Von „heißer Liebe zum deutschen Volk“ zum „1.000 Euro Starterpaket für jedes neue Baby“. Neues Altes zur Familien- und Rentenpolitik

„Aus heißer Liebe zum deutschen Volk“ – so hieß es am 26. Juni 1945 im Berliner Gründungsaufruf der Christdemokraten. Deshalb feiert die CDU ab der kommenden Woche ihren 70. Geburtstag und in einer etwas eigenen Adaption an diese Gründungsaufforderung hat sich jetzt die Junge Union zu Wort gemeldet, die Jugendorganisation der Union, immerhin mit offiziell 117.000 Mitglieder eine ziemlich große Organisation. Passend in unsere Zeit der Individualisierung wie auch der alle Lebensbereiche durchdringenden Ökonomisierung will man jetzt offensichtlich das deutsche Volk von unten unterstützen und die „heiße Liebe zum Kinderzeugen“ anreizen. Mit einem – festhalten, jetzt wird es ganz heiß – „1.000 Euro-Starterpaket für jedes neue Baby“. Wie scharf ist das denn?

Aber die Jungunionisten erweisen der immer irgendwie mitlaufenden Vorstellung, dass junge Menschen eine Präferenz für radikale Vorstellungen haben und sich gegen „die Alten“ auflehnen wollen und müssen (was empirisch spätestens seit den Shell-Jugendstudien mehr als widerlegt ist, denn dort wurde dokumentiert, dass die meisten Jugendlichen ihre Eltern als Kumpel und nette Partner wahrnehmen, was sicher nicht die Abarbeitung an den Positionen der Eltern befördert), scheinbar, aber eben nur scheinbar ihre Referenz: Sie fordern eine – aufgepasst – „radikale Reform der Familien- und Rentenpolitik“. Robert Roßmann beschreibt diese in seinem Artikel Junge Union fordert Sonderabgabe für Kinderlose.

Der JU-Chef Paul Ziemiak hat dazu einen Forderungskatalog dazu vorgelegt, der sich – man ahnt es schon – an „der“ demografischen Entwicklung abarbeitet.

Zur Rentenpolitik: Die Junge Union fordert die sofortige Abschaffung der Rente mit 63 und der JU-Chef »fordert eine grundlegende Änderung des Rentensystems. „Es muss eine Verknüpfung zwischen Renteneintrittsalter und Lebenserwartung geben“, sagt Ziemiak. Wenn die Lebenserwartung steige, verlängere sich bisher auch die Bezugsdauer der Rente, ohne dass die Versicherten dafür höhere Beiträge eingezahlt hätten …  Die Junge Union wolle, dass zwei Drittel der zusätzlichen Lebenszeit angerechnet werden.«

Nur eine von vielen möglichen kritischen Anmerkungen zu dieser Forderung, die ja nicht wirklich von den jungen Unionisten kommt, sondern die haben copy und paste gemacht beim Institut der deutschen Wirtschaft, bei Professor Sinn und anderen bis hin zu einem Teil der „fünf Wirtschaftsweisen“, die genau so eine Regelung seit längerem einfordern. Hier an dieser Stelle nur der eine Hinweis: Die Forderung kommt für viele auf den ersten Blick so plausibel daher, denn das leuchtet doch ein: Wenn die Lebenserwartung weiter ansteigt und man länger Rente bezieht, dann kann man doch einen Teil der gewonnenen Lebenserwartung dafür einbringen, über Arbeit die Beiträge (und Steuern) zu erwirtschaften, die man braucht, um das zu finanzieren. Genau so argumentiert die Junge Union in Person ihres Vorsitzenden Paul Ziemiak: „Wenn beispielsweise die durchschnittliche Lebenswartung der Jahrgänge von 1985 bis 1990 um drei Monate steigt, muss das Renteneintrittsalter für diese Jahrgänge um zwei Monate steigen“, so wird er zitiert. Schon mal was vom Unterschied zwischen Durchschnitt und Streuung der Originalwerte gehört? Ein Durchschnittswert kann zuweilen mehr verschleiern als Information verdichten, vor allem, wenn die Ausgangswerte sehr stark streuen um den Durchschnittswert. Und genau hier haben wir ein Riesenproblem bei dem durchschnittlichen Anstieg der Lebenserwartung. Der geht nämlich so: Bei der oberen Hälfte ist der Anstieg nicht drei Monate, sondern vielleicht fünf oder sechs, ganz oben noch mehr. Aber in der unteren Hälfte sind es nicht drei, sondern zwei, ganz unten vielleicht nur ein Monat oder gar keiner. Wenn wir jetzt aber eine anscheinend plausibel daherkommende Regelbindung haben, nach dem Muster ausgehend vom Durchschnitt drei Monate mehr = 2 Monate mehr beim gesetzlichen Renteneintrittsalter, dann ist die relative Belastung oben viel geringer als unten und unten erweist sich aufgrund der Streuung der Werte eine solche Regelung als das, was sie wohl auch sein soll: Eine richtig harte Rentenkürzung, denn man darf nicht vergessen, dass das Erreichen der Regelaltersgrenze verbunden ist mit der Abschlagsregelung im Rentenrecht, also alle, die es nicht bis dahin schaffen, werden mit lebenslangen Abschlägen bei ihrer – dann auch noch zumeist an sich niedrigeren – Rente belastet.

