Die andere Seite der „Rente mit 63“: Während die einen wollen, müssen die anderen. Zwangsverrentung von Hartz IV-Empfängern

In den vergangenen Monaten wurde immer wieder überaus kontrovers über die „Rente mit 63“ diskutiert und oftmals auch polemisiert. Im Mittelpunkt der Argumentation vieler Kritiker steht dabei der Vorwurf, dass hier eine Rolle rückwärts gemacht werde angesichts der doch eigentlich auf den Weg gebrachten und aus dieser Perspektive auch als dringend erforderlich angesehenen Verlängerung des gesetzlichen Renteneintrittsalters. Einige gehen sogar noch weiter, so beispielsweise Hans-Werner Sinn, der Präsident des ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung. Er plädiert für eine weitgehende Liberalisierung des Renteneintrittsalters (vgl. hierzu den Artikel Hans-Werner Sinn fordert Abschaffung des gesetzlichen Rentenalters). Er wird zitiert mit den Worten: »Die Politik sollte ernsthaft darüber nachdenken, die feste Altersgrenze für die Beendigung des Arbeitslebens vollständig aufzuheben und gegenüber dem Arbeitgeber einen Rechtsanspruch auf Fortsetzung des Beschäftigungsverhältnisses zu gleichen Bedingungen zu ermöglichen.« In diesem Kontext erscheint es dann schon mehr als begründungspflichtig, wenn es gleichzeitig eine Diskussion gibt über „Zwangsverrentung“ von Hartz IV-Empfängern mit 63. Wie passt das zusammen?  

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„Fegen für Bier“? Ein hoch umstrittenes Projekt der Suchthilfe für schwerst- und mehrfachabhängige Menschen in Essen läuft. Und dann eine „Überraschung“: Die Teilnehmer haben ihre eigene Würde

Was war das für eine Empörung, als man in Essen einen neuen Weg beim Umgang mit schwerstabhängigen suchtkranken Menschen ankündigte. Das geht nicht, kommt gar nicht in Frage, wie kann man denn nur alkoholkranke Menschen mit Bier „vergüten“, wenn sie arbeiten gehen. Denn – wohlgemerkt ein – Bestandteil des Projekts „Pick-Up“, bei dem es um die Förderung von Tagesstruktur durch Beschäftigung für langjährig chronisch Mehrfachabhängige geht, ist die Abgabe von Bier an die Teilnehmer des Projekts. Die schwer suchtkranken Teilnehmer können in aller Ruhe durch die Innenstadt ziehen und die Szene-Treffpunkte der Trinker, Junkies und Obdachlosen sauber machen. Und dafür bekommen sie 1,25 Euro in der Stunde, eine warme Mahlzeit und Tabak – oder eben bis zu drei Flaschen Bier über den Tag verteilt. Es handelt sich also arbeitsmarktpolitisch gesehen um eine Arbeitsgelegenheit, umgangssprachlich als „Ein-Euro-Job“ bezeichnet, die in Essen unter dem Begriff „Gemeinwohlarbeit“ laufen, mit besonderen weiteren Komponenten wie eben dem warmen Mittagessen und der Option, eine Ration Bier in Anspruch nehmen zu können. „Das Bier soll keineswegs Belohnung sein, sondern nur ein Anreiz zur Teilnahme“, so wird Projektleiter Oliver Balgar von der Essener Suchthilfe Direkt in dem Artikel Putzen für Bier – Projekt für Abhängige startet in Essen zitiert. Dieses bundesweit bislang einmalige Modell, das nach einem monatelangen Hin und Her Anfang Oktober endlich starten konnte, wurde durch entsprechende Ansätze in den Niederlanden, konkret in Amsterdam, inspiriert.

Zum Vorbild aus Amsterdam kann man einem Artikel von Pascal Beucker, der im Februar dieses Jahres veröffentlicht wurde, entnehmen:

»Seit zwei Jahren setzt die niederländische Metropole in zwei Stadtvierteln Süchtige zur Säuberung von Parks und Plätzen ein. Zu Dienstbeginn um 9 Uhr erhalten sie zwei Dosen Bier und, falls gewünscht, eine Tasse Kaffee. Mit Zangen, Müllbeuteln und Westen der lokalen Müllentsorgung ausgestattet geht es dann auf den ersten von bis zu vier einstündigen Rundgängen, an deren Ende jeweils eine weitere Büchse Grolsch spendiert wird. In der Mittagspause gibt es eine warme Mahlzeit von einer Suppenküche. Außerdem bekommen sie noch täglich ein halbes Päckchen Tabak und 10 Euro.«

Man sollte sich in einem ersten Schritt klar machen, um was für Menschen es hier geht: Es geht um »Menschen, die der Volksmund gern als „verkrachte Existenzen“ abstempelt und deren Anblick meist als störend empfunden wird. Es sind Menschen mit extremen Lebensläufen – oft kurz vorm Abgrund. Die meisten sind drogenabhängig und im Methadon-Programm, etliche waren jahrelang in Gefängnissen weggeschlossen, sie sind obdachlos, verstoßen, hoch verschuldet und in ihrer Kindheit auffällig oft missbraucht oder gar vergewaltigt worden«, so Gerd Niewerth in seinem Artikel anlässlich des Starts des umstrittenen Projekts. Und in einem zweiten Schritt sollte man auch darauf hinweisen, dass dieser von vielen mehr oder wenig differenziert kritisierte Ansatz auch aus fachpolitischer Sicht passungsfähig ist. Die Essener Suchthilfe als Trägerin des Projekts hat hierzu eine „Fachliche Einordnung“ veröffentlicht. Aus der einschlägigen Literatur sei an dieser Stelle nur auf die zwei Veröffentlichungen hingewiesen:

(1) Stöver, Heino et al. (2012): Saufen mit Sinn? Harm Reduction beim Alkoholkonsum. Frankfurt am Main

(2) Körkel, Joachim (2013): Kontrolliertes Trinken. Heidelberg und Nürnberg

Letztendlich geht es um die Erkenntnis, dass das Ziel der Abstinenz, das bewusst oder unbewusst auch vielen ablehnenden Positionierungen dem Projekt gegenüber zugrunde liegt, von einem Teil der Suchthilfeexperten als nicht realisierbar und mit Blick auf manche Personengruppen auch als nicht anstrebenswert angesehen wird. Vor allem in der hier relevanten „Zielgruppe“ für die tagesstrukturierende Beschäftigungsmaßnahme nicht, also bei schwerst- und mehrfachabhängigen Suchtkranken. 
Dieser akzeptierende Ansatz wird auch an anderer Stelle verfolgt. Als ein Beispiel sei hier nur auf ein österreichisches Projekt verwiesen: »Im Innsbrucker Abrakadabra können Drogenabhängige tageweise arbeiten. Für 4,50 Euro die Stunde stempeln sie Briefe oder fertigen Designmöbel. Das landesweit Einzigartige: In der angeschlossenen Notschlafstelle der Caritas dürfen die Suchtkranken auch konsumieren«, so Katharina Mittelstaedt in ihrer Reportage Ein paar Stunden geregelte Flucht aus der Drogensucht

Nun also läuft seit einigen Wochen das Modellprojekt in Essen. Und für den einen oder die andere mit einer echten Überraschung, die Jörg Maibaum schon in die Überschrift seines Artikels platziert hat: „Putzen für Bier“ – Teilnehmer rühren Alkohol nicht an. Was ist passiert?

»Von wegen Prost … 20 Kisten „Stern“ stehen im Lager der Suchthilfe an der Hoffnungstraße und niemand packt sie an. Und das ist in diesem Fall wirklich keine Geschmacks-, sondern reine Willenssache. Keine einzige Flasche haben die Teilnehmer des international beäugten Pick up-Modells seit dem Start im Oktober geöffnet. Die Maßnahme für Suchtkranke und mehr Sauberkeit hat eine bemerkenswerte Entwicklung genommen: Beim Freibier fürs Fegen-Projekt heißt es jetzt eher Putzen ohne Promille. Und das, sagt Oliver Balgar von der Suchthilfe, haben sich die sechs Teilnehmer, die seit nunmehr acht Wochen die Innenstadt von dem Müll ihrer eigenen Szene und anderen City-Besuchern befreien, selbst ausgedacht.«

Und warum nimmt keiner den „Anreiz“ Freibier in Anspruch? Eine bemerkenswerte Auflösung dieser Frage findet sich in diesem Passus des Artikels:

»Aus Gründen der Solidarität: Weil zwei ihrer Arbeitskollegen mit dem Drogenersatzstoff Methadon behandelt werden und deshalb auf ein Bier zum Besen verzichten müssen, hat der Rest der Gruppe kurzerhand beschlossen: Dann trinken wir eben auch nicht, solange wir zusammen sind. Das beweist Stärke.«

Deshalb spreche ich von der „eigenen Würde“ dieser Menschen, die sie zum Ausdruck bringen. Kompliment dafür. Aus dem „Fegen für Bier“ ist derzeit ein „Putzen ohne Promille“ geworden. Das hat was.

Ein Kleinkind wird seinem Schicksal überlassen. Zugleich die Frage, ob auch ein Afrikaner ein guter Vater sein kann. Dazu ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das dem einen eine Stimme gibt und gleichzeitig die Arbeit auf der anderen Seite erschweren wird. Ein Ausflug in die Untiefen des Kinder- und Jugendhilfesystems

Warum nur? Warum nur wird in einem Fall russisches Roulette gespielt mit dem Wohl eines Kleinkindes, das sich nicht äußern kann, das nicht in der Lage ist, sich zu wehren, wegzulaufen, Hilfe zu suchen? Das lässt sich anhand eines neuen erschütternden Falls aus Berlin wieder einmal studieren. Und warum wird in einem anderen Fall die schlichte Ablehnung eines Menschen aufgrund seiner Herkunft und seiner Hautfarbe als ausreichend erachtet, um ihm sein Sorgerecht zu entziehen? Bis das Bundesverfassungsgericht dem ein Ende setzt? Warum?

Beginnen wir auf der einen Seite:

Wieder werden wir mit einem dieser furchtbaren Berichte konfrontiert: Ein Kleinkind wird misshandelt und offensichtlich konnte die zuständige Behörde, in diesem Fall das Jugendamt, den Fall nicht verhindern, obgleich die Familie sich in ihrer Betreuung befand. Und sofort wird verständlicherweise wieder die Frage aufgeworfen, ob die Jugendämter „richtig“ vorgegangen sind, ob sie zu spät eingegriffen haben, ob das Kind nicht viel früher aus den Familien hätte herausgenommen werden müssen. Es muss an dieser Stelle aber auch daran erinnert werden, das gleichzeitig immer wieder Diskussionen geführt werden über Jugendämter als „Kinderklau-Behörden“, also der Vorwurf geäußert wird, dass die Jugendämter zu schnell und viel zu weitreichend in die Familien intervenieren. Viele Jugendämter sind hier mit einem scheinbar unauflösbaren Dilemma konfrontiert.

Ein neuer, schrecklicher Fall wird jetzt aus Berlin berichtet: »Ein Vater verletzt ein Neugeborenes lebensgefährlich. Dennoch darf die Familie weiter zusammenwohnen. Nun liegt Emilia erneut im Krankenhaus. Das Jugendamt Pankow sagt, es gebe keine absolute Sicherheit.« Schon wieder sind wir also offensichtlich mit einem Misshandlungsfall konfrontiert, bei dem Sozialarbeiter und Therapeuten die Situation einer Familie und die drohende Gefahr für das Kind offensichtlich falsch eingeschätzt haben. Der fünfundzwanzigjährige Vater wurde mittlerweile festgenommen und sitzt in Untersuchungshaft. Bei dem betroffenen Kind ist es nicht die erste bekannt gewordene Misshandlung. Schon im vergangenen Juli wurde dem damals fünf Wochen alten Baby massive Gewalt angetan, damals schwebte es in Lebensgefahr. Und schon zu diesem Zeitpunkt stand sein Vater als mutmaßlicher Täter vor dem Haftrichter, der ihn jedoch gegen Auflagen auf freien Fuß gesetzt hat. Seit September wohnt der Mann wieder mit seiner Freundin und dem Kind zusammen. Sozialdienste betreuten die Familie und beurteilten deren Entwicklung „positiv“. Bis zur jetzt eingetretenen erneuten Katastrophe. In dem Artikel Säugling misshandelt, gerettet, wieder misshandelt von Christoph Stollowsky wird darauf hingewiesen, dass das Jugendamt Pankow nicht zum ersten Mal mit einer derart gravierenden Fehleinschätzung von sich reden macht. Im Jahr 2012 war es der Tod der zweieinhalb Jahre alten Zoe, der für Schlagzeilen gesorgt hat. Die Eltern dieses Kindes wurden ebenfalls von Helfern der Jugendbehörde des Bezirks unterstützt und als „liebevoll zugewandt“ eingeschätzt – bis zur tödlichen Misshandlung durch den Vater.

Aber warum wurde im neuen Fall der Vater vom zuständigen Richter nicht in Untersuchungshaft genommen? Der Richter ließ den Vater bis zum Beginn des Strafprozesses in Freiheit, weil etliche mildernde Umstände zutrafen, die laut Gesetz für eine Haftverschonung sprechen: Er hatte stabile Wohnverhältnisse und war zuvor noch nicht strafrechtlich auffällig geworden. Also gab es keine Hinweise für eine Fluchtgefahr. Und eine Wiederholungstat war nach dieser Logik auch nicht zu befürchten. Warum aber ließ das Jugendamt zu, dass der unter Anklage stehende Vater wieder zu seiner Familie ziehen konnte? „Wir hatten den Eindruck, dass die Eltern fähig sind, ihr Kind zu erziehen“, so wird die Leiterin des Jugendamtes, Judith Pfennig, zitiert. Und dann kommt ein Satz von ihr, der zu denken geben sollte: „Vielleicht sind wir hier an unsere professionellen Grenzen gestoßen. Es gibt wohl keine hundertprozentige Sicherheit, es sei denn, wir nehmen misshandelte Kinder konsequent aus den Familien.“ Das ist der Punkt. Aber sie weist darauf hin, dass das juristisch schwer durchsetzbar sei da es genau begründet werden müsse.

Eine grundsätzlich, aber gerade in Berlin naheliegende Frage: Ob auch die Personalnot der Jugendämter zu Fehlern geführt hat? Dieser Missstand sei zwar berlinweit zu beklagen, sagt die Leiterin des Jugendamtes. Emilias Leid möchte sie darauf aber nicht zurückführen. „Das würde dem Fall nicht gerecht.“

Irgendwie hat man erneut das Gefühl, dass die wirklich Betroffenen, also die Kinder, wieder zwischen den einzelnen Systeme durchfallen, vielleicht auch deshalb, weil nicht wirklich sie ausschließlich im Zentrum der Aufmerksamkeit und des Handelns stehen, was sie aber sollten. Und ja, vielleicht ist es so, dass man einen Preis zu zahlen hat, wenn man die Kinder und ihr Wohl als den entscheidenden Bezugspunkt der Arbeit definiert: Wenn das bedeutet, dass man auch schneller zum Schutz der Kinder diese aus einer bestimmten familiären Situation und sei es vorübergehend herausnehmen muss, dann sollte man das tun, auch wenn es sicher in dem einen oder anderen Fall bedeuten kann, dass – hinterher betrachtet, wenn man immer schlauer ist – die Entscheidung vielleicht zu hart war bzw. sich als letztendlich nicht notwendig erwiesen hat. Es ist eine Frage der Prioritäten: Jedes misshandelte oder gar zu Tode gekommene Kind ist eines zu viel. Und die größte Schutzbedürftigkeit haben die Kinder. Das muss Leitlinie des Handelns sein. Alles andere ist sekundär.

Das war die eine Seite. Nun die zweite.

Sollte die Welt doch voller Stereotype sein – und zwar auf beiden Seiten des Weltenspektrums, also bei denen, die sich für fachlich besonders kompetent halten und der Ideologie der 70er Jahre nachhängen, dass die Entfernung eines Kindes aus seiner Familie grundsätzlich die schlechteste Lösung sei und auf der anderen Seite diejenigen, die sich von ihrer aus welchen Quellen auch immer gespeisten Abneigung gegen das Andere, das Abweichende leiten lassen, Urteile zu fällen über den Menschen, der dahinter steht?

Das Problem, so bitter es klingen mag, besteht darin, dass ein neues Urteil dem einen Gerechtigkeit widerfahren lässt und zugleich aber die Hürden für ein notwendiges Handeln im anderen Fall nach oben ziehen wird. Bitter, wenn es so sein sollte.

Zum besseren Verständnis hier aber erst einmal der Sachverhalt, über den das Bundesverfassungsgericht zu entscheiden hatte. Das Gericht hat seine Verlautbarung dazu unter die Überschrift Sorgerechtsentziehung setzt eingehende Feststellungen 
zur Kindeswohlgefährdung voraus gestellt:

»Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die Entziehung des Sorgerechts für seine im Februar 2013 geborene Tochter. Er stammt aus Ghana und lebt seit Anfang 2012 in Deutschland. Die Mutter leidet unter gravierenden psychischen Erkrankungen, keines ihrer vier älteren Kinder lebt bei ihr.
Der Beschwerdeführer erkannte die Vaterschaft vorgeburtlich an, die Eltern gaben Sorgeerklärungen ab. Sie haben sich noch während der Schwangerschaft getrennt. Nach einer einstweiligen Anordnung des Amtsgerichts wurde die Tochter des Beschwerdeführers kurz nach der Geburt in einer Pflegefamilie untergebracht, wo sie bis heute lebt; mit dem Beschwerdeführer finden begleitete Umgangskontakte statt. Im Ausgangsverfahren entzog das Amtsgericht beiden Eltern mit Beschluss vom 17. September 2013 die elterliche Sorge. Die hiergegen gerichtete Beschwerde wies das Oberlandesgericht mit Beschluss vom 6. Februar 2014 zurück.«

Das hat das Bundesverfassungsgericht jetzt aufgehoben. Warum?

»Der Beschwerdeführer wird durch die angegriffenen Entscheidungen in seinem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG verletzt«, so das BVerfG.
Dies wird vom BVerfG weiter erläutert (und der folgende Passus erklärt zugleich meine Einschätzung, warum sich die Jugendämter in Zukunft auch bei den Fällen schwer tun werden, sich so zu verhalten, wie sie es müssten, wenn wir an die vielen Fälle des unterlassenen Tuns denken – aus der Perspektive der rückblickenden Beurteilung): »Art. 6 Abs. 3 GG erlaubt es nur dann, ein Kind von seinen Eltern gegen deren Willen zu trennen, wenn die Eltern versagen oder wenn das Kind aus anderen Gründen zu verwahrlosen droht. Das elterliche Fehlverhalten muss ein solches Ausmaß erreichen, dass das Kind bei den Eltern in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet wäre. Dies setzt voraus, dass bereits ein Schaden des Kindes eingetