Flüchtlinge: Die Entfaltung der Kräfte des „Marktes“ selbst im Elend und die Ausdifferenzierung einer Flucht- und Überlebenshierarchie nach Zahlungsfähigkeit

Sogar im Elend entfalten sich die Kräfte des „Marktes“ und schaffen nicht nur eine ausdifferenzierte Elendshierarchie, sondern die Menschenhändler, die mit Flüchtlingen ihr Geld verdienen, betreiben selbst „professionelles“ Marketing – alles entlang der Ordnungsachse der Zahlungsfähigkeit.
Hierzu der lesenswerte Artikel Auch Menschenhändler betreiben Marketing von Ulrike Scheffer.
Die Menschenhändler »ziehen dabei alle medialen Register. So gibt es Facebook Seiten, auf denen Schleuser Flüchtlingen aus Afrika oder dem Nahen Osten ganz offen ihre Dienste anbieten. Manche posten auch Fotos, die belegen sollen, dass sie ihre „Kunden“ sicher nach Europa transportieren. Die Seiten werden offenbar rege genutzt. Einige erhalten bis zu 50.000 Likes pro Tag. Das berichtet die Internationale Organisation für Migration (IOM) in ihrem neuesten Bericht „Migrationstrends über das Mittelmeer“ (Migration Trends Across the Mediterranean: Connecting the Dots). Darin werden die aktuellen Fluchtrouten und das Geschäft der Schleuser analysiert.«

Libyen ist Hauptstützpunkt der Schleuser-Mafia – schlichtweg deshalb, weil sie hier ungehindert operieren können, denn die öffentliche Ordnung ist praktisch zusammengebrochen. »Rund 80 Prozent aller Flüchtlinge, die über das Mittelmeer nach Italien gelangen, starten von der libyschen Küste – viele in untauglichen und überfüllten Booten.«

Verbindungsmänner in Marokko oder Tunesien locken dort gestrandete Flüchtlinge aus Afrika nach Libyen. Und so bitter das jetzt hier klingen mag – es „rechnet“ sich auch für die Flüchtlinge, denn: »… ein Platz auf einem Boot von Marokko nach Spanien (kostet) 1300 Euro, die Überfahrt von Libyen nach Italien durchschnittlich nur 500 Euro.«

Alles eine Frage des Preises – so auch hier inmitten der Elendsökonomie. Nicht nur hinsichtlich der Möglichkeit, überhaupt Zugang zur Flucht zu erkaufen, sondern die konsequente Ökonomisierung dieses „Geschäftsfeldes“ geht sogar soweit, dass man sich „Rundumservicepakete“ kaufen kann. Wenn man denn über das Geld verfügt:

»Schleuser haben … auch Zugang zu Flüchtlingen, die von den libyschen Behörden oder einer der Bürgerkriegsmilizen aufgegriffen wurden. Wer genug Geld hat, kann sich mit ihrer Hilfe aus der Haft freikaufen und doch noch nach Europa weiterreisen.«

Und der folgende Absatz aus dem Artikel verdeutlicht in aller zynischen Reinheit, was mit Elendshierarchie gemeint ist:

»Vor allem Syrern, die meist finanziell besser gestellt sind als Flüchtlinge aus Afrika, bieten die Schleuser Rundumservicepakete für eine Flucht bis an den gewünschten Zielort an. Mittelsleute in Italien organisieren dann beispielsweise die Weiterreise nach Deutschland. Gegen Aufpreis gibt es außerdem Schwimmwesten und Plätze an Deck. Afrikaner reisen dagegen eher unter Deck, wo sie bei einer Havarie nur geringe Überlebenschancen haben.«

Um welche Umsatzdimensionen es hier geht, verdeutlicht die folgende Überschlagsrechnung: Nach den vorliegenden Berichten zahlen Mittelschicht-Syrer bis zu 2000 Euro für einen Platz in einem Boot nach Europa. Für eine Überfahrt mit 450 Passagieren kassierten die Schleuser bis zu eine Million Euro.

Scheffer zitiert aus dem Bericht der IOM, dass sich eine Klassen-Gesellschaft unter den Flüchtlingen herausgebildet hat:

»Es gibt unter Flüchtlingen eine Zwei-Klassen-Gesellschaft. Während Syrer teilweise per Flugzeug zunächst nach Ägypten fliehen und von dort aus über Land die relativ kurze Weiterreise nach Libyen antreten, sind Flüchtlinge aus afrikanischen Staaten oft monatelang unterwegs und reisen unter widrigsten Bedingungen. Weil sie nur selten das Geld für die gesamte Reise aufbringen können, müssen sie Zwischenstopps einlegen und versuchen, Geld für die nächste Etappe zu verdienen. Hauptdrehscheiben sind dabei Agadez in Niger und Gao in Mali. Hier sitzen auch Schleuser, die den Weitertransport organisieren.«

Dass Frauen besonders leiden müssen, wird auch explizit ausgeführt. Von sexuellen Dienstleistungen für die, die ihnen helfen sollen bei der Flucht bis hin zur organisierten Zwangsprostitution ist alles dabei.

Mittlerweile hat sich sogar eine eigene Menschenhändlerindustrie unterhalb der Flüchtlingsindustrie entwickelt, die für Nachschub in den europäischen Bordellen sorgt: In dem IOM-Bericht wird vermerkt, »dass immer mehr Frauen, vor allem aus Nigeria und neuerdings auch aus Kamerun, schon in ihren Heimatländern verschleppt werden, um sie in Europa in die Prostitution zu zwingen. Die IOM spricht von einem Anstieg von 300 Prozent des Frauenhandels zwischen Afrika und Europa im vergangenen Jahr. Den Frauen werde entweder eine Arbeit als Haushaltshilfe versprochen, oder die Entführer drohten ihnen, dass ihrer Familie ein Unglück widerfahre, wenn sie sich widersetzten.«

Übrigens – das Elend ist immer auch noch miteinander verwoben: Derzeit vergeht ja bei uns in der Festung Europa kein Tag, an dem nicht über Griechenland berichtet und gestritten wird. Und dem Land droht bei allen massiven sozialen Verwerfungen, die jetzt schon in Griechenland nach Jahren der Krise beobachtet werden muss, demnächst weitere „Einsparungen“, was bedeutet, dass es den normalen Menschen noch schlechter gehen wird. Gleichzeitig aber entwickelt sich Griechenland zu einer Art „Konkurrent“ zu Italien, was die Verschiebung der Zielrouten der Flüchtlinge angeht. Darauf verweist IOM in einer neuen Pressemitteilung:

»The Greek islands near Turkey’s coast now rival Italy as the top destination for irregular migrants seeking entry into the EU by sea this year, signaling the shift from the central Mediterranean route to the Eastern route. Some 61,000 migrants have arrived by sea to Greece this year, nearly doubling 2014’s full-year total of 34,442. So far, around 65,000 migrants have arrived via the sea route to Italy, according to IOM estimates, which has proven to be a much deadlier passage with at least 1,820 fatalities this year …«.

Die Webseite der International Organization for Migration (IOM): www.iom.int.  Ein Besuch dieser Seite lohnt, man findet eine Fülle an Berichten über die Situation von Flüchtlingen auf der ganzen Welt.

Deutsche Post DHL bald allein zu Haus? Noch nicht. Zur Post-Variante modernen Streikbrechertums. Dazu gehört: Festes Schuhwerk mitbringen

Gegen die Ausgliederung von Unternehmensteilen haben mittlerweile mehr als 32.000 der insgesamt etwa 140.000 inländischen Beschäftigte der Post ihre Arbeit niedergelegt. So die Angaben der Gewerkschaft ver.di. Die Fronten zwischen Verdi und der Post sind verhärtet. Um seine Lohnkosten zu drücken und auf Dauer mit der billigeren Konkurrenz auf dem Paketmarkt mithalten zu können, hat der Konzern die Paketzustellung teilweise in neue Regionalgesellschaften mit niedrigeren Löhnen ausgelagert. Die Hintergründe sind hier in mehreren Beiträgen dargestellt und eingeordnet worden, vgl. beispielsweise Endlich viele neue Jobs. Und dann wieder: Aber. Die Deutsche Post DHL als Opfer und Mittäter in einem Teufelskreis nach unten vom 25.01.2015, Billiger, noch billiger. Wo soll man anfangen? Karstadt, Deutsche Post DHL, Commerzbank … und Primark treibt es besonders konsequent vom 08.02.105 oder Die Deutsche Post DHL schiebt den Paketdienst auf die Rutschbahn nach unten und einige sorgen sich um Ostergrüße, die liegenbleiben könnten vom 30.03.2015.
Seit drei Wochen nun bestreikt die Gewerkschaft ver.di die Deutsche Post DHL.

Und die Folgen werden immer offensichtlicher, zumindestens berichten viele Medien über einen enormen Rückstau an Sendungen in den Verteilzentren und teilweise müssen Lagerhallen angemietet werden für die Postsendungen, die ihren Empfänger nicht erreichen können. Der Konzern versucht dagegen zu halten, erst am Wochenende wieder durch Sonntagsarbeit bis hin zur Beschäftigung von Freiwilligen und Mitarbeitern aus „Kundenunternehmen“ – aber vor allem durch den Einsatz von Streikbrechern aus Osteuropa. Und da geht es – neben dem Sonderfall des Einsatzes von Beamten – wieder um Leiharbeit und Werkverträge. Wenn man diese Instrumente kombiniert mit der Ausnutzung des enormen Wohlstandsgefälles zwischen Deutschland und Osteuropa, dann bekommt man die Umrisse modernen Streikbrechertums.

In der Print-Ausgabe der FAZ vom 26.06.2015 wird darüber in dem Artikel „Freiwillige Paketzusteller dringend gesucht“ berichtet. Und das, was man dort zu lesen bekommt, entbehrt nicht bei allem Ernst der Lage einer gewissen Situationskomik:

»Der Konzern trommelt seine Hilfstruppen zusammen, um sich auf die vierte Streikwoche vorzubereiten. „Die Lage ist unverändert – speziell in der Paketzustellung“, heißt es in einer Rundmail, mit der die Post um neue Freiwillige in der Paketzustellung wirbt. Gesucht werden Ausputzer für Hamburg, Düsseldorf, Nürnberg und Berlin, mindestens für drei Tage, möglichst aber für die ganze kommende Woche. Wohnen werden sie auf Kosten der Post im Hotel, die Buchung „erfolgt über die Kollegen direkt vor Ort“. Damit die Pakete in der fremden Stadt auch ankommen, muss improvisiert werden. Navigationsgeräte sind bei der Post anscheinend Mangelware. „Um die Zustelladressen finden zu können“, sollen die Freiwilligen von zu Hause mitbringen, was so da ist, egal ob Smartphone oder TomTom, „idealerweise mit Fahrzeugladegerät“, steht in der Mail. Auch Dienstkleidung ist rar. T-Shirts mit DHL/Post-Logo stünden „vermutlich“ zur Verfügung, aber alles andere, vor allem festes Schuhwerk, sollen die Freiwilligen in den Koffer packen.«

Beamte und Freiwillige füllen im Arbeitskampf derzeit einige Lücken. Gegen den Beamteneinsatz als Streikbrecher klagt Verdi vor dem Arbeitsgericht Bonn, das kommenden Donnerstag entscheiden will, vgl. hierzu den Artikel Ver.di bringt Streit um Beamteneinsatz erneut vor Gericht. Wohl wesentlich relevanter ist der Einsatz von ausländischen Streikbrechern.

»Zusätzlich greift der Konzern in großem Stil auf Leiharbeitnehmer zurück. Nach Recherchen von Verdi sind rund 2.300 dieser Aushilfen im Einsatz, darunter viele aus Osteuropa. Fast 2.000 Leiharbeitnehmer seien allein in den Paketzentren beschäftigt.«

Anwendung findet dabei das Instrumentarium der Leiharbeit in Kombination mit Werkverträgen. Denn die Rechtslage ist an sich kompliziert. Aus der deutschen Binnenperspektive ist erst einmal hervorzuheben, dass das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz ausführt, dass Leiharbeiter nicht gegen ihren Willen als Streikbrecher eingesetzt werden dürfen. Nun wird man bereits an dieser Stelle mit einer ordentlichen Portion Zweifel anmerken können und müssen, dass es wie so oft einen Unterschied geben kann und wird zwischen Theorie und Praxis, denn auch wenn Leiharbeiter theoretisch das Recht haben, sich einem solchen Einsatz zu verweigern, dann wird es in praxi angesichts der prekären Lage, in der sich viele Leiharbeiter befinden, zweifelhaft sein, ob sie eine solche Verweigerung auch tatsächlich realisieren können.

In dem FAZ-Artikel wird dazu auch ein Konzernsprecher der Deutschen Post selbst zitiert:

Die Post arbeite seit Jahren mit unterschiedlichen Zeitarbeitsfirmen in der EU zusammen, auch im Falle von Streiks greife man auf deren Mitarbeiter zurück. „Dabei hält sich die Deutsche Post AG an alle gesetzlichen Vorschriften, das heißt, wir setzen nicht rechtswidrig Streikbrecher ein.“

Die über den DGB-Tarifvertrag gebundenen Leiharbeitsfirmen stellen keine Arbeitnehmer für bestreikte Arbeitsplätze ab. Deshalb geht ja die Deutsche Post auch einen anderen Weg: Die Post kooperiert entweder mit nichttarifvertragsgebundenen Unternehmen oder sie zieht einen Werkvertrag dazwischen. Dadurch läuft die Streikklausel des DGB-Tarifvertrages und ebenso das gesetzlich normierte Leistungsverweigerungsrecht für Leiharbeitnehmer ins Leere.

Welche Formen das dann praktisch annehmen kann, schildert Kirsten Bialdiga in ihrem Artikel Aushilfen aus dem Container: »Während Tausende Mitarbeiter streiken, setzt die Post slowakische Saisonarbeiter ein. Ein Teil von ihnen lebt in beengten Unterkünften. Betriebsräte sind deshalb empört: Der Konzern nutze „die Notsituation dieser Leute“ aus«, so beginnt ihr Bericht.

»Kanariengelb sind sie angestrichen, die Container. Gelb wie die Farbe der Deutschen Post. Doch in diesen Containern im Münsterland lagern keine Päckchen oder Briefe. In diesen Containern wohnen Saisonarbeiter aus der Slowakei, die für die Post arbeiten. Dicht an dicht stehen die Behausungen, in mehreren Reihen an unbefestigten Wegen auf dem Gelände eines Gartenbaubetriebes. Zur Schicht im Paketzentrum im nahegelegenen Greven werden die Arbeiter von einem Bus abgeholt, später wieder zurückgebracht.
Drinnen im Container ist es dunkel, das Auge muss sich erst an das Dämmerlicht gewöhnen. Im hinteren Teil stehen vier Stockbetten, davor ein paar primitive Regale. Der Raum in der Mitte ist so schmal, dass schon eine Person sich kaum umdrehen kann, ohne irgendwo anzustoßen. Geschweige denn vier. So viele sind es, die sich mitunter einen dieser Wohncontainer teilen.«

Offensichtlich arbeitet die Deutsche Post hier mit Bedingungen, wie man sie in Deutschland sonst eher beim Spargelstechen oder in der Fleischindustrie findet. Werden sie wenigstens ordentlich bezahlt? Keine Frage, so die Post: »Der Stundenlohn betrage für alle Arbeiter inklusive der Zuschläge und Zulagen 13 Euro.«

Kirsten Bialdiga befragt die Arbeiter in den Containern. Auf den ersten Blick scheint das zu stimmen, was die Post behauptet: » Er verdiene zehn Euro in der Stunde plus Zuschläge, sagt er. Also in etwa 13 Euro«, so wird ein Arbeiter zitiert. Also alles in Ordnung? Offensichtlich nicht, denn:

»Doch dann gibt der slowakische Arbeiter etwas zu Protokoll, das die Rechnung verändern würde. Für den Wohncontainer, sagt der junge Mann, zahle er pro Tag zehn Euro Miete. Das wären 300 Euro im Monat. Dass die Arbeiter für ihre beengte Unterkunft zahlen müssen, bestätigte auch ein Insider, der nicht Arbeitnehmerkreisen zuzurechnen ist.«

Und am Ende des Artikels wieder der Hinweis auf das, was man als „Asymmetrie“ am Arbeitsmarkt bezeichnen kann – oder aber schlicht als Ausnutzung des Wohlstandsgefälles zwischen hier und Osteuropa, auf dem weite Bereiche des modernen Tagelöhnertums in unserem Land basieren: Der Arbeiter, der gegenüber der Journalistin Auskunft erteilt hat, »braucht Geld, und deshalb ist er in Deutschland. So sehen es auch seine Kollegen. Nicht alle sind daher über seine Auskünfte erfreut. Ein Landsmann stellt sich den Besuchern in den Weg, er will, dass sie gehen. Zu groß sei die Sorge, dass es Konsequenzen geben könnte, dass sie ihren Job verlieren.«

Wenn man irgendwo reingeht, sollte man vorher wissen, wie man wieder rauskommt. Das Schlichtungsergebnis im Tarifstreit der Sozial- und Erziehungsdienste – ein echtes Dilemma für die Gewerkschaften

Auch wenn es mit Blick auf die Sozial- und Erziehungsdienste unangebracht erscheint, sei dieser Beitrag dennoch mit einer der zentralen strategischen Weisheiten aus dem Militärwesen eröffnet. Wenn man irgendwo reingeht, sollte man vorher wissen, wie man wieder rauskommt. Was passieren kann, wenn man sich daran nicht hält, mussten wir gerade in der jüngeren Vergangenheit an mehreren Stellen auf dieser Welt zu Kenntnis nehmen. Letztendlich trifft diese grundlegende strategische Weisheit auch und gerade auf Arbeitskämpfe zu, mit deren Hilfe ein bestimmtes Ziel erreicht werden soll und bei denen es sich nicht um irgendwelche Verzweiflungsaktionen handelt.  Man muss davon ausgehen, dass diese Überlegungen auch im Vorfeld des unbefristeten Streiks der Beschäftigten in den kommunalen Sozial- und Erziehungsdiensten, vor allem in den kommunalen Kindertageseinrichtungen, von den Gewerkschaften Verdi und die GEW angestellt und mit der notwendigen Sorgfalt abgewogen worden sind.

Dabei stellen sich von außen betrachtet zwei grundsätzliche Fragen: Ist die Streikbereitschaft der organisierten Beschäftigten, vor allem der Erzieherinnen in den Kitas, ausreichend vorhanden, um nicht nur einen Warnstreik von ein oder zwei Tagen durchzuführen, sondern eben in eine unbefristete Auseinandersetzung zu gehen, die erfahrungsgemäß eine ganz andere Qualität entfaltet, je länger sie andauert. Ich muss zugeben, dass ich genau an dieser Stelle im Vorfeld des Streiks erhebliche Fragezeichen gesetzt habe. Ich war mir nicht wirklich sicher, ob die Erzieherinnen zu einem größeren Arbeitskampf bereit und in der Lage wären. Aber gerne gebe ich zu, dass ich die Motivation und die dann auch tatsächlich erkennbare Streikleistung Beschäftigten unterschätzt habe. Hinzu kommt allerdings eine zweite grundsätzliche strategische Frage, über die man sich im Vorfeld einer solchen Aktion klar sein muss: Besteht eine realistische Chance, die Arbeitgeberseite durch den Arbeitskampf dermaßen unter Druck zu setzen, dass man die – sicher nicht alle – eigenen Forderungen in einem substanziellen Umfang wird durchsetzen können oder aber gibt es spezifische Bedingungen, die eine solche Wahrscheinlichkeit eher gegen Null gehen lassen, was dann erhebliche Auswirkungen hätte auf die Frage, ob man seine eigenen Leute in eine solche Schlacht führt, die mit einer relativ hohen Wahrscheinlichkeit in einer Niederlage enden muss.

Und an dieser Stelle muss man darauf hinweisen, dass die Konstellation beim unbefristeten Streik der  kommunalen Sozial- und Erziehungsdienste in mehrfacher Hinsicht als überaus komplex zu charakterisieren ist, um das noch freundlich auszudrücken.  Denn es handelt sich beim aktuellen Tarifkonflikt nicht um eine „klassische“ Tarifauseinandersetzung, in der um mehr oder weniger Prozente gestritten wird. Denn der TVöD – Sozial- und Erziehungsdienst (TVöD – SuE) in seiner bestehenden Form läuft noch bis zum 29.02.2016. Anders ausgedrückt: Im Frühjahr des kommenden Jahres wird es erneut normale Tarifverhandlungen über die Vergütung geben. Denn die Anhebung um +2,4 Prozent zum 01.03.2015 ist die zweite Stufe des Abschlusses der Tarifrunde 2014, die eine Entgelterhöhung in 2 Stufen gebracht hat: Zum 01.03.2014: + 3,0 Prozent mindestens aber 90 €. Und eine zweite Erhöhung, zum 01.03.2015, um + 2,4 Prozent. Im kommenden Jahr gibt es also die nächste Tarifrunde.

Hintergrundinformation zum TVöD – SUE: Der Tarifvertrag öffentlicher Dienst (TVöD) gilt seit dem 1. Oktober 2005 für alle Beschäftigten beim Bund und bei den Kommunen. Er hat den bis dahin geltenden BAT abgelöst. Im Juli 2009 haben sich die Gewerkschaften und die kommunalen Arbeitgeber nach einer langwierigen Tarifauseinandersetzug mit ersten größeren Arbeitskampfaktionen darauf geeinigt,  für die Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst eine neue Entgeltordnung und eine eigene Entgelttabelle zu schaffen. Darüber hinaus wurden Vereinbarungen zur betrieblichen Gesundheitsförderung getroffen.

Offensichtlich geht es beim aktuellen Streit um etwas anderes. Die Gewerkschaften belegen das, worum es hier geht, mit dem Begriff und zugleich dem Ziel „Aufwerten“. Die Beschäftigten sollen besser vergütet werden, aber nicht durch „normale“ prozentuale Anhebungen dessen, was sie im bestehenden System verdienen, sondern durch eine Anhebung der Eingruppierung der Beschäftigten. Wenn also eine Erzieherin derzeit in der Entgeltgruppe S 6 eingruppiert ist, dann soll sie – so der Ansatz der Forderung – in Zukunft mehrere Gruppen höher gehoben werden. Beim „Aufwerten“ geht es also zum einen um eine höhere Eingruppierung der Fachkräfte wie auch um eine Anpassung und Modernisierung der Tätigkeitsmerkmale, die den einzelnen Gruppen zugeordnet sind und die angesichts der rasanten Entwicklung und Veränderung der pädagogischen Arbeit nicht mehr zeitgemäß sind.

Zugleich haben nicht nur die Beschäftigten in den kommunalen Kindertageseinrichtungen gestreikt, sondern auch beispielsweise Sozialarbeiter aus den Jugendämtern oder Fachkräfte aus den Einrichtungen der Behindertenhilfe – aber davon hat die Öffentlichkeit so gut wie gar nichts mitbekommen, wenn, dann wurde immer über den „Kita-Streik“ gesprochen und berichtet.

Grundsätzlich gab und gibt es in der breiten Öffentlichkeit ein großes Verständnis für die Forderung, dass gerade die pädagogischen Fachkräfte in den Kindertageseinrichtungen besser gestellt werden sollten. Das ist sicherlich auch ein Ergebnis der Diskussion in den zurückliegenden Jahren über den Ausbau der Kindertagesbetreuung, vor allem für die Kinder unter drei Jahren. Außerdem ist es immer deutlicher geworden, welche veränderte Bedeutung den Kindertageseinrichtungen eben nicht nur als Betreuungseinrichtungen, sondern auch als eine wichtige Städte der Erziehung und Bildung der Kinder in einem überaus sensiblen Altersrahmen zukommt. Also insgesamt eine so gesehen ganz gute Voraussetzung für die Durchsetzung einer realen Aufwertung, also eine, die sich in der Eingruppierung niederschlagen müsste.

Aber schon ein erster Blick auf die Gegenseite kann verdeutlichen, dass wir es hiermit eine überaus schwierigen Gefechtslage zu tun haben. Es handelt sich bei den kommunalen Arbeitgebern eben nicht um „normale“ Unternehmen, die bei einem Streit ihrer Beschäftigten sofort und unmittelbar von den Folgen betroffen wären in Form von Produktions- und damit Einnahmeausfällen. Wenn beispielsweise die IG-Metall die großen Automobilhersteller bestreiken würde, dann würden Tag für Tag Schäden in Millionenhöhe für das Unternehmen entstehen und damit hätte die Gewerkschaft natürlich ein enormes Druckpotenzial gegenüber dem Arbeitgeber.

Bei den kommunalen Arbeitgeber im Bereich der Kindertageseinrichtungen sieht es hingegen völlig anders aus. Man kann es sogar zuspitzen: Wenn die Kitas bestreikt werden, dann hat die Kommune keinen monetären Verlust zu beklagen, sondern – wie in vielen Kommunen auch beobachtet werden muss – man spart sogar Geld, da man während des Streiks keine Personalausgaben für die streikenden Erzieherinnen hat. Das ist ein strukturelles, ein systematisches Problem, wenn wir über Streiks in personenbezogenen Dienstleistungsbereichen reden, die nicht so aufgestellt sind wie „normale“ Unternehmen. In der gleichen Dilemma-Situation befindet sich übrigens auch die Pflege. Die Gewerkschaften Verdi und GEW haben also nicht die kommunalen Arbeitgeber direkt bestreiten können, sondern gleichsam deren „Kunden“, also die Eltern und ihre Kinder. Letztendlich muss man angesichts dieser Konstellation darauf hoffen, dass der Druck, der auf der „Kundenseite“ aufgebaut wird, gleichsam über Bande gespielt an den kommunalen Arbeitgeber weitergereicht wird. Es ist müßig, dieser Stelle darüber zu diskutieren, warum es so war und ob es anders hätte sein können: Aber man muss zur Kenntnis nehmen, dass in den Wochen des unbefristeten Streiks der Erzieherinnen es nicht gelungen ist, die Wut und die zunehmende Verzweiflung der betroffenen Eltern  gegen die kommunalen Arbeitgeber zu richten, sondern die Berichterstattung und damit auch große Teile der öffentlichen Wahrnehmung verengten die Perspektive auf eine angebliche „Schuld“ der streikenden Fachkräfte in den Einrichtungen.

In den ersten Wochen des Arbeitskampfes kam von Seiten der Arbeitgeber – nichts. Sie sind einfach auf Tauchstation gegangen und haben die Entwicklung laufen lassen. Dafür gibt es sicherlich unterschiedliche Gründe. Zum einen konnten sie sich darauf verlassen, dass die Medienmaschinerie ab einem bestimmten Zeitpunkt, also dann, wenn die überaus schmerzhaften Folgen eines lang andauernden Streiks für Eltern sichtbar werden, mit vollem Einsatz über die Folgen für die betroffenen Eltern berichten wird und die Stimmung zu kippen droht. Darüber hinaus gibt es aber auch strukturelle Gründe, dass die Kommunen mit einem Totstell-Reflex reagiert haben.
Dazu gehört zum einen die Tatsache, dass die Kommunen jede Verbesserung hinsichtlich der Vergütung der Fachkräfte in den kommunalen Kindertageseinrichtungen (sowie den anderen Einrichtungen, die aber kaum Beachtung finden) sofort und unmittelbar in ihren Haushalten zu spüren bekommen denn aufgrund der spezifischen Finanzierungsstrukturen im System der Kindertagesbetreuung sind die Kommunen nun mal der Hauptkostenträger in diesem Bereich. Das an sich ist schon ein schweres Argument, sich die Forderung zu verweigern.

Hinzu kommt allerdings ein weiterer Tatbestand: Wie gesagt, es geht bei diesem Tarifkonflikt nicht um eine „normale“ Erhöhung der Tarife, sondern um eine neue Systematik der Eingruppierung im Sinne einer von den Gewerkschaften angestrebten Höhergruppierung der Beschäftigten. Den Kommunen war und ist klar, dass wenn sie den Erzieherinnen und dem anderen Personal in den Kindertageseinrichtungen mit einer entsprechenden Aufwertung entgegenkommen würden, dass dann das gesamte Tarifgefüge im kommunalen Dienst ins Rutschen kommen könnte bzw. wird. Denn natürlich würden die anderen Beschäftigtengruppen dies zum Anlass nehmen, ebenfalls eine entsprechende höhere Bewertung ihrer Tätigkeiten zu verlangen.

Für die Gewerkschaften erschwerend kommt der Tatbestand hinzu, dass sich der Ausstand ausschließlich auf die kommunalen Kindertageseinrichtungen beziehen kann, diese aber nur noch eine Minderheit der Kita-Plätze überhaupt anbieten, denn der größte Teil befindet sich in Hand der so genannten freien Träger, vor allem bei den kirchlichen Trägern. Und die Beschäftigten dort unterliegen einem Streikverbot, d.h., auch wenn sie wollten, können sie gar nicht in einen Arbeitskampf gehen.

Insofern – und darauf habe ich frühzeitig und immer wieder hingewiesen – kann und wird es eine im Sinne der Beschäftigten substantiell positive Lösung dieses Problems nur geben können, wenn die Finanzierungsfrage angegangen und gelöst wird, also die derzeit gegebene völlig verzerrte Kosten-Nutzen-Verteilung vom Kopf auf die Füße gestellt wird, in dem der Bund endlich in umfängliche Art und Weise in die Regelfinanzierung der Kindertageseinrichtungen (und der Kindertagespflege) eingebunden wird. Nur dann bekommen die Kommunen die notwendigen finanziellen Freiheitsgrade, um zum einen die Vergütung der pädagogischen Fachkräfte erkennbar anzuheben und gleichzeitig auch die mindestens, wenn nicht noch deutlich wichtigere Aufgabe einer Verbesserung der Personalschlüssel anzugehen.

Vor diesem Hintergrund musste es so kommen, wie es gekommen ist. Der Streik wurde ausgesetzt, um in ein Schlichtungsverfahren einzusteigen. Und die Schlichter haben eine Empfehlung abgegeben, die – auch wenn man sich etwas anderes wünschen würde – eine mehr als schwere Kost für das Gewerkschaftslager darstellt. Die angestrebte systematische Aufwertung wird nicht stattfinden, stattdessen gibt es eine Erhöhung der Geldbeträge in einem Korridor von 2 – 4,5 Prozent, aber in der bestehenden Vergütungsstruktur bzw. die überaus pragmatischen Schlichter schlagen vor, die etwas angehobenen Beträge in der Vergütungsgruppe S 6 einfach mit einem neuen Etikett zu versehen, auf dem jetzt S 8a steht, so dass man der geneigten Öffentlichkeit eine „Aufwertung“ symbolhaft verkaufen kann.

Ds wird auch an anderer Stelle kritisch gesehen. In einem Kommentar schreibt Detlef Esslinger unter der mehr als deutlichen Überschrift Ruhigstellung für die Alten – kaum Verbesserungen für die Jungen: »Der Schlichterspruch ist schwach; eine Perspektive für Angestellte im Sozial- und Erziehungsdienst fehlt nach wie vor.« Und weiter:

»Man muss sich nur mal anschauen, was das Ergebnis der Schlichtung ist. Bei den Kinderpflegern: Die Jüngsten bekommen 61 Euro mehr, die Ältesten jedoch 110 Euro. Bei den Erzieherinnen: 55 Euro mehr für die Jüngsten, doch 161 Euro mehr für die Ältesten. Ach je. Auch bei Tarifkonflikten gibt es offensichtlich einen Unterschied zwischen den Argumenten, mit denen die Öffentlichkeit gewonnen werden soll – und jenen, die am Ende wirklich zählen. Wäre tatsächlich die leichtere Rekrutierung von Nachwuchs das Kernanliegen von Verdi und Co., hätten die Gewerkschaften besonders auf Verbesserungen für die Jüngeren bestanden. Wäre es ihnen um die Qualifizierung des Personals für neue Aufgaben gegangen, hätten sie eine Verknüpfung von höherer Bezahlung und Teilnahme an Fortbildung angestrebt …  So endet dieser Konflikt mit einer Ruhigstellung: nämlich derjenigen älteren Aktivisten, die das Gros der Mitglieder, also auch der Streikenden stellen.«

Nun muss man allerdings einschränkend anmerken, dass es sich bislang nur um eine Empfehlung der Schlichter handelt, die von beiden Seiten angenommen und entsprechend vertraglich umgesetzt werden muss. Und es ist klar, dass die Kröte, die die Gewerkschaft zeitlicher schlucken muss, für nicht wenige Mitglieder zu groß ist. Insofern besteht ein erheblicher Diskussionsbedarf innerhalb der Gewerkschaften, ob man diesen Schlichtungsspruch akzeptieren soll. Aus Sicht der Führungsebene beider Gewerkschaften besteht daran aber gar kein Zweifel mehr, man muss seine Bodentruppen jetzt nur in diese Richtung bewegen. Denn eine Ablehnung würde bedeuten, dass man erneut in den Arbeitskampf ziehen müsste, und ganz offensichtlich hat die Führungsebene kalte Füße bekommen, was die Zielerreichungswahrscheinlichkeit in diesem Konflikt angeht.

Auch wenn es immer so schön heißt, dass man hinterher schlauer ist, muss an dieser Stelle doch der Hinweis darauf gegeben werden, dass man angesichts der beschriebenen überaus schwierigen Konstellationen bereits vorher zu der Erkenntnis hätte kommen können, dass man sich diesen Arbeitskampf wirklich mehrmals überlegen sollte.

Bei der Streikdelegiertenversammlung der Gewerkschaft Verdi hat es erwartbar viel Unmut und wohl auch Ablehnung gegeben. Die Reaktion darauf ist organisationspolitisch rational: Man lässt jetzt alle abstimmen und damit die sich mit der Sache vertraut machen können, wird jetzt erst einmal vier Wochen diskutiert und abgestimmt. Und dann muss man wissen, dass für eine Annahme des Schlichtungsergebnisses eine Zustimmung von 25 Prozent ausreichen würde.

Ein Bestandteil des Schlichterspruchs ist besonders perfide für die Gewerkschaften: Gemeint ist hier die vorgesehene Laufzeit von fünf langen Jahren. In dieser Zeit würde dann also an der Front der Eingruppierungssystematik Ruhe herrschen. Und wenn man ganz schlecht drauf ist, dann kann man hinsichtlich der im Schlichtungsspruch enthaltenden Erhöhungen der Tarife (die allerdings nicht für alle Beschäftigtengruppen, sondern nur für einige) auch dadurch weiter relativieren, dass man ein Szenario an die Wand wirft, das so aussieht:  Im nächsten Frühjahr, wenn die nächste normale Tarifrunde ansteht, werden die kommunalen Arbeitgeber versuchen, einen Teil der jetzigen Erhöhungen durch eine entsprechende Dämpfung bei der dann zugestandenen Erhöhung  für alle kommunal Beschäftigten wieder zurückzuholen. Aber das ist natürlich nur ein Szenario.