aber weniger gerne seine Finanzierungsvorschläge, darunter eine beispiellos hohe Konsumbesteuerung.

Der Gegner des ganzen Ansatzes innerhalb der Linkspartei auf Vorstandsebene, Bernd Riexinger, wird mit diesen Worten zitiert:

„1.080 Euro pro Person sind nicht viel. Dafür eine Billion Euro umzuwälzen ergibt ökonomisch keinen Sinn und dürfte auch nicht durchsetzbar sein.“

Wobei der letzte Punkt wahrscheinlich der entscheidende ist. Und das ist nicht nur auf die Gesellschaft insgesamt gerichtet, sondern auch auf die Partei Die Linke selbst. Und da man gar nicht einschätzen konnte, wie eine Abstimmung über einen Antrag, ein solches Grundeinkommen einzuführen, ausgehen würde, hat man parteipolitisch professionell reagiert in leichter Abwandlung des Mottos, dass man einen Arbeitskreis gründen soll, wenn man nicht mehr weiter weiß. Selbst die Befürworter des Modells wollen die Delegierten gar nicht erst über ihr Modell abstimmen lassen, sicher auch aus Unsicherheit, überhaupt eine Mehrheit zu finden und Personen auf der Leitungsebene der Partei sollen ja auch nicht beschädigt werden. Folglich: »Bis runter in die Ortsverbände sollen die Mitglieder weiter über das Thema reden. Und zwar so lange, bis irgendwann die Basis per Mitgliederbefragung ihr Urteil fällt. Entscheidung erfolgreich vertagt.«

Kontra gegen das Modell eines bedingungslosen Grundeinkommens gab es im Vorfeld des Parteitags auch von einem bekannten und ansonsten gerne auch radikal daherkommenden Politikwissenschaftler – von Christoph Butterwegge. Seine ablehnende Haltung kann man in diesem Beitrag von ihm nachlesen: Argumente gegen das „emanzipatorische Grundeinkommen“ der LINKEN-BAG. Darin finden sich zahlreiche Einwände Butterwegges gegen den Ansatz eines bedingungslosen Grundeinkommens.

Apropos – der namentlich nicht genannte Verfasser des Artikels hat gleich am Ort des Geschehens einen embryonalen Ansatz von empirischer Sozialforschung betrieben:
»Hätte sich Katja Kipping bereits durchgesetzt, auf dem Parteitag der Linken gäbe es wohl keinen Kaffee. Beziehungsweise niemanden, der ihn verkauft. Im Foyer der Bielefelder Stadthalle hat eine Cateringfirma einen Tresen mit Getränken und Kuchen aufgebaut. Die junge Frau dahinter muss nicht lange überlegen: Würde sie fürs Nichtstun bezahlt, sie stünde an diesem sonnigen Wochenende nicht hier. „1.080 Euro reichen zum Leben. Da müsste ich nicht unbedingt dazuverdienen.“«

Tja, die Menschen. Allerdings fehlt natürlich – wissenschaftlich gesehen – die repräsentative Grundlage, um das jetzt zu verallgemeinern. Aber genau darüber kann die Basis ja jetzt miteinander diskutieren.

Der K(r)ampf mit der Schule. Impressionen aus der „Bildungsrepublik“ Deutschland

Über „die“ Schule zu schreiben, das ist eine heikle Angelegenheit. Es handelt sich um ein hoch emotionales Thema, bei dem jeder mitreden kann und meint zu müssen, alleine schon vor dem Hintergrund, dass wir alle durch dieses „System“ mit mehr oder weniger Beschädigungen gegangen sind. Auf der anderen Seite – und das ist nicht selten ein Grund für die höchst politische Aufladung des Themas Schule – ist gerade in Deutschland die so genannte Schullaufbahn oftmals entscheidend für den weiteren Lebensweg. Und leben wir nicht in einer so genannten Wissensgesellschaft? Werden hier nicht die Grundlagen gelegt für unsere Zukunft? In Sonntagsreden ist das alles unumstritten. Aber in kaum einem anderen Feld klaffen Theorie und Praxis oftmals so weit auseinander. In den aktuellen bildungspolitischen Diskussionen, wenn man die überhaupt so nennen darf, finden sich erneut Belege für diese These. Einige wenige Beispiele sollen das verdeutlichen.

Deutsche Bildungsministerin will neues Schulfach „Alltagswissen“, so berichtet es die österreichische Zeitung Der Standard. Folgt man den Ausführungen in diesem Artikel, müssen einem erhebliche Zweifel am Stand der bildungspolitischen Diskussion kommen:

»Die deutsche Bildungsministerin Johanna Wanka (CDU) will an den Schulen ein Unterrichtsfach zur Vorbereitung auf die Herausforderungen des Alltags einführen. „Das Fach ‚Alltagswissen‘ fände ich gut. Dort könnten die Schüler Dinge lernen, die für ihr praktisches Leben wichtig sind“, sagte Wanka der Zeitung „Bild am Sonntag.“
Sie denke etwa an Fallen in Handyverträgen, handwerkliche Fähigkeiten, aber auch an Grundkenntnisse in richtiger Ernährung und Kochen. „Viele Jugendliche schauen mit Begeisterung Kochsendungen, können aber ohne Mikrowelle keine Lebensmittel mehr zubereiten.“«

Immerhin: »Die Einführung des Fachs „Benehmen“, für die sich in einer Umfrage 75 Prozent der Deutschen ausgesprochen haben, hält Wanka nicht für nötig«. Da atmet man ja schon fast auf. Aber damit nicht genug, sie hat, wenn sie schon mal dabei ist, auch noch andere brennend heiße Themen der Schuldiskussion in unserem Land eingeordnet, wie die Bild-Zeitung in ihrer Meldung Bildungsministerin Wanka spricht sich gegen Schuluniformen aus berichtet:

»Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU) hat sich gegen Schuluniformen ausgesprochen. Wanka sagte BILD am SONNTAG: „Kleidung ist ein Ausdruck von Individualität. In der DDR waren zum Beispiel Niethosen, also Jeans, und sogenannte NatoPlanen, gelbe Regenjacken, verboten. Sie galten als Symbol des Imperialismus. Wer sie anhatte, musste nach Hause gehen und sich umziehen. Abgesehen davon stehen Schuluniformen auch nicht jedem.“«

Das Thema Schuluniformen bewegt Deutschland, muss man den Eindruck bekommen.  Das tut es natürlich nicht, auch wenn – um den Ansatz nicht völlig abzuwerten – hinter der Kulisse ein reales Problem steht, zumindestens für die Eltern, die nicht über die finanziellen Ressourcen verfügen, um ihre Kinder so auszustatten, wie es die eine oder andere Modewelle unter den jungen Menschen heute erfordert.

Tatsächlich sind wir im Schulbereich mit ganz anderen Herausforderungen konfrontiert, für die es (noch) viel zu wenige Antworten gibt.

Nehmen wir als Beispiel die große Stadt Berlin. Nutzlose Hochleistungsserver statt funktionierender Toiletten, so hat Susanne Vieth-Entus ihren Artikel überschrieben. Zugleich ein Lehrstück über die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis in der „Bildungsrepublik“ Deutschland:

»Der Begriff klang irgendwie gut: „eGovernment@school“ sollte Berlins Schulen und die Schulverwaltung in das 21. Jahrhundert hineinführen. So wollte es die Bildungsverwaltung …  „Zentrale Schülerdatei“ und „elektronisches Klassenbuch“ lauteten die neuen Zauberwörter. Sechs Jahre ist das her. Inzwischen ist der Begriff verbrannt. Er steht für verlorene Millioneninvestitionen und für überflüssige Hochleistungsserver in Schulen, die sich ansonsten nicht einmal saubere Toiletten leisten können. Er steht für sechs verlorene Jahre, in denen auf eine längst veraltete technische Lösung gesetzt wurde. Er steht für einen weiteren Vertrauensverlust in die Zurechnungsfähigkeit der Verwaltung.«

Vor acht Jahren geplant, vor sechs Jahren beschlossen und nun einkassiert: Das IT-Konzept für Berlins Schulen landet auf dem Müll. So kann man das zusammenfassen, wie in dem Artikel Supergau@school. »Seit Mitte 2015 steht hingegen fest: Das Konzept steht wieder am Anfang. Über 38 Millionen Euro sind bereits verbraucht. Mindestens.«

Der seit Jahren betriebene Einbau von Serverräumen an den Schulen und die damit zusammenhängende Verkabelung war ebenso überflüssig wie der Einkauf der großen teuren Server, die zum Großteil schon an die Schulen ausgeliefert wurden. Susanne Vieth-Entus berichtet, dass »viele Schulleiter mit dem Thema abgeschlossen (haben). Die verwaisten Serverräume werden inzwischen ignoriert bestenfalls nur noch mit Schulterzucken quittiert. Angesichts der baulichen Mängel und der allseits fehlenden Gelder ärgern sich die Schulen aber massiv darüber, dass für rund 10 000 Euro die anspruchsvollen Server angeschafft wurden, die bereits veraltet waren, bevor sie ans Netz gingen.«

Die möglicherweise folgenreichste Hypothek deutet Susanne Vieth-Entus in diesem Kommentar an:

»Auch andere Behörden wurschteln vor sich hin, als hätte es die technischen Fortschritte der vergangenen 20 Jahre nicht gegeben. Den Schulbereich allerdings trifft es besonders hart. Immerhin geht es hier um 400 000 Schüler und 30 000 Lehrkräfte, für die die Verwaltung zuständig ist: Jeder weitere Tag in der technologischen Steinzeit bedeutet hier einen ungeheuren Verlust. Die veralteten Strukturen stehlen den Pädagogen die Zeit, die sich eigentlich für ihre Schüler brauchen.«

 Schaut man sich in den meisten Schulen um, dann kann man nur resignierend den Kopf schütteln. Die Kinderzimmer von drei Vierteln der Schüler/innen sind heute moderner und besser ausgestattet als die Schulen. Wie soll dieser Investitionsstau aufgehoben werden? Aber soll er das überhaupt?

Eine ganz andere, noch weitaus größere Baustelle ist das Thema Inklusion. »Ein kleiner Junge mit Downsyndrom löste vergangenes Jahr einen heftigen Streit über die Inklusion aus. Henri wurde zur Symbolfigur für den Umgang mit behinderten Kindern im deutschen Schulsystem, zum Gradmesser für den Fortschritt bei der Inklusion. Sperren wir Behinderte aus? Sind sie ein Tabu?« Ein aufschlussreiches Interview mit seiner Mutter, Kirsten Ehrhardt, gibt es unter der Überschrift „Werden tausend Schüler dümmer, weil Henri da sitzt?“.

Auf der anderen Seite werden zahlreiche Widerstände, aber auch Frustrationen aus den Schulen berichtet. Überforderungen, Ängste, Ressourcenknappheit. Beispielhaft dafür der Bericht Lehrer fühlen sich laut Studie mit der Inklusion überfordert: »Immer mehr Lehrer in NRW fühlen sich durch die überstürzte Einführung des gemeinsamen Unterrichts von behinderten und nicht behinderten Schülern überfordert. Nach einer Forsa-Umfrage kritisieren Pädagogen vor allem zu große Klassen, fehlende Sonderpädagogen und eine mangelnde Fortbildung … 98 Prozent sprachen sich für eine Doppelbesetzung aus Lehrer und Sonderpädagoge im Unterricht aus. Selbst an der inklusiven Grundschule nimmt der Sonderpädagoge aber im Schnitt nur an drei bis vier Wochenstunden am Unterricht teil … Aufgrund der schlechten Vorbereitung fordern 58 Prozent der Lehrer den Erhalt der Förderschulen.«

Versuchen wir es anders: Was sind die zentralen Herausforderungen des Schulsystems?  Diese bewegen sich in einem Spannungsdreieck von Inhalten, Zeit und Personen.

Zu den Inhalten soll an dieser Stelle nur angemerkt werden: Vielleicht gilt gerade hier die Lebensweisheit: weniger ist mehr. Auch wenn das nicht besonders modern herüberkommt: Um die Grundfertigkeiten sollte es gehen. Lesen, schreiben und rechnen, kritisch mit den Sachverhalten der Welt umgehen können. Dann wäre schon viel gewonnen. Hinzu kommen müsste ein ordentlicher Schuss widergelagerter Funktionalität  durch Fächer wie Sport, Musik, Kunst, die sich der scheinbaren Rationalität unserer verwertungsorientierter Erwartungen an das, was Schule zu leisten hat, entziehen bzw. diese stören.

Zur Zeit: Man muss doch wirklich keine Studien machen, sondern einfach mit den Eltern sprechen, die Kinder in unserem Schulsystem bzw. korrekter in unserem Schulsystemen haben.  Auf der einen Seite sind die Eltern konfrontiert mit der Tatsache, dass das Schuljahr permanent unterbrochen wird nicht nur von Ferien, sondern auch von Feiertagen, die kombiniert werden mit beweglichen Ausfalltagen oder so genannten Studientagen der Lehrer. Wenn man ehrlich ist, dann muss man konstatieren, dass die Schüler und Schülerinnen konfrontiert werden mit einer Anhebung der Erwartungen an das, was in der Schule zu passieren hat, bei einer parallelen Konzentration, einer unglaublichen Verdichtung der dafür zur Verfügung stehenden wirklichen Zeit. Dies führt zu einer gesellschaftspolitisch höchst brisanten Konstellation: Die aus der Zeitverknappung resultierenden Probleme zahlreicher Schüler können nur dann gelöst bzw. abgemildert werden, wenn die Eltern bzw. im Regelfall die Mütter, sich als unbezahlte Nachhilfelehrer ihrer Kinder annehmen. Tun sie das nicht oder können sie das nicht tun, weil sie nicht über die kognitiven Voraussetzungen verfügen, dann fallen die Kinder in der Schule ab. Hier liegt eine der größten Quellen für die beobachtbare soziale Selektivität unseres Schulsystems.

Auch die vielbeschworene Ganztägigkeit würde hier nur wirklich dann weiterhelfen, wenn sie nicht nur entsprechend mit den dafür notwendigen Ressourcen unterlegt, sondern auch für alle Schüler verbindlich wäre. Und auch dann nur, wenn sich ein weiterer zentraler Faktor in den Schulen darauf einstellen würde – gemeint sind hier die Lehrer. Beziehungsweise, um mit Blick auf die Zukunft genauer zu sein, das Kollegium an unterschiedlichen Fachkräften, die in einer Schule arbeiten sollten. Also eben nicht nur Lehrer. Das Aufbrechen der Homogenität der Lehrer in den Schulen wäre eine der wichtigsten Schlussfolgerungen, die man aus vielen Untersuchungen über die Defizite in den bestehenden Schulsystemen ziehen kann. Natürlich ist es so, dass die Haltung der Lehrpersonen an den Schulen ganz maßgeblich darüber mitbestimmt, was den jungen Menschen auf den Weg mitgegeben wird. Man betrachte in diesem Zusammenhang nur einmal den Umgang mit ausfallenden Unterrichtsstunden in vielen Schulen. Was für Vorbilder werden da den jungen Menschen mit auf den Weg gegeben?

Für die Gesellschaft insgesamt ist es ein oftmals völlig unterschätztes Problem, das auch derjenige, der sich mit der Materie beschäftigt, kaum noch einen Überblick über die unterschiedlichen Schulformen und die Schulstrukturen in ihren Verästelungen hat. Ein einfaches und für jeden normalen Bürger verständliches Schulsystem wäre eine absolut notwendige und hilfreiche Voraussetzung. Wenn man sich an dieser Stelle einfach einmal vorstellen würde, wir hätten in allen Bundesländern die gleiche Struktur nach der Grundschule (übrigens der einzigen echten Gemeinschaftsschule in Deutschland), also ein klassisches Gymnasium und eine wie dann auch immer genannte zweite Säule neben dem Gymnasium, in der man allerdings auch, wenn man dafür die notwendigen Voraussetzungen mitbringt, die Hochschulreife erwerben kann, dann würde das eine Menge erleichtern. Gleichzeitig sollte eine der gesellschaftspolitischen Hauptbotschaften sein: Wenn nicht heute, dann kannst du morgen sehr wohl einen höheren Schulabschluss erreichen. Wenn du dich anstrengst und dazu bereit bist. Weil die Gesellschaft dir entsprechende Wiedereinstiegspunkte anbietet. Das wäre eine Botschaft.

Und auch wenn du einen anderen Weg gehst, mit einem Schulabschluss das Schulsystem verlässt, der nicht der Hochschulreife entspricht, dann hält man dir dennoch immer wieder die Möglichkeit offen, aus dem Ausbildungsberuf, der sich nach der Schule ergeben hat, auszubrechen bzw. aufzusteigen, ein Studium aufzunehmen, wenn man das denn wirklich will. Das hat die Gesellschaft zu organisieren. Das wäre Durchlässigkeit im wahrsten Sinne des Wortes. Aber an diesem Punkt sind wir noch lange nicht. Wie man insgesamt den Eindruck gewinnen kann und muss, dass kaum ein Thema so emotional und derart aufgeladen diskutiert wird wie die Bildungspolitik, vor allem mit Blick auf die Schule, ohne dass sich hier wirklich fundamentale Veränderung in der vergangenen Zeit ergeben haben.

Es ist ein wirklich schwieriges, klebriges und mit vielen Meinungen versetztes Thema.

Übrigens: Wir sind nicht allein mit dieser schwierigen Debatte: Man vergleiche dazu nur die aktuelle Diskussion in Frankreich über eine Reform des Schulsystems dort und die empörten Reaktionen auf die Ansätze der Regierung. Vgl. dazu beispielhaft das launische Interview mit mit dem Philosophen Alain Finkielkraut: „Welche Unverschämtheit!“ Die geplante Schulreform in Frankreich bedroht die republikanische Bildungstradition des Landes: Ein Gespräch mit dem Philosophen Alain Finkielkraut.