Ein Teil der weltweiten Flüchtlingswelle strandet auch in Deutschland. Hier suchen Kommunen nach Schlafplätzen, die Regierung plant mal wieder eine Begrenzung des Asylrechts und da war doch noch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts

Im vergangenen Jahr wurde eine weitere markante Marke geknackt – fast 110.000 Menschen haben einen Erstantrag auf Asyl in Deutschland gestellt. Nach einem kontinuierlichen Rückgang der Asylbwerberzahlen seit Mitte der 1990er Jahre verzeichnen wir seit 2008 wieder stark steigende Zahlen bei den Erst- wie Folgeanträgen im Asylbereich. Und im laufenden Jahr beschleunigt sich diese Entwicklung: In den ersten fünf Monaten des Jahres 2014 wurden 54.956 Erstanträge vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge entgegen genommen. Im Vergleichszeitraum des Vorjahres waren es 34.419 Erstanträge; dies bedeutet einen Zuwachs um 59,7 % (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Aktuelle Zahlen zu Asyl, Ausgabe: Mai 2014, S. 3). Diese Entwicklung löst einerseits ganz praktische Probleme vor Ort aus, beispielsweise hinsichtlich der Unterbringung der zu uns kommenden Menschen. Viele Kommunen kämpfen hier mit fehlenden Unterbringungsmöglichkeiten. Zum anderen aber sehen wir reflexhafte Reaktionen der Bundesebene, die am Asylrecht herumfummeln will, um einen Deckel auf den Topf zu bekommen, dabei aber zugleich eine – eigentlich mal wieder recht eindeutige – Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2012 umsetzen muss.

Die Zahlen zur Entwicklung der Asylanträge müssen eingebettet werden in einen globalen Zusammenhang, den die UNO-Flüchtlingshilfe mit Blick auf das zurückliegende Jahr 2013 so beschreibt: »Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg gibt es auf der Welt über 50 Millionen Flüchtlinge, Asylsuchende und Binnenvertriebene. Ein Grund hierfür ist der Krieg in Syrien, der innerhalb kürzester Zeit 2,5 Millionen Menschen zur Flucht in die Nachbarstaaten zwang und 6,5 Millionen Menschen im Land selbst vertrieben hat. Ein weiterer Grund sind die gewaltsamen Konflikte in Afrika, in der Zentralafrikanischen Republik, dem Kongo und Südsudan, die kein Ende nehmen wollen.« Besonders betroffen von dieser gewaltigen Flüchtlingswelle sind nicht die reichen Industriestaaten, sondern die armen Länder der Welt, denn: 9 von 10 Flüchtlingen (86%) leben in Entwicklungsländern. Viele Flüchtlinge sind also für das hier relevante Thema – Asylbewerber in Deutschland – gar nicht relevant. Dazu die UNO-Flüchtlingshilfe:

»Die Gruppe der Flüchtenden teilt sich in drei Gruppen. so wurden insgesamt 16,7 Millionen Flüchtlinge gezählt, die höchste Zahl seit 2011. Gleichzeitig waren 33,3 Millionen Menschen innerhalb ihre Landes auf der Flucht und 1,1 Millionen Menschen stellten einen Asylantrag – die Mehrzahl von ihnen in Industriestaaten.«

Man kann es drehen und wenden, wie man will – die Zunahme der Zahl an Menschen, die in Deutschland Aufnahme suchen, auch wenn die Erfolgsquoten im Asylbereich äußerst niedrig sind, ist ein gesellschaftspolitisch überaus heikles Thema. Man spürt förmlich die Angst der politischen Entscheidungsträger, dass ihnen die Entwicklung aus dem Ruder läuft und innergesellschaftliche Konflikte produziert werden. Man muss in diesem Kontext auch sehen, dass Deutschland parallel zu den Asylbewerbern mit einer stark ansteigenden Zuwanderung beispielsweise aus den Armenhäusern der Europäischen Union konfrontiert ist. Auch für das laufende Jahr wird eine Netto-Zuwanderung von über 400.000 Menschen erwartet. Der gesamtgesellschaftliche Blick auf diese Zuwanderung ist das eine, das andere ist die Realität, dass diese Menschen nicht gleichverteilt sind über die Bundesrepublik, sondern dass sie gerade in den Großstädten und dort, wo es aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung gleichzeitig auch viele lebenspraktische Folgeprobleme gibt, wie beispielsweise eine zunehmende Wohnungsnot, aufschlagen. Wenn dann noch aufgrund der Verteilungsschlüssel deutlich mehr Asylbewerber zugewiesen werden, dann bildet sich hier und da immer stärker das Gefühl heraus, dass man überfordert ist bzw. wird. Man schaue sich nur beispielhaft die Konflikte in einigen Städten an, aktuell die Auseinandersetzungen um die Räumung der von Flüchtlingen besetzten Gerhart-Hauptmann-Schule in Berlin-Kreuzberg. Parallel dazu die zunehmenden Schwierigkeiten vieler Städte, genügend Unterbringungsmöglichkeiten zu finden: »Hamburgs SPD-Sozialsenator Detlef Scheele warnt vor dramatischen Zuständen bei der Unterbringung von Flüchtlingen: „Wir haben keine freien Plätze“, so der Sozialsenator ) in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung.

Vor diesem Hintergrund ist es dann nicht überraschend, dass man auf der bundespolitischen Ebene versucht, durch Eingriffe in das Asylrecht wenigstens auf einen Teil des Topfes einen Deckel aufzusetzen. Das Ergebnis dieser Reaktionsweise lässt sich dann mit solchen Schlagzeilen beschreiben: Schwarz-rote Bundesregierung will Asylrecht verschärfen: »Die Große Koalition plant eine Verschärfung des Asylrechts. Hintergrund sind die wieder deutlich steigenden Zahlen von Asylanträgen in Deutschland. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) rechnet für dieses Jahr mit bis zu 200.000 Asylanträgen – im vorigen Jahr waren es noch rund 127.000.« Auf die Verschärfung des Asylrechts haben sich die Partei- und Fraktionschefs geeinigt, so der Bericht. Was heißt das konkret? Es geht um eine bestimmte Gruppe unter den Asylsuchenden, etwa 20% der Fälle, deren Anträge aber zu 99% nicht anerkannt werden: Es geht um Menschen aus Serbien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien. Hier will die Bundesregierung tätig werden – und zwar so:

»Alle drei sollen nach einem Gesetzentwurf als sichere Herkunftsstaaten eingestuft werden. Folge: Schnellere Verfahren, kürzerer Aufenthalt, weniger Kosten für Sozialleistungen und eine Umkehr der Beweislast. Der Staat nimmt an, dass der Antrag unbegründet ist – der Asylbewerber muss das Gegenteil beweisen. Vorbild sind Frankreich, Belgien und Großbritannien.«

Allerdings kann die Große Koalition die Asylrechtsverschärfung nicht aus eigener Kraft durchsetzen, denn sie ist über den Bundesrat auf die Hilfe der Grünen angewiesen, denn die können das über die Länder, in denen sie (mit)regieren, verhindern.  Und schon sind wir mitten auf dem föderalen Basar: Die Bundesregierung will den Städten mehr Geld in Aussicht stellen, denn die Flüchtlingsproblematik ist in einigen Großstädten ganz besonders extrem ausgeprägt. Gegenüber den Bundesländern wird zugleich der besonders SPD und Grünen wichtige Doppelpass von der Union derzeit blockiert, um das als Faustpfand für die anstehenden Verhandlungen zu nutzen. Die Regelung über den Doppelpass soll nur verabschiedet werden, wenn gesichert ist, dass auch die Regelung mit den „sicheren Herkunftsstaaten“ kommt, was in rot-grünen Bundesländern als Erpressungsversuch gewertet wird.

Aber da ist noch eine andere große Baustelle für die Bundesregierung: Das Asylbewerberleistungsgesetz muss nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2012 geändert werden. Das BVerfG verkündete damals kurz und bündig: Regelungen zu den Grundleistungen in Form der Geldleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz verfassungswidrig. Es ging um die Frage, ob die Geldleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) verfassungsgemäß seien. Die Antwort aus Karlsruhe war eindeutig: Nein.

»Die Höhe dieser Geldleistungen ist evident unzureichend, weil sie seit 1993 trotz erheblicher Preissteigerungen in Deutschland nicht verändert worden ist. Zudem ist die Höhe der Geldleistungen weder nachvollziehbar berechnet worden noch ist eine realitätsgerechte, am Bedarf orientierte und insofern aktuell existenzsichernde Berechnung ersichtlich. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, unverzüglich für den Anwendungsbereich des Asylbewerberleistungsgesetzes eine Neuregelung zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums zu treffen.«

Die Deutlichkeit des Richterspruchs kann man auch daran erkennen: Bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung wurde  »angesichts der existenzsichernden Bedeutung der Grundleistungen« eine Übergangslösung dergestalt verfügt, dass ab dem 01.01.2011 ab dem 1. Januar 2011 die Höhe der Geldleistungen nach den Maßgaben des SGB II und XII zu berechnen sei – rückwirkend für nicht bestandskräftig festgesetzte Leistungen ab 2011 und für die anderen ab der Urteilsverkündung im Jahr 2012.

Also: Das BVerfG hatte im Juli 2012 das Asylbewerberleistungsgesetz  in entscheidenden Teilen für grundrechtswidrig erklärt und eine sofortige Erhöhung der Leistungen verlangt. Seither bekommen Asylbewerber mehr Geld, eine gesetzliche Regelung legt die Bundesregierung aber erst jetzt vor – bzw. einen Gesetzentwurf.

Unter der Überschrift »Regierungspläne „inhuman“. Wohlfahrtsverband kritisiert Leistungsgesetz für Asylbewerber« wird in der Print-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung am 21.06.2014 über die Inhalte des – noch nicht abgestimmten – Referentenentwurfs aus dem Bundesarbeitsministerium berichtet:

»Danach sollen erwachsene, alleinstehende Asylbewerber künftig 352 Euro im Monat erhalten und Verheiratete je 316 Euro. Die Bundesregierung hält jedoch daran fest, dass Flüchtlingen der größere Teil dieses Betrags grundsätzlich in Form von Sachleistungen zukommt. Allerdings soll Asylbewerbern künftig ein weit höherer Bargeld-Anteil als bisher zustehen. So sollen Alleinstehende 140 Euro in bar erhalten. Die meisten Flüchtlinge bekommen jedoch ohnehin mehr Geld in die Hände, weil die Mehrheit der Bundesländer bei der Versorgung von Asylbewerbern vor allem auf Geld- statt auf Sachleistungen setzt.
Zudem müssen Asylbewerber künftig nur noch zwölf Monate statt wie bisher vier Jahre mit den verringerten Leistungen auskommen. Sollte ihr Verfahren länger dauern, werden sie danach nach den üblichen Hartz-IV-Regeln versorgt. Auch diese Änderung folgt Vorgaben aus Karlsruhe: Die Verfassungsrichter hatten Minderleistungen nur für kurzfristige, nicht auf Dauer angelegte Aufenthalte erlaubt.«

Die allgemeine Bewertung des vorliegenden Gesetzentwurfs fällt kritisch-distanziert aus, beispielsweise in dem Kommentar „Sachleistungen statt Selbständigkeit“ von Jan Bielicki, ebenfalls in der Print-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung vom 21.06.2014, der sich auf die Umsetzungspflicht des BVerfG-Urteils aus dem Jahr 2012 bezieht:

»Der jetzt vorgelegte Gesetzesentwurf setzt dieses Urteil artig um – viel mehr aber tut er nicht. Weiter hält er etwa an dem Prinzip fest, Asylbewerber vor allem mit Sachleistungen zu versorgen, statt ihnen Geld zu geben – und das, obwohl die Bundesländer, darunter sogar Bayern, von diesem entmündigenden Verfahren mehr und mehr abrücken. Die Chance, nach dem Karlsruher Urteil den Umgang mit Flüchtlingen grundsätzlich neu zu ordnen, hat die Bundesregierung nicht ergriffen.«

Noch weitaus schärfer hat sich der Paritätische Wohlfahrtsverband zu Wort gemeldet: Paritätischer kritisiert Regierungspläne als inhuman und verfassungswidrig – so ist deren Pressemitteilung überschrieben.  Der Paritätische kritisiert dabei »die auf Nothilfe und Akutversorgung beschränkte medizinische Versorgung von Flüchtlingen in Deutschland. Der jetzt bekannt gewordene Referentenentwurf des Bundesarbeitsministeriums zur Neuregelung des Asylbewerberleistungsgesetzes klammere den Bereich der medizinischen Versorgung komplett aus.« Rolf Rosenbrock vom Paritätischen wird mit diesen Worten zitiert: „Insbesondere eine angemessene medizinische Versorgung Traumatisierter oder chronisch Kranker ist nicht gewährleistet“. Der Wohlfahrtsverband fordert die ersatzlose Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes und damit die Gleichbehandlung von Asylbewerbern mit Hartz IV- und Sozialhilfebeziehern.

Das nun wiederum werden viele Politiker angesichts der schon genau absehbaren Schlagzeilen z.B. in der BILD-Zeitung mit Sicherheit zu vermeiden wissen.

Nothilfe für die Zeitungsverleger: Noch eine Ausnahme beim flächendeckenden Mindestlohn (eigentlich) ohne Ausnahmen?

Seit Monaten wird die Politik mit Forderungen nach Ausnahmen von dem zu erwartenden gesetzlichen, flächendeckenden Mindestlohn bombardiert. Ursprünglich sollte der Mindestlohn ohne irgendeine Ausnahme seine Funktion als unterste Haltelinie im Lohngefüge entfalten können. Doch schon die Formulierung im Koalitionsvertrag, dass man mit den Branchen über die Umsetzung des Mindestlohnes sprechen und verhandeln wolle, öffnete die Tür für Ausnahmeregelungen. Bislang haben sich vor allem drei Bereiche herauskristallisiert, bei denen der Mindestlohn keine Anwendung finden wird: Zum einen gilt er nicht für die Jugendlichen bis 18 Jahre, auch alle Langzeitarbeitslosen sollen in den ersten sechs Monaten ihre Beschäftigung von der Anwendung des Mindestlohns ausgenommen werden können und bestimmte Praktika sind ebenfalls ausgegliedert worden. Hinzu kommt, dass es eine Übergangslösung dergestalt gibt, dass in Branchen, die tarifvertraglich niedrigere Löhne vereinbart haben als die vorgesehenen 8,50 € pro Stunde Mindestlohn, bis Ende 2016 auf die Anwendung des eigentlich höheren Mindestlohnsatzes verzichtet werden kann.
In den vergangenen Wochen sind zahlreiche Branche Sturm gelaufen gegen ihre Nicht-Berücksichtigung bei den Ausnahmeregelungen: beispielsweise die Taxi-Branche, die Landwirte für die bei ihm beschäftigten Saisonarbeiter oder der gesamte Bereich der Gastronomie. Bislang erfolglos. Aber eine Branche scheint durchgekommen zu sein: die Zeitungsverleger.

Nach Angaben des Bundesverbandes der Deutschen Zeitungsverleger (BDZV) gibt es etwa 160.000 Zeitungsausträger. Die Mehrzahl davon sind geringfügig Beschäftigte, also Minijobber. Und die Verleger haben Zeter und Mordio geschrieen und sie sind offensichtlich erhört worden in den heiligen Hallen des Bundesarbeitsministeriums. Zumindestens scheint man ihnen ein Kompensationsangebot zu machen, folgt man solchen Meldungen: Nahles will Verleger beim Mindestlohn entlasten. Danach soll es so aussehen, dass zwar der Mindestlohn grundsätzlich auch für die Zeitungsausträger Anwendung finden würde, gleichzeitig man aber die damit verbundenen höheren Kosten an einer anderen Stelle teilweise kompensieren will, indem den Arbeitgebern ein Teil der Sozialabgaben erlassen wird:

»Den Zeitungsverlegern würden für fünf Jahre befristet geringere Sozialabgaben für Minijobber unter den Zeitungsboten eingeräumt. Dadurch würden nach Nahles‘ Worten etwa 60 Prozent der Mindestlohn-Mehrkosten für die Zeitungsverleger ausgeglichen. Diese hatten argumentiert, durch die Umstellung auf einen Mindestlohn von 8,50 Euro in der Stunde entstünden ihnen Mehrkosten von 225 Millionen Euro … Die Regierungskoalition bietet den Zeitungsverlegern den Angaben nach an, dass sie für fünf Jahre für Minijobber nur die geringeren Sozialabgaben wie in Privathaushalten zahlen. Das macht einen Unterschied von rund 18 Prozentpunkten aus: Für Minijobs im privaten Bereich fallen inklusive der Pauschalbesteuerung für Arbeitgeber 12,5 Prozent des Lohns an Abgaben an. Im gewerblichen Bereich sind es 30 Prozent.«

Wenn es zu dieser Lösung kommt, die jetzt diskutiert werden muss von den Regierungsfraktionen, dann wäre die Zeitungsbranche die einzige, die eine spezielle Ausnahmeregelung zugestanden bekommt. Da drängt sich natürlich sofort die Frage auf, ob es nicht auch für andere Branchen dann weitere gute Gründe gibt, auf Ausnahmeregelungen zu pochen. Die Kritik seitens der Opposition lässt nicht lange auf sich warten:

»Die Grünen-Politikerin Brigitte Pothmer nannte es ein Unding, dass Nahles der Zeitungsbranche „eine Rabatt-Regelung bei den Minijobs“ anbiete: „Dieser Kuhhandel müsste sofort wieder vom Tisch, denn sonst würden auch andere Branchen mit vielen Minijobs wie zum Beispiel die Gastronomie eine solche Sonderregelung verlangen.“ Die Zeche zahlen müssten die Sozialversicherungen, denen Beitragseinnahmen entgingen.« (Quelle: Lockerung für Mindestlohn der Zeitungsträger).

Man könnte natürlich auch die Hypothese aufstellen, dass die Politik hier gegenüber einer ganz speziellen Branche deshalb nach einer Ausnahmeregelung sucht, weil sie die Meinungsmacht und die Einflussmöglichkeiten über das, was da ausgetragen wird, fürchtet. Wie dem auch sei, ein „Geschmäckle“ hat die ganze Sache schon. Darüber hinaus muss man sehen, dass auch die jetzt diskutierte „Lösung“ das betriebswirtschaftliche Grundproblem der Zeitungsbranche hinsichtlich Ihrer Zeitungsausträger nicht löst, denn das besteht in der Tatsache, dass bislang ein Stück Lohn gezahlt wird, denn nun auf einen Stundenlohn umgestellt werden muss. An diesem grundsätzlichen Wechsel wird auch bei dem Kompensationsangebot festgehalten. Man wird sehen, wie die Branche auf diesen Vorschlag seitens der Politik reagiert. Bislang haben sich die Verleger noch nicht zu Wort gemeldet, sie müssen sich noch sortieren.

Sollte die Lösung so kommen, wie über sie derzeit berichtet wird, dann kann man deren Charakter als ein „Notnagel“ auch daran erkennen, dass es keine wirklich systematische Lösung ist, um das noch nett auszudrücken. Denn wenn es eine Entlastung bei den Abgaben für die geringfügig Beschäftigten geben sollte, dann stellt sich natürlich die Frage, was dann mit Zeitungsausträgerin ist, die oberhalb der Schwelle des geringfügigen Beschäftigungsverhältnisses liegen. Für die gäbe es dann ja gar keine Entlastung. Das wirkt doch alles mehr als unausgegoren und vermittelt den Eindruck, dass hier eine Baustelle notdürftig versorgt werden soll.

Glücklicher Konsum, unglückliche Überschuldung. Und die Hoffnung: Zurück auf Start für die im Unglück geht demnächst schneller. Wirklich? Zur Reform der Verbraucherinsolvenz

Das sind doch Nachrichten, die das Herz der Volkswirtschaft höher schlagen lassen: Die Deutschen kaufen, als gäbe es kein Morgen mehr: »Ob Essen, Urlaub oder Kleidung: Der Sparerfrust durch Mini-Zinsen und höhere Einkommen entlädt sich in einem wahren Konsumrausch«, so  Anja Ettel und Michael Gassmann in ihrem Artikel. Angesichts der in der Vergangenheit gerade von vielen kritischen Ökonomen beklagten schwachen Binnennachfrage in Deutschland ist das doch erst einmal eine gute Botschaft. Aber wie immer hat die Medaille eine zweite Seiten, denn bekanntlich gibt es keine homogene Masse, sondern es gibt die, die mehr als bislang konsumieren, daneben aber auch die, die mehr konsumieren möchten, es aber nicht können, weil ihnen die Einkommensbasis dafür fehlt – oder sogar völlig weggebrochen ist, weil sie sich in der Überschuldung befinden.
Wir sprechen von einer richtig großen Zahl, wenn wir Überschuldung behandeln:

»Im Oktober 2013 zählt Deutschland 6,58 Mio. überschuldete Privatpersonen … Die Schuldnerquote betrug … im Jahr 2013 … 9,81 Prozent … Die aktuelle Quote der Schuldner von 9,81 Prozent errechnet sich auf der Basis von 67,13 Millionen volljährigen Erwachsenen. 3,33 Mio. Haushalte sind überschuldet und nachhaltig zahlungsgestört«, berichtet die Creditreform in ihrem SchuldnerAtlas Deutschland 2013. Bei einer genaueren Analyse der Ursachen für Überschuldung weist Creditreform auf folgenden Punkt hin: So »zeigt sich in Zeiten volkswirtschaftlicher Stabilität eine Kehrseite der Sicherheit: Verbraucher trauen sich die Finanzierung ihres Konsums eher zu. Entsprechend hat der Anteil von Überschuldung mit leichter Intensität (weniger Gläubiger, geringere Forderungen und keine Eintragungen in Schuldnerverzeichnissen) gegenüber den Fällen mit harter Intensität zugenommen.« Zu den Menschen mit Überschuldung vgl. auch den Beitrag von Anja Liersch: Überschuldungsstatistik 2012: die amtliche Statistik zur Situation überschuldeter Personen in Deutschland, in: Wirtschaft und Statistik, Heft 11/2013, S. 795 ff.

Aber es gibt doch seit Jahren die Möglichkeit, der dauerhaften Überschuldung zu entfliehen über den Weg der Verbraucherinsolvenz. Und bei der gibt es ab Juli 2014 einige Veränderungen mit dem Ziel, die Situation für Menschen mit einer Überschuldung besser und schneller als bislang zu verändern.

Was hat es mit diesem Weg auf sich und welche Veränderungen sind hier vorgenommen worden mit dem Gesetz zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Stärkung der Gläubigerrechte vom 15. Juli 2013 (BGBl. I Seite 2379), der so genannten zweiten Stufe der Insolvenzrechtsrechform, die nun zum Juli 2014 seine Wirkung entfalten soll? Das Ziel des Verbraucherinsolvenzverfahrens ist einerseits die Entschuldung privater Personen. Andererseits soll damit ein Ausgleich zwischen überschuldeten oder zahlungsunfä­higen Schuldnern und ihren Gläubigern geschaffen werden. Vor der Eröffnung eines Verbraucherinsolvenzverfahrens erfolgt ein außergerichtlicher Einigungsversuch zwischen Schuldner und Gläubiger, meistens ist daran ein Schuldnerberater beteiligt, der einen Plan erarbeitet, der Wege und Methoden zur Tilgung der Schulden vorsieht. Wenn alle Gläubiger dem Plan zustimmen, dann ist dieses außergerichtliche Verfahren erfolgreich beendet. Nun kann man sich vorstellen, dass das in der Praxis kaum passiert, vor allem, wenn man nicht nur mit einem oder zwei Gläubigern, sondern vielen konfrontiert ist. Wenn das scheitert, dann kann der Schuldner innerhalb von sechs Monaten einen Antrag auf Verbraucherinsolvenz bei dem dafür zuständigen Amtsgericht stellen, verbunden mit einem Antrag auf Restschuldbefreiung.

Aber bevor das eigentliche Insolvenzverfahren eingeleitet werden kann, muss eine weitere Hürde genommen werden, der Versuch, über einen gerichtlichen Schuldenregulierungs­plan eine Einigung herzustellen. Auch hier geht es um Wege zur Schuldentilgung im jeweiligen Fall. Der Unterschied zur ersten Stufe – also dem außergerichtlichen Einigungsversuch – besteht darin, dass das Gericht befugt ist, Minderheitenstimmen auf der Gläubigerseite zu ersetzen, es müssen also nicht alle Gläubiger zustimmen. Erst wenn diese Hürde nicht genommen werden kann, beginnt das eigentliche Verbraucherinsolvenzverfahren im engeren Sinne. Zu den Größenordnungen: Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes wurden im Jahr 2012 insgesamt 95.560 Verbraucherinsolvenzverfahren eröffnet, in 1.694 Fällen wurde ein Schuldenbereinigsplan angenommen.

Das Verfahren geht danach in die „Wohlverhaltensphase“ über. Während dieser Zeit – aktuell sind es noch sechs Jahre – ist das pfändbare Einkommen des Schuldners an den Treuhänder abzutreten.

Mit der Insolvenzordnung (InsO) vom 1. Januar 1999 hat der Gesetzgeber die so genannte Restschuldbefreiung eingeführt, die für jeden redlichen Schuldner nach einer derzeit sechsjährigen Verfahrensdauer die Befreiung von den restlichen Verbindlichkeiten eröffnet. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten natürliche Personen keine Möglichkeit, sich von ihren Schulden zu befreien und mussten unter Umständen lebenslang für diese einstehen.
Das Bundesjustizministerium erläutert in einem Infoblatt „Reform der Verbraucherentschuldung“ die Motive für eine Veränderung des Verfahrens – und beschreibt zugleich das Spannungsfeld, in dem man sich hier zwischen den unterschiedlichen Interessen bewegt:

»Die Zeit bis zur Restschuldbefreiung wird von vielen Menschen als zu lang empfunden. Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Verschuldung der privaten Haushalte, die häufig auf nicht steuerbare Faktoren zurückzuführen ist (z. B. Arbeitslosigkeit, Krankheit, Scheidung), hat der Gesetzgeber die Notwendigkeit gesehen, diesen Menschen die Möglichkeit eines schnelleren Neustarts zu eröffnen. Im Gegenzug zu der schnelleren Restschuldbefreiung für den Schuldner wurden verschiedene Maßnahmen vorgesehen, um auch die Rechte der Gläubiger im Verfahren zu stärken und ihren Forderungsausfall zu verringern.
So soll der Schuldner insbesondere durch ein Anreizsystem motiviert werden, für eine möglichst hohe Befriedigung seiner Gläubiger zu sorgen.«

Das angesprochene „Anreizsystem“ besteht darin, dass zukünftig bei Erfüllung einer „Mindestbefriedigungsquote“ eine vorzeitige Restschuldbefreiung erteilt werden kann. In allen Verfahren, die ab dem 01.07.2014 beantragt werden, kann konkret bereits nach Ablauf von drei Jahren, also nach der Hälfte der Verfahrenslaufzeit, eine Restschuldbefreiung erteilt werden. Diese deutliche Verkürzung der „Wohlverhaltensphase“ ist aber an Bedingungen geknüpft – und die wiederum sind so ausgestaltet, dass Kritiker vortragen, dass es nur wenige schaffen werden, in den Genuss der Verkürzung zu kommen. Stephan Radomsky beschreibt die Problematik in seinem Artikel „Schneller schuldenfrei“, der in der Print-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung vom 21.06.2014 erschienen ist:

»Um in den Genuss der halben Frist zu kommen, müssen in dieser Zeit 35 Prozent der Ausstände und die Verfahrenskosten bezahlt werden. „Die Restschuldbefreiung mit Ablauf von drei Jahren nach Insolvenzeröffnung wird damit wahrscheinlich irrelevant sein“, prophezeit Rechtsanwalt Axel Seubert aus Stuttgart. „Die allermeisten Schuldner werden die Rückzahlungen nicht schaffen oder lieber ein Planverfahren vereinbaren.“ Fünf Jahre dauert eine Privatinsolvenz künftig, wenn der Schuldner in dieser Zeit zumindest die Verfahrenskosten abstottert, in der Regel 2.000 bis 3.000 Euro. „Das wird sicher sehr wichtig werden, weil es wahrscheinlich mehr als die Hälfte aller Fälle betrifft“, schätzt Insolvenzspezialist Seubert. Wer auch das nicht schafft, für den bleibt es wie gehabt bei sechs Jahren, bis die Restschuld erlassen wird.«

Auch andere Experten warnen vor jeglicher Euphorie: „Nur die wenigsten verschuldeten Personen, die ein Insolvenzverfahren mit anschließender Restschuldbefreiung durchlaufen, werden in den Genuss der kurzen Laufzeit von 3 Jahren gelangen“, meint Claudia Both, Leiterin der Schuldner- und Insolvenzberatung der Verbraucherzentrale Berlin. »Denn der Schuldner muss dafür 35 Prozent der Forderungen der Gläubiger beglichen haben. Außerdem sind die Verfahrenskosten zu begleichen, wozu auch die Vergütung des Insolvenzverwalters gehört. Allein diese Vergütung beträgt bereits 40 Prozent der eingezogenen Forderungen bis zu einer Höhe von 25.000 Euro. Hinzu kommen noch die Auslagen des Insolvenzverwalters, die Umsatzsteuer und die Gerichtskosten« (Quelle: Strenge Bedingungen für verkürztes Privatinsolvenzverfahren).

Fazit: Ganz wenige werden es in Zukunft schon in drei Jahren schaffen, sich zu entschulden und wieder neu anfangen zu können, mehr werden nach fünf Jahren und der Rest weiterhin nach sechs Jahren von den Restschulden befreit sein.

Der »TV-Schuldnerberater Peter Zwegat dürfte also auch für die nächsten Staffeln noch genügend Fälle finden«, so die Einschätzung von Stephan Radomsky.

Letztendlich bewegt sich die vorsichtigen, kleinschrittige Reform des Verbraucherinsolvenzverfahrens in Deutschland in einem Spektrum, das auf der einen Seite von der Gläubigerperspektive bzw. -hoffnung auf eine „Irgendwann-einmal-Bedienung“ der aufgelaufenen Schulden ausgeht, so dass der Schuldner ausreichend lange verpflichtet werden müsste, dem nachzugehen. Auf der anderen Seite des Spektrums steht die Auffassung, dass die Restschuldbefreiung wesentlich schneller realisiert werden sollte, damit die Betroffenen aus ihrer Situation herauskommen und einen Neuanfang machen können. Für diese Perspektive steht beispielsweise der Ansatz in den USA, wo es deutlich mehr Privatkonkurse gibt als in Deutschland. Im US-amerikanischen Insolvenzrecht gibt es beispielsweise das Chapter 7: Überschuldete Privatpersonen setzen ausschließlich ihre Vermögenswerte, nicht jedoch ihr monatlich verfügbares Einkommen zur Entschuldung ein und erlangen in der Regel binnen weniger Wochen Restschuldbefreiung. Nach 6 Jahren kann erneut ein Verfahren nach Kapitel 7 durchgeführt werden. zu so einem weit reichenden Schritt nach vorne hat man sich in Deutschland auch vor dem Hintergrund der eigenen Philosophie nicht durchringen können. Herausgekommen ist eine Reform der Verbraucherinsolvenz, die hohes juristisches Detailwissen erfordert, deren Auswirkungen auf die Lebenslage vieler überschuldete Menschen aber begrenzt sein wird.