Der Mindestlohn ist schlecht, sagen die Wirtschaftsweisen. Einer von ihnen sagt das Gegenteil. Schauen wir also mal genauer hin

Wie jedes Jahr im November haben die so genannten „fünf Wirtschaftsweisen“ ihr voluminöses Jahresgutachten vorgelegt. Eigentlich sollen die ja eine Prognose geben, wie sich die Wirtschaft in den vor uns liegenden Monaten entwickeln wird. Aber sie haben im Laufe der Jahre ihren Auftrag immer weiter ausgedehnt und so nehmen die „weisen Ökonomen“ alles vor die Flinte, was sie für relevant halten. Da kann und darf es nicht überraschen, dass sie sich in diesem Jahr auch dem Mindestlohn „zuwenden“, wobei man das rein als Richtungs-Begriff verstehen sollte, nicht aber so, wie wir umgangssprachlich Zuwendung verstehen würden. Denn – so wird es morgen in allen Zeitungen stehen und so kann man es heute am Tag der Verkündigung auch schon online lesen – der Mindestlohn ist schlecht. So packt beispielsweise die FAZ den ganzen Geist, den das diesjährige Jahresgutachten atmet, in die Artikelüberschrift „Mit Umverteilen und Ausruhen ist es nicht getan„. Das vernichtende Fazit des Sachverständigenrates zu den bisherigen Koalitionsverhandlungen bezieht sich vor allem auf sozialpolitisch relevante Themen. Die Wirtschaftsweisen »nennen die schwarz-roten Pläne „rückwärtsgewandt“ und kritisieren zentrale Vorhaben wie einen gesetzlichen Mindestlohn, eine Mietpreisbremse, die Rentenpläne oder die angestrebte Reform der Ökostromförderung.« Also eigentlich alles. Aber hier interessiert besonders der Mindestlohn.

Das Gutachten kann man als PDF-Datei auf der Website des Sachverständigenrates abrufen:

Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Gegen eine rückwärtsgewandte Wirtschaftspolitik. Jahresgutachten 2013/14. Wiesbaden, November 2013

In dem neuen Jahresgutachten gibt es ein ganzes Kapitel zum Thema „Arbeitsmarkt: Institutionelle Rahmenbedingungen für mehr Flexibilität“ (S. 248 ff.). Darin wird natürlich auch die Frage nach dem Mindestlohn behandelt.

Die weisen Ökonomen beginnen ihre Argumentation mit einer so typischen Feststellung: Ein Mindestlohn können „wesentliche Einschränkung des Lohnbildungsprozesses“ hervorrufen: »Vor allem in einem schwachen konjunkturellen Umfeld können diese als Sperrklinken wirken, indem sie ein Lohnniveau festschreiben, das über der Arbeitsproduktivität vieler Arbeitsuchender liegt. Leidtragende sind dabei vor allem Geringqualifizierte sowie jüngere und ältere Arbeitsuchende.«

Ach, wenn es denn so einfach wäre wie in dieser Modellwelt der Ökonomen. Das Produktivitätsargument wird einem gerade immer um die Ohren gehauen – und geht doch an der Realität vieler Arbeitsplätze vorbei darunter Millionen Menschen, die im Bereich der personenbezogenen Dienstleistungen arbeiten. Ich habe das in einem anderen Blog-Beitrag bereits mal auseinandergenommen: „Mit Gottes Hilfe gegen den gesetzlichen Mindestlohn? Was bleibt, sind immer wieder solche Behauptungen: Die Gefährdung der Tarifautonomie, die angeblich ganz vielen Ungelernten im Niedriglohnsektor und die Produktivitätsfrage„.

Aber weiter im Text. Die Wirtschaftsweisen stehen nun vor dem Problem, dass sie zur Kenntnis nehmen müssen, dass es eben nicht so ist, wie Wirtschaftslobbyisten wie Prof. Hüther vom Institut der deutschen Wirtschaft einfach mal so behaupten, dass ganz viele Studien zeigen, dass der Mindestlohn Jobs kosten würden. Sehr schön, mit welcher Formulierungskunst im Jahresgutachten versucht wird, das zu ummänteln – hier zu der Frage nach den Beschäftigungswirkungen von Mindestlöhnen:

»Die empirische Evidenz ist … uneinheitlich, was unter anderem daran liegt, dass meist keine geeignete kontrafaktische Situation konstruiert werden kann, die als Kontrast zu der beobachteten Einführung oder Erhöhung von Mindestlöhnen dient. Während beispielsweise Entlassungen nach Einführung oder Anhebung eines Mindestlohns direkt beobachtet werden könnten, ist dies im Hinblick auf unterlassene Einstellungen nicht möglich.«

Alles klar? Also wenn keine Entlassungen beobachtet werden können (was schlecht ist für die Mindestlohngegner), dann könnte es ja sein, das ansonsten getätigte Einstellungen vorgenommen worden wären, wenn kein Mindestlohn …

Aber sie geben sich mühe, dass muss man ihnen lassen. Hier z.B.: »Die von Mindestlöhnen geschaffene Lohnrigidität nach unten dürfte seitens der Unternehmen regelmäßig durch geringere Lohnzuwächse in den höheren Lohngruppen ausgeglichen werden … Während also einige Beschäftigte im unteren Bereich der Lohnverteilung Einkommensgewinne erzielen, verlieren andere ihren Arbeitsplatz oder müssen geringere Lohnzuwächse hinnehmen.« Warum eigentlich? Was ist beispielsweise mit dem angeblich enormen Fachkräftemangel in den Bereichen, die oberhalb des Mindestlohns liegen? Der müsste doch nach allen Gesetzen der Ökonomie zur einer Lohnsteigerung führen. Gilt das dann nicht mehr?

Sie weisen dann kurz darauf hin, dass jüngst die Ergebnisse einer groß angelegten Evaluationsstudie über die Wirkungen branchenspezifischer Lohnuntergrenzen veröffentlicht wurden, die insofern ärgerlich sind, weil sie eben keine Jobverluste nachweisen konnten. Deshalb leitet man schnell über zu einer älteren Sache:

»Eine frühere Studie für die deutsche Bauindustrie ergab signifikant negative Beschäftigungseffekte in Ost- und uneinheitliche Effekte in Westdeutschland … Deutlich wird dabei, wie entscheidend die Höhe und damit die Bindungswirkung eines Mindestlohns ist: In Ostdeutschland waren aufgrund des niedrigeren Lohnniveaus wesentlich mehr Arbeitnehmer von der Einführung des Mindestlohns betroffen als in Westdeutschland, folglich fielen die Beschäftigungsverluste dort höher aus.« Nur mal so als Gedanke: Haben die weisen Wirtschaftsweisen vielleicht mal überprüft, dass der gemessene Abbau der Bauarbeiterjobs im Osten unseres Landes vielleicht etwas damit zu tun haben kann, dass in diesem Zeitraum die vorher übermäßig aufgeblasenen Baukapazitäten im Osten wieder runter gefahren werden mussten, weil schlichtweg die Auftragslage zurück ging? Dass also der Abbau so oder so gekommen wäre, auch ohne einen Branchen-Mindestlohn? Das würde die gewünschten Befunde natürlich „verunreinigen“.

Aber das war nur das Vorspiel, denn die eigentliche Positionierung erfolgt dann unter der glasklaren Überschrift „Gegen einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn“ auf Seite 284 ff. des Jahresgutachtens. Warum sind sie gegen einen Mindestlohn?

»Zum einen ist der für Deutschland in Rede stehende Mindestlohn von 8,50 Euro relativ zum Lohngefüge bedeutsamer als in anderen Volkswirtschaften, etwa dem Vereinigten Königreich … Zum anderen ist es widersinnig, derjenigen Volkswirtschaft, deren Arbeitsmarkt aufgrund seiner höheren internen Flexibilität am erfolgreichsten durch die Krise gekommen ist, ein institutionelles Charakteristikum anzuempfehlen, das strukturelle Anpassungen in zukünftigen Krisen deutlich erschweren würde.« Also das zweite Argument muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: Die sind wirklich der Meinung, dass wir deshalb arbeitsmarktlich so gut durch die Krise gekommen, weil wir so viele Niedriglöhner haben. Könnten sich die Wirtschaftsweisen vielleicht vorstellen, dass wir auch und vor allem deshalb so gut durch die Krise gekommen sind, weil wir immer noch und Gott sei Dank über eine starke Industrie und ein starkes Handwerk verfügen, der unmittelbare Kriseneinbruch mit Instrumenten wie der Kurzarbeit (übrigens weitgehend auf Kosten der Beitragszahler und der betroffenen Arbeitnehmer) intelligent überbrückt wurde und die exportlastige deutsche Volkswirtschaft schnell wieder hochgefahren werden konnte, als die Weltkonjunktur bereits 2010 wieder ins Laufen kam, zumindest in den immer wichtiger werdenden Schwellenländern? Und bekanntlich werden in der Industrie und in den größten Bereichen des Handwerks gerade keine Niedrigstlöhne gezahlt.

Die sehr eigene Wahrnehmung der unteren Arbeitsmarktetagen bei den Wirtschaftsweisen wird an dem folgenden Zitat deutlich erkennbar:

»Durch das Sozialversicherungssystem sind in Deutschland angebotsseitig bereits Untergrenzen für die am Markt zu erzielenden Lohneinkommen impliziert. Zudem sind die Arbeitnehmer arbeitsrechtlich bereits in ausreichender Weise vor Lohndumping geschützt.«

Wenn man sich wirklich intensiver beschäftigt mit dem, was da unten los ist, dann bleibt einem das Lachen im Halse stecken angesichts dieser Ignoranz gegen die dort um sich greifenden Wildwest-Methoden.

Kurzum, man lehnt einen Mindestlohn ab. Aber nicht nur den, eigentlich lehnt man alles ab:

»Im deutschen Institutionengeflecht muss ein flächendeckender gesetzlicher Mindest- lohn daher abgelehnt werden, ebenso wie von staatlicher Hand gesetzte sektor- oder regionalspezifische Lohnuntergrenzen. Ebenfalls abzulehnen ist eine Ausweitung von tariflichen Lohnuntergrenzen nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz auf mehr Branchen, wenn dies auf Betreiben der Tarifvertragspartner geschehen würde .« (S. 286)

Das ist mal ein klares Wort.

Aber das war es noch nicht, denn auf der Seite 298 kommt dann die folgende Überschrift daher: „Eine andere Meinung“, von dem Volkswirt Peter Bofinger aus Würzburg. Hier zwei seiner Gegenargumente zur Mehrheitsmeinung des Sachverständigenrates:

  • Die von Bofinger zitierten Berechnungen zeigen: Deutschland würde mit einem Mindestlohn von 8,50 Euro keinesfalls auf einem internationalen Spitzenplatz liegen würde. Die aus der Verdienststrukturerhebung abgeleitete Relation von Mindestlohn zu Medianlohn ergibt für Deutschland vielmehr einen Platz im internationalen Mittelfeld.
  • Das entscheidende Argument für Bofinger: Für die „große Gefahr“ negativer Beschäftigungseffekte eines Mindestlohns wird von der Mehrheit der Ratsmitglieder keine überzeugende empirische Evidenz vorgelegt. »In der Tat lassen sich in der Literatur sehr viele Studien finden, die zu dem eindeutigen Ergebnis kommen, dass von Mindestlöhnen keine signifikanten negativen Auswirkungen auf die Beschäftigung zu erwarten sind«, so Bofinger. Nach Hinweisen auf die Forschungslage kommt er zu dem Befund: Es »gibt also keine uneindeutige, sondern vielmehr eine eindeutige Evidenz, dass von Mindestlöhnen, wenn sie angemessen ausgestaltet sind, keine signifikanten Beschäftigungsverluste ausgehen.«

Genau so sehen das nicht wenige Arbeitsmarktforscher. Aber in den Meldungen wird überwiegend nur zu lesen sein: Die Wirtschaftsweisen üben harte Kritik an Mindestlohn-Plänen. Der Mindestlohn kostet viele Jobs.

Für die wichtige abweichende Meinung wird dann der Platz fehlen. Und außerdem ist das ja auch irgendwie komplizierter als wenn man sagen kann „die“ Wirtschaftsweisen oder „die“ Wirtschaftsforschungsinstitute oder „die“ Experten. Es ist aber wie in der Medizin. Nicht selten sind Zweit- oder Drittmeinungen gehaltvoller.

Wieder einmal gut gemeint, aber nur gehopst statt gesprungen? Der nette Versuch, Lohngleichheit zwischen den Geschlechtern auf dem Berichtsweg herzustellen

Man kann nur hoffen, dass die Verhandlungsgruppen in Berlin, die (angeblich) um eine große Koalition ringen, sich derzeit nur warmlaufen und die eigentlich zu lösenden Probleme unseres Landes lediglich vorerst auf Halde gelegt sind, damit man diese am Ende ganz konzentriert abarbeiten kann und wir alle ganz doll überrascht sind.

Sollte es allerdings anders sein, dann besteht tatsächlich Anlass, zunehmend unruhig zu werden. Immer öfter bekommt man den Eindruck vermittelt, dass die große Koalition Themen behandelt und sich gar über solche streitet, deren wirkliche Bedeutung in einem umgekehrt proportionalen Umfang zu den Gestaltungsmöglichkeiten des gewaltigen Stimmengewichts steht, was der wahrscheinliche 80%-Stimmen-Gigant GroKo auf die Waagschale werfen könnte. Mega-Mehrheit und kleine Brötchen, die da in Berlin derzeit aus dem Backofen geholt werden.

Auf dieser Seite wurde das schon kommentiert an den Beispielen Wohnungspolitik („Wohnst Du schon oder hoffst Du noch? Wohnen als soziale und ökonomische Frage. Und wie die Große Koalition damit umzugehen beabsichtigt„), Gesundheitspolitik („Placebo-Politik im Gesundheitswesen – dafür braucht man nun wirklich keine Große Koalition„) oder auch Arbeitszeitpolitik („Entsetzte Arbeitgeber(funktionäre), wenn Sonntagsreden Wirklichkeit zu werden drohen, zugleich aber auch betriebliche Realitäten eigener Art und Frauen, die sich selbst schädigen„). Der anfangs sicher interessierte, nunmehr aber zunehmend irritierte Beobachter könnte bei einer nüchternen Analyse des bisher vorgelegten Gedankenguts aus den Koalitionsverhandlungsgruppen zu dem Befund kommen, dass hier überwiegend Placebos unters Volk geworfen werden. Bislang ist kaum eine wirklich fundamentale gemeinsame Idee der beiden Lager bekannt geworden – also beispielsweise eine umfassende Neuordnung der Bildungsfinanzierung, eine mutige und vorauseilende Pflegereform oder ganz zu schweigen von einem Umbau der Finanzierungsarchitektur des Sozialsystems im Sinne des Aufbrechens der einseitig den Faktor sozialversicherungspflichtige Arbeit und die dann auch noch gedeckelt bis zur Beitragsbemessungsgrenze belastenden Beitragsfinanzierung (auf die man sogar ganz im Gegenteil wieder einmal stärker zugreifen will, um Steuererhöhungen zu vermeiden).

Der nächste Akt in diesem irritierenden Spiel betrifft ein wichtiges Anliegen: Die immer wieder beklagte Ungleichheit bei den Löhnen zwischen Männern und Frauen. Hier will die im Geburtskanal befindliche GroKo „Frauen besser bezahlen lassen“, so die Formulierung in dem Artikel „Kommen Lohnlisten ans schwarze Brett?“ von Alfons Frese und Heike Jahberg.

Bevor wir uns nun den angekündigten Maßnahmen zuwenden, müssen einige notwendige Anmerkungen zu den immer wieder in den Raum gestellten Zahlen zu der so genannte „Lohnlücke“ zwischen den Geschlechtern gemacht werden. In dem Artikel von Frese und Jahberg wird ausgeführt: »Jedes Jahr rechnet der Verein „Business and Professional Women“ aus, wie lange Frauen über das Jahresende hinaus arbeiten müssen, um auf das Jahresgehalt ihrer männlichen Kollegen zu kommen. Der „Equal Pay Day“ für das laufende Jahr 2013 wäre der 21. März 2014. Denn weibliche Beschäftigte verdienen hierzulande im Schnitt 22 Prozent weniger als die Männer, hat das Statistische Bundesamt ausgerechnet.« So weit, so oft gelesen. Schauen wir einmal genauer hin. Ein Blick in die Pressemitteilungen des hoch seriösen Statistischen Bundesamtes hilft einem weiter, sogar mit einer genauen Quantifizierung der Lohnlücke zwischen den Geschlechtern – auch „Gender Pay Gap“ genannt, z.B. hier: „Verdienstunter­schie­de von Frau­en und Männern blei­ben wei­ter bestehen„. »Im Jahr 2012 war der durchschnittliche Bruttostundenverdienst von Frauen mit 15,21 Euro um 22 % niedriger als der von Männern (19,60 Euro).« Weiter erfahren wir, dass sich der Verdienstabstand zwischen Männern und Frauen in den vergangenen Jahren nicht verändert habe. Und noch etwas kann man der Pressemitteilung der Statistiker entnehmen – eine große West-Ost-Differenz tut sich auf, folgt man den Daten der Bundesstatistiker: »So betrug 2012 der unbereinigte Gender Pay Gap im früheren Bundesgebiet 24 %, in den neuen Ländern lag er bei 8 %.« Frauen haben es in Ostdeutschland lohnlückenmäßig offensichtlich erheblich besser als im Westen unseres Landes. Aber die Bundesstatistiker sind korrekte Wesen, sie sprechen von einem „ungereinigten“ Gender Pay Gap – also müsste es auch einen „bereinigten“ geben. So ist es natürlich auch. »Dieser sogenannte bereinigte Gender Pay Gap lag 2010 bundesweit bei 7 % (unbereinigter Gender Pay Gap 2010: 22 %).« Da schmilzt die Lohnlücke schon recht stark. Wie kommt diese doch nicht ganz unerhebliche Differenz zustande? Dazu das Statistische Bundesamt: »Demnach lassen sich gut zwei Drittel des unbereinigten Gender Pay Gap auf strukturelle Unterschiede zurückführen: Die wichtigsten Gründe für die Differenzen der durchschnittlichen Bruttostundenverdienste waren Unterschiede in den Branchen und Berufen, in denen Frauen und Männer tätig sind, sowie ungleich verteilte Arbeitsplatzanforderungen hinsichtlich Führung und Qualifikation. Darüber hinaus sind Frauen häufiger als Männer teilzeit- oder geringfügig beschäftigt.«

Wenn man das berücksichtigt, dann stößt man vor in den eigentlichen Kernbereich des Problems: Und weiter: „Das verbleibende Drittel des Verdienstunterschiedes kann nicht durch die arbeitsplatzrelevanten Merkmale erklärt werden … Das heißt, dass Frauen bei vergleichbarer Qualifikation und Tätigkeit pro Stunde durchschnittlich 7 % weniger als Männer verdienten.“
Aber die Bundesstatistiker sind sehr genau, gleichsam exakte Menschen, die korrekterweise einen methodisch interessanten und relevanten Hinweis geben: Es gelte „… jedoch zu berücksichtigen, dass der bereinigte Gender Pay Gap möglicherweise geringer ausgefallen wäre, wenn weitere lohnrelevante Einflussfaktoren für die Analysen zur Verfügung gestanden hätten. So lagen beispielsweise zum individuellen Verhalten in Lohnverhandlungen oder zu familienbedingten Erwerbsunterbrechungen keine Angaben vor.“

Und wenn wir jetzt noch Jutta Allmendinger, die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) in die Debatte einschleusen, dann wird es richtig interessant. Denn die hat bereits im Februar dieses Jahres in einem Artikel in der taz wie folgt argumentiert: »Frauen sind zwar viel häufiger erwerbstätig als früher, aber die Quote der in Vollzeit berufstätigen Frauen ist von 1985 bis 2011 zurückgegangen – von 68 auf 54 Prozent aller erwerbstätigen Frauen. Frauen arbeiten mehr als dreimal so häufig in Teilzeit wie Männer. Und das häufig auch noch in Kleinst-Teilzeit. Diese bringt kaum Geld, verhindert jeden beruflichen Aufstieg und führt selten zurück zu 80 Prozent oder zur Vollzeitarbeit … Frauen arbeiten eher in Berufen, die als Frauenberufe gelten und daher schlechter entlohnt werden: in der Bildung, dem Gesundheitswesen, der Pflege, im Service. Frauen machen real viel längere Pausen als die Männer …«. Und ihre Fazit: »Kleine Teilzeit, geringer entlohnte Berufe, strukturell erzwungene Pausen – all das heißt: weniger Aufstiegschancen, geringere Erwerbszeiten, weniger Lohn im Laufe der Jahrzehnte. Das ist die Welt der realen Frauen.«

Und dann kommt sie zu einer unser Thema hier so richtig anheizenden Schlussfolgerung:

»Auch alle, die sich für eine geschlechtergerechte Entlohnung einsetzen, sollten mal aus dem Trott geraten. Der Gender Pay Gap Day gehört abgeschafft – und neu eingeführt, und zwar als Gender Income Gap Day. Denn die entscheidende Größe ist das Erwerbseinkommen am Ende jeden Monats und im gesamten Lebensverlauf. Wenn man das für die beiden Geschlechter berechnet, liegt das monatliche Einkommen von Frauen im Schnitt weit unter der Hälfte dessen, was Männer im Monat verdienen. Die Differenz ist nicht kleiner, sondern in Wirklichkeit doppelt so hoch wie die oft zitierten 23 Prozent.«

Also so gesehen haben wir es mit einer richtig großen Baustelle zu tun. Und was sind nun die aktuellen Ideen und Planungen der GroKo in Gründung?

Die typischen Frauenberufe sollen nun aufgewertet werden, haben jedenfalls die Verhandlungsführerinnen Manuela Schwesig (SPD) und Annette Widmann-Mauz (CDU) beschlossen. Gemeinsam mit den Tarifpartnern will die Politik an einer Gehaltsaufbesserung für Alten- oder Krankenpfleger, Erzieher oder Betreuer arbeiten. Zudem möchte die Arbeitsgruppe die Tarifpartner verpflichten, Gehaltsunterschiede abzubauen. Da wird man schon wieder unruhig.
Frese und Jahberg berichten uns:

»In Unternehmen ab 500 Beschäftigten sollen darüber hinaus – anonymisierte – Entgeltberichte verfasst werden, um Ungleichgewichte zu finden und dann dagegen vorzugehen. Aber nicht nur in großen Firmen, sondern in allen Betrieben wollen die Koalitionäre jedem einzelnen Arbeitnehmer zudem einen individuellen Auskunftsanspruch verschaffen. Unklar ist aber noch, wie der aussehen soll. Ob künftig jeder Mann und jede Frau ganz konkret das Gehalt des Kollegen oder nur betriebliche Durchschnittswerte erfragen kann, ist genauso so offen wie die Frage, ob die Tarifparteien oder der Gesetzgeber dafür sorgen, dass Erzieherinnen oder Krankenschwestern künftig mehr in der Lohntüte haben.«

Interessant an dieser Stelle sind die Reaktionen der Tarifvertragsparteien, die zwischen Verwunderung und Verärgerung schwanken. Die Arbeitgeber bezeichnen die Vorschläge der Arbeitsgruppe als „Koalitionsvertragsprosa“. Und die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi kommentiert, »die Tarifparteien würden das Problem kaum lösen können, weil zum einen da, wo es Tarifverträge gibt, bereits jetzt überhaupt nicht zwischen Männern und Frauen differenziert werde. Und zum anderen laufe in den Unternehmen, die keine Tarifgehälter zahlen und in denen es auch keine Betriebsräte gibt, der Ansatz über die Tarifparteien ins Leere.«

Simone Schmollack kommentiert dazu in der taz unter der Überschrift „Worte, die sich gut anhören„:
»Wer wirklich etwas gegen Lohnungleichheit machen will, muss die unsäglichen Minijobs abschaffen, Teilzeit reduzieren, das Rückkehrrecht auf eine Vollzeitstelle nach der Familienphase gesetzlich festklopfen. Der muss für genügend Kitaplätze sorgen und in sogenannten Frauenberufen das Lohnniveau anheben. Die vielfach als minderwertig angesehenen Jobs in Pflege und Erziehung sowie die Teilzeitarbeit, die Frauen bis heute häufig sogar freiwillig akzeptieren, sorgt für die größte Lohnlücke. Das zu ändern käme einem Kulturbruch, einem Paradigmenwechsel gleich – der nicht so leicht zu machen ist, wie die Koalitionäre das gerade verkaufen.«

Ups, das hört sich nach deutlich mehr an als das, was uns hier gerade vorgelegt worden ist. Immer mehr deutet sich an, dass wir eine Koalition bekommen könnten, die sich im Wesentlichen auf eine Symbolpolitik reduziert, um den großen Konfliktlinien auszuweichen – und das mit einer unfassbar großen Mehrheit im Parlament gepampert. Damit stellt sich natürlich immer mehr auch die Frage: Dafür eine Große Koalition?

Dafür nicht.

Wohnst Du schon oder hoffst Du noch? Wohnen als soziale und ökonomische Frage. Und wie die Große Koalition damit umzugehen beabsichtigt

Da muss doch Hoffnung aufkommen: Ein „Paket für bezahlbares Bauen und Wohnen“ hat die zuständige Koalitionsverhandlungsgruppe ausgearbeitet und die Rezeption in den Medien war enorm:  Union und SPD haben sich in den Koalitionsverhandlungen auf eine Mietpreisbremse geeinigt, die Vermieter sollen die Makler bezahlen und für Investoren soll es wieder eine besonders interessante Form der Abschreibung geben, die degressive Abschreibung, so ein Artikel in der FAZ. Man wolle die massiv steigenden Mieten vor allem in den Großstädten bremsen und den Bau neuer Wohnungen ankurbeln.

Doch bevor wir in die Details der geplanten Maßnahmen einsteigen, lohnt ein Blick auf die sich überaus differenziert und gespalten darstellende Entwicklung beim Thema Wohnen. Im Frühjahr des vergangenen Jahres hat das Eduard-Pestel-Institut eine Analyse vorgelegt über „den“ Wohnungsmarkt in Deutschland:

➔ Pestel-Institut: Mietwohnungsbau in Deutschland – regionale Verteilung, Wohnungsgrößen, Preissegmente – im Auftrage der Kampagne „Impulse für den Wohnungsbau“, Hannover 2012

In dieser Studie wird beschrieben, mit welcher durchaus auseinanderlaufenden Entwicklung wir es auf dem Wohnungsmarkt zu tun haben: «Der demografische Wandel bringt noch keine Entlastung der Wohnungsmärkte. Rückläufig ist wegen der niedrigen Geburtenzahlen die Zahl der Kinder. Die Zahl der Erwachsenen – und nur dieser Personenkreis bildet Haushalte und fragt Wohnungen nach – wird noch einigen Jahre ansteigen. Hinzu kommen die Singularisierung und die Veränderung des Wanderungsverhal- tens der Bevölkerung. Die Landflucht und das Verbleiben in den Städten führen zu wachsenden Leerständen in ländlichen Räumen bei gleichzeitiger Verknappung von Wohnraum in den Ballungsräumen. Deutschland hat eine neue Wohnungsnot« (Pestel-Institut 2012: 47).

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