Zur „Familienpolitik“: »Die JU verlangt außerdem die Umwandlung des Ehegattensplittings in ein Familiensplitting. „Wir wollen nicht nur eine Erhöhung der Freibeträge, sondern ein echtes Familiensplitting“, sagt Ziemiak. Die steuerliche Entlastung durch das Splitting solle sich also – anders als bisher – mit der Zahl der Kinder erhöhen.«

Nun gibt  es diese Debatte schon lange und es handelt sich hier ebenfalls um keinen neuen Ansatz, sondern erneut haben die jungen Leute einfach nur abgeschrieben – aus dem Wahlprogramm der eigenen Mutterpartei. Die hat das 2013 bei der Bundestagswahl in ihrem Programm drin stehen gehabt. Eine „radikale“ Erweiterung besteht wohl darin, dass man ein „echtes“ Familiensplitting“ fordert und nicht „nur“ eine Anhebung der Freibeträge. Hier nur einige wenige Aspekte aus der kritischen Auseinandersetzung allein schon mit dem Modell der höheren Freibeträge, die von Richard Ochmann und Katharina Wrohlich 2013 in ihrem Aufsatz Familiensplitting der CDU/CSU: Hohe Kosten bei geringer Entlastung für einkommensschwache Familien vorgetragen wurden. Familien mit geringen Einkommen werden unterdurchschnittlich bis gar nicht entlastet. Je höher das (zu versteuernde) Einkommen, desto größer ist die Entlastung, was der Mechanik des Steuersystems geschuldet ist. Logischerweise und nicht vermeidbar bedeutet das, dass wenn man die Freibetragslogik mit der Zahl der Kinder koppelt, dass dann in den oberen Haushaltseinkommen richtig viel ankommt für deren Kinder, während es unten sehr viel weniger bis gar nichts wäre. Die notwendigen finanziellen Ressourcen für eine solche steuerliche Entlastung wären enorm. Und Oschmann/Wrohlich weisen darauf hin: »Generell haben alle Splittingmodelle den gravierenden Nachteil, dass sie dem familienpolitischen Ziel der Vereinbarkeit von Beruf und Familie entgegenwirken.«

Aber die Jungunionisten fordern nicht nur, sondern wie es sich heutzutage gehört, man liefert den Hohepriestern der Religion von der „schwarzen Null“ und einem schuldenfreien Haushalt gleich auch schon das passende Opfer der Gegenfinanzierung der Geld kostenden Vorschläge. Und was schlägt die Junge Union hier vor – um das gleich scheinbar „familienpolitisch“ zu ummänteln?
»Kinderlose sollen eine Sonderabgabe in Höhe von einem Prozent des Bruttoeinkommens zahlen.«
Man hat die Stimmen schon im Ohr, die auf eine gruppenbezogene Diskriminierung hinweisen werden. Der JU-Chef hält dagegen: „Das wäre keine Benachteiligung, sondern nur ein Ausgleich“, so wird er zitiert. Ausgleich für was bitte? Die Argumentation von Ziemiak geht so: »Eltern hätten enorme Ausgaben, die Kinderlose nicht hätten. Wegen der Mehrwertsteuer auf diese höheren Ausgaben würden Eltern bisher auch steuerlich schlechter gestellt als Kinderlose.« Aber auch daran ist gar nichts Neues, denn bereits vor drei Jahren hatten Bundestagsabgeordnete aus der Union genau diese Forderung zur Diskussion gestellt: »Die Abgeordneten hatten vorgeschlagen, Kinderlose vom 25. Lebensjahr an mit einem Prozent ihres Einkommens zur Kasse zu bitten. Die Abgabe sollte nach der Anzahl der Kinder gestaffelt werden. Kinderlose müssten voll zahlen, Eltern mit einem Kind die Hälfte, Eltern mit mehreren Kindern nichts.«

Auch das hat sich nicht ohne Grund nicht durchgesetzt, der vielleicht am Anfang vorhandene Charme einer gewissen Logik, „die“ Kinderlosen zahlen mehr als die armen mit Kindern belasteten Familien schmilzt wie die Butter in der Sonne, wenn man berücksichtigt, dass „die“ Kinderlosen dann zusätzlich belastet werden sollen für den Ausgleich einer höheren Steuerbelastung der Familien, obgleich die doch in dem Modell der Union parallel massiv entlastet werden sollen über das Familiensplitting.

Abschließend sind wir wieder am Anfang angekommen, denn die Junge Union fordert »die Einführung eines „Starterpakets“ für Eltern. Sie sollen für jedes Kind, das geboren wird, 1000 Euro vom Staat als Erstausstattung erhalten.« Super. Aber mal ehrlich – unabhängig von der Tatsache, dass es viele einkommensschwache Familien gibt, für die 1.000 Euro bei der Geburt eines Kindes mehr als hilfreich sein könnte: Von einer Begrenzung des „Starterpakets“ auf die, die materiell wirklich in schwierigen Verhältnissen sind, liest man nichts. Das „Starterpakekt“ sollen alle bekommen, also auch die Haushalte, die nun wirklich nicht angewiesen sind auf diesen Betrag. Und davon gibt es Gott sei Dank immer noch sehr viele in unserem Land. Was soll das? Will man perspektivisch die Premium-Hersteller von Kinderwägen pampern über diesen Betrag, den die Eltern dann in ein noch hipperes Modell reinvestieren werden? Vielleicht ist das aber auch ein geniales Programm zur Stärkung der Binnennachfrage.

Halt – alle würden die 1.000 Euro bekommen? Es steht zu befürchten, dass das in einer Hinsicht wieder nicht gelten würde: Für die, die einen solchen Betrag am nötigsten hätten. Also die Eltern im Grundsicherungsbezug. Erinnern wir uns an dieser Stelle an das „Betreuungsgeld“, das von den Befürwortern ausdrücklich als eine Honorierung der elterlichen Erziehung- und Betreuungsleistung zu Hause herausgestellt wurde, deshalb würden auch alle in den Genuss dieser Leistung kommen, also einkommensabhängig. Und tatsächlich ist es auch so, dass auch sehr einkommensstarke Haushalte die 150 Euro überwiesen bekommen – alle, aber nicht die „Hartz IV-Eltern“, denn bei denen wird das Betreuungsgeld vollständig angerechnet auf ihren Anspruch auf SGB II-Leistungen, mithin verrechnet. Sie gehen leer aus. Es steht zu befürchten, dass der gleiche Mechanismus zuschlagen würde beim „Starterpaket“.

Ach, jede Gesellschaft hat die Jugend, die sie verdient, könnte man jetzt bilanzieren. Oder anders: Entweder mal richtig auf die Pauke hauen und was Großes fordern oder aber wenn man sich schon so klein macht, dass man passungsfähig zu werden hofft, dann muss man sich eben auch messen lassen an Sorgfältigkeit beim Denken und entsprechendem Tiefgang beim Verfassen von Forderungen. Aber vielleicht wollte man einfach auch nur mal wieder in die Medien.

Pflegende Angehörige: Verloren im Dickicht der Bürokratie und der sicher gut gemeinten Leistungen

Um es gleich an den Anfang zu stellen: Das Pflegesystem in Deutschland würde innerhalb von Stunden kollabieren, wenn es nur einer überschaubaren Zahl an pflegenden Angehörigen einfallen würde, die Pflegeleistungen einzustellen oder diese an das professionelle Pflegesystem übergeben zu wollen. So viele Pflegeheimplätze und vor allem so viel Pflegefachkräfte könnten wir gar nicht herbeizaubern. Und es handelt sich hierbei nicht um eine kleine Gruppe, sondern 70 Prozent der Pflegebedürftigen (im Sinne einer der Pflegestufen des SGB XI) werden von den Angehörigen betreut und versorgt. Es ist nicht nur seit langem bekannt, dass gerade die Pflege der eigenen Angehörigen eine ungemein belastende und oftmals vernutzende Tätigkeit ist, die beispielsweise dazu beiträgt, dass pflegende Angehörige eine deutlich höhere Wahrscheinlichkeit haben, später selbst pflegebedürftig zu werden.

Und in den vergangenen Jahren sind diese Erkenntnisse nicht nur auf den Bildschirm des Gesetzgebers geraten, sondern man hat auch tatsächlich einen ganzen Strauß an Leistungen geschaffen, mit denen verhindert werden soll, dass die pflegenden Angehörigen selbst zu Pflegefällen werden. „Verhinderungspflege“ nennt man das dann. Eine gute Absicht. Und eine, die zugleich auch dazu beitragen kann, erhebliche Folgekosten zu sparen. Wenn denn aus der Absicht auch Wirklichkeit wird. Die Verhinderungspflege ist gewissermaßen das Angebot an pflegende Angehörige, auch mal Urlaub zu machen oder eine Krankheit auskurieren zu können.

Vor diesem Hintergrund muss man dann nicht nur aufhorchen, sondern genau hinschauen, wenn beispielsweise Rainer Woratschka in einen Artikel berichtet: Angehörige rufen Geld nicht ab.: »Für Urlaub oder Ausfall von pflegenden Angehörigen zahlen die Pflegekassen bis zu 1.612 Euro pro Jahr. Doch nur wenige nehmen das Hilfsangebot in Anspruch.« Die Zahlen, die er präsentiert, sind erschreckend: Nach einer Statistik des Bundesgesundheitsministeriums für das Jahr 2014 nutzten »von etwa 1,95 Millionen zu Hause versorgten Pflegebedürftigen lediglich 106.700 die sogenannte Verhinderungspflege zur Entlastung pflegender Angehöriger. Das sind gerade mal 5,4 Prozent. Hochgerechnet ließen sich pflegende Angehörige dadurch Hilfen im Wert von bis zu 2,86 Milliarden Euro entgehen.« Wie kann das sein? Diese Frage muss gestellt und beantwortet werden auch vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Leistungen am Anfang dieses Jahres sogar noch ausgeweitet wurden, denn seitdem übernimmt die Pflegeversicherung bis zu sechs Wochen lang Ersatzpflegekosten von bis zu 1.612 Euro pro Jahr. Vorher waren es vier Wochen, dafür gab es bis zu 1.550 Euro. Und seit Januar gibt es auch Geld für Haushaltshilfen – und zwar pro Pflegefall bis zu 104 Euro im Monat. Bisher hatten nur Demenzkranke Anspruch darauf, sie erhalten nun bis zu 208 Euro.

Eugen Brysch, der Vorsitzende der Deutschen Stiftung Patientenschutz wird mit den Worten zitiert, dass „ein riesiges Hilfsangebot fast gar nicht abgerufen wird“. Und auch zwei weitere Zitate von ihm lassen aufhorchen: „Es reicht nicht, schöne Broschüren zu drucken.“ Und mit Blick auf die zu erfüllenden Voraussetzungen, um die Leistungen zu erhalten: „Man darf den Korb nicht so hoch hängen, dass keiner mehr drankommt.“ Er verweist bereits auf eine mögliche Ursache der erheblichen Unterinanspruchnahme: „Den Menschen bloß Formulare in die Hand zu drücken, kann es ja wohl nicht sein.“ Er plädiert dafür, dass Pflegeberater den Ratsuchenden auch beim Ausfüllen von Anträgen helfen.

Was sagen die Pflegekassen zu dem geringen Interesse an bezahlten Pflegeauszeiten? Sie haben dafür noch keine schlüssige Erklärung. Ein Grund könne sein, dass dafür externe Pflegedienste ins Haus kämen, so einer der Hypothesen – und zwar gerade dann, wenn die eigentlich pflegenden Personen nicht da sind. Und ein zeitweiliger Wechsel aus dem häuslichen Umfeld in fremde Einrichtungen müsse ebenfalls gewünscht sein.

Woratschka berichtet in seinem Artikel von einer Studie der Berliner Charité, in der auf der einen Seite der Entlastungsbedarf der pflegenden Angehörigen herausgearbeitet wurde, aber auch: Knapp ein Viertel der Angehörigen fühlen sich unwohl, wenn plötzlich Fremde die Pflege übernehmen. Viele scheuen sich davor, den Pflegebedürftigen abzugeben oder sich in die eigenen vier Wände schauen zu lassen. Insofern wäre es wichtig, sich zu bemühen, solche Hemmschwellen abzubauen und den Pflegenden die Notwendigkeit von Auszeiten nahezubringen.

Die Problematisierung der Situation der pflegenden Angehörigen wird auch von Susanne Werner in ihrem Artikel unter der bezeichnenden Überschrift Verloren im Irrgarten des Reha-Antrags thematisiert: »Pflegende Angehörige können gemeinsam mit ihren pflegebedürftigen Familienmitgliedern eine Rehabilitation in Anspruch nehmen. Ein Gutachten des BQS-Instituts macht jetzt auf das komplizierte Antragswesen aufmerksam.« Dagmar Hertle, Ärztin am BQS-Institut für Qualität und Patientensicherheit in Düsseldorf, wird mit diesen Worten zitiert: „Für die pflegenden Angehörigen sind die Zugangswege zu einer Rehabilitation bislang nicht ausreichend etabliert. Ihr Reha-Bedarf dringt bislang nicht bis zu den Kliniken durch.“

Im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) hat das BQS-Institut untersucht, in wie weit sich die Angebotsstrukturen in der Rehabilitation bereits auf pflegende Angehörige als Zielgruppe eingerichtet haben. Dies muss vor dem Hintergrund des Pflege-Neuausrichtungsgesetzes (PNG) von 2012 gesehen werden. »Seither ist es für pflegende Angehörige möglich, ihre pflegebedürftigen Eltern, Partner oder Kinder in eine Rehabilitation mitnehmen. Zudem sollten die „besonderen Belange pflegender Angehöriger“ bei der Beurteilung eines Antrags besonders berücksichtigt werden.«

Die Studie arbeitet zwei zentrale Problemstellen heraus:

  • »In der Praxis zeigt sich, dass Zeit und Aufwand, die mit einem Reha-Antrag verbunden sind, viele pflegende Angehörige überfordern. Das Vorgehen erscheint sehr bürokratisch, wenig transparent und oftmals uneinheitlich … Oftmals seien Informationen an unterschiedlichen Stellen einzuholen und nicht selten bleibe es dennoch unklar, wer im konkreten Fall der richtige Kostenträger sei. Die Anträge, in denen der Status „pflegender Angehöriger“ bislang fehlt, müssten mitunter mehrfach gestellt werden.«
  • Hinzu kommt ein erhebliches Problem auf der Angebotsseite: Lediglich 31 der knapp 1.200 Rehabilitations- und Vorsorgeeinrichtungen haben bereits spezifische Angebote für pflegende Angehörige und deren Pflegebedürftige. 

Die Studie gibt auch Empfehlungen: »Um den pflegenden Angehörigen den Weg in die Reha zu erleichtern, empfiehlt sie, die Beratungsleistungen für eine Rehabilitation zu standardisieren und auf kommunaler Ebene zusammenzuführen.«

Immer mehr Eltern hängen am 150 Euro-Betreuungsgeld-Infusionstropf. Ein Erfolg für die CSU. Oder?

Wer hätte das gedacht? Bei den vielen Widerständen und Schmähungen, die im Vorfeld der Einführung des Betreuungsgeldes ausgesprochen wurden. Und man musste sich schon sehr auf die Suche begeben, um irgendeinen Befürworter dieser neuen Geldleistung zu finden, außerhalb der Grenzen des Freistaates Bayern. Man konnte den begründeten Eindruck bekommen, dass dem Betreuungsgeld keine große Zukunft bevorsteht.  Und jetzt das: Die Inanspruchnahme dieser überaus merkwürdigen „Kompensations“- und „Gratifikationsleistung“ steigt und steigt, von Quartal zu Quartal werden neue Höchststände gemeldet. Im ersten Quartal des Jahres 2015 waren es immerhin schon 455.227 „anspruchsbegründende Kinder“, die einen Auszahlungsimpuls gesetzt und zum Ausstoß einer Prämie von 150 Euro pro Monat an die Eltern geführt haben. Ein ordentlicher Anstieg in den zurückliegenden Monaten. Nehmt das, ihr Kritiker dieser als „Kita-Fernhalte“- oder auch „Herdprämie“ geschmähten neuen Leistung. Müssen wir jetzt bei den Helden aus Bayern, die mit ihrer Starrköpfigkeit nicht nur das angeblich ungeliebte Betreuungsgeld, sondern auch die mehr als fragwürdige und allein europarechtlich ziemlich wackelige Maut durchgesetzt haben, Abbitte leisten? Nicht nach Canossa, sondern nach München pilgern? Nein, müssen wir nicht. Und in so einer Situation hilft es immer wieder, wenn man mal einen genaueren Blick auf die Zahlen wirft.

Genau das hat Paul M. Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) wieder einmal geleistet und die Ergebnisse seiner Berechnungen mit einigen Erläuterungen veröffentlicht: Betreuungsgeld: Betreuungsgeldquote im ersten Quartal 2015 weiter leicht gesunken, so hat er seine Mitteilung vom 17.06.2015 überschrieben. Aber wieso gesunken – die Zahlen steigen doch? Schröder klärt auf:

Im 1. Quartal 2015 gab es mit 455.277 Kindern, für die Betreuungsgeld bezogen wurde, einen Anstieg gegenüber dem 4. Quartal 2014, als das Statistische Bundesamt 386.439 „anspruchsbegründende“ Kinder gezählt hat, einen Anstieg von 17,8 Prozent. Aber:

»Dies bedeutet aber nicht, dass der Anteil der Kinder, für die (der Rechtsanspruch) Betreuungsgeld statt (des Rechtsanspruches) „frühkindliche Förderung in Tageseinrichtungen oder in Kindertagespflege …“ in Anspruch genommen wird, gestiegen ist! Die … berechnete/geschätzte „Betreuungsgeldquote“ (die Zahl der „anspruchsbegründenden Kinder“ in Bezug zur Zahl der Kinder im „Betreuungsgeldregelalter“) ist auch im ersten Quartal 2015 nicht gestiegen sondern weiter leicht gesunken. Im vierten Quartal 2014 war die „Betreuungsgeldquote“ erstmals gesunken – von 46,3 Prozent im dritten Quartal 2014 auf 45,3 Prozent. Im ersten Quartal 2015 sank die „Betreuungsgeldquote“ weiter leicht auf 44,5 Prozent.«

Die Auflösung des nur scheinbaren Widerspruchs zu den auch in der Abbildung dargestellten stetig ansteigenden Zahlen der Inanspruchnahme des Betreuungsgeldes geht so:

»Der rechnerische Anstieg der „anspruchsbegründenden Kinder“ (17,8 Prozent) war kleiner als der (geschätzte) Anstieg der Zahl der Kinder im „Betreuungsgeldregelalter“ (15. bis 36. Lebensmonat). Dieser Anstieg betrug etwa 20 Prozent, da die Zahl der Geburtsmonate im „Betreuungsgeldregelalter“ von Dezember 2014 bis März 2015 von 15 (August 20121 bis Oktober 2013) auf 18 (August 20121 bis Januar 2014) zunahm. Bis Juli 2015 wird die Zahl der Geburtsmonate und damit auch die Zahl der Kinder im „Betreuungsgeldregelalter“ weiter (auf 22 Geburtsmonate) wachsen.«

Alles klar? Also erst im Juli 2015 wird die maximal mögliche Anzahl an Kindern im „Betreuungsgeldregelalter“ erreicht sein, bis dahin wird auch die absolute Zahl an Betreuungsgeldfällen weiter ansteigen (müssen).

Wesentlich relevanter als die absolute Zahl an Betreuungsgeldfällen ist die relative Inanspruchnahme dieser neuen Leistung – und die wird eben mit der „Betreuungsgeldquote“ abgebildet. Und wenn man sich die genauer anschaut, dann zeigen sich interessante Strukturen, wie die folgende Abbildung des BIAJ illustriert:

Die erste und offensichtlichste Auffälligkeit ist der enorme Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschland. Im Westen liegt die Betreuungsgeldquote bei 51,8 Prozent und im Osten nur bei kläglichen 14,5 Prozent. Eine Vielfaches niedriger. Die Menschen in den nun auch nicht mehr so „neuen Bundesländern“ zeigen sich als Betreuungsgeldverweigerer. Das passt ja auch noch durchaus in das ideologische Schema vieler. Hier manifestiert sich eben immer noch das Erbe der DDR-Sozialisiation und der damit verbundenen Fokussierung auf die „Fremdbetreuung“ in einer Kita, so die Ableitung daraus.

Aber auch in den westdeutschen Bundesländern zeigen sich erkennbare Unterschiede. In den Stadtstaaten Hamburg und Bremen haben wir die niedrigsten Werte mit unter oder knapp an 30 Prozent – während an der Spitze der Inanspruchnahme zwei Bundesländer besonders herausragen. Nicht das schwarze Bayern auf Platz 1 der Inanspruchnahme, wie manche vermuten würden, sondern das grün-rot regierte Ländle hat es auf das Siegerpodest geschafft. Mit 64,5 Prozent.

Dass es weiterhin gute Gründe gibt, an dieser Kopfschütteln-Leistung zu zweifeln und ihre Abschaffung zu fordern, ist bereits an anderer Stelle dargelegt worden, so beispielsweise in  dem Blog-Beitrag Ach, das Betreuungsgeld. 150 Euro eingeklemmt zwischen dem Bundesverfassungsgericht, den nicht nur bayerischen Inanspruchnehmern, den ostdeutschen Skeptikern und logischen Widersprüchen vom 14. April 2015 oder im vergangenen Jahr am 27. Juli 2014 in dem Beitrag Immer diese Jahrestage. Wie wär’s mit dem Betreuungsgeld?.

Diese Tage erschien in der Fachzeitschrift des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung in München eine Bestandsaufnahme des Betreuungsgeldes von mehreren Autoren – die Bewertung ist und bleibt mindestens skeptisch, überwiegend ablehnend:

Hurrelmann, Klaus, Stefan Sell, Miriam Beblo und Notburga Ott, „Debatte um das Betreuungsgeld: Falsche Anreize für eine moderne Familienpolitik?“, in: ifo Schnelldienst Heft 11, 2015, S. 7-19
Das 2013 eingeführte Betreuungsgeld wurde im April 2015 von Bundesverfassungsgericht auf seine Rechtsmäßigkeit geprüft. Ein Urteil wird im Sommer 2015 erwartet. Nach Ansicht von Klaus Hurrelmann, Hertie School of Governance, Berlin, ist das Betreuungsgeld ein Rückfall der Familienpolitik in veraltete Muster. Seine Einführung sei ein Symptom für eine unentschiedene, widersprüchliche und die Eltern verunsichernde staatliche Familien- und Bildungspolitik und verstärke die Familienfixiertheit der Erziehung und Bildung, die dringend gelockert werden müsste. Auch für Stefan Sell, Hochschule Koblenz, ist das Betreuungsgeld ein fragwürdiges Unterfangen. Man rutsche zwangsläufig in die Fahrrinne einer Monetarisierung von Familienleistungen, an deren Ende eine Art »Elterngehalt« stehen müsste. Derzeit sei auch von erheblichen Mitnahmeeffekten auszugehen. Nach Ansicht von Miriam Beblo, Universität Hamburg, ist das Betreuungsgeld weder modern noch nachhaltig. Diese familienpolitische Maßnahme führe längerfristig zu einer stärkeren Einkommensungleichheit unter den Eltern, hemme die Erwerbsarbeit von Müttern und befördere die Abkoppelung insbesondere der Einkommensschwächeren vom Arbeitsmarkt. Die Verliererinnen seien die niedriger qualifizierten und geringer verdienenden Frauen. Notburga Ott, Ruhr-Universität Bochum, sieht die monetäre Förderung der Erziehungsleistung der Eltern, die in der Gesellschaft große Zustimmung erfährt, im System von Kindergeld und Elterngeld gut verankert. Dagegen habe die Koppelung des Betreuungsgelds an die Nicht-Inanspruchnahme öffentlich geförderter Kinderbetreuung negative Effekte auf die Frauenerwerbstätigkeit und die Bildungschancen der Kinder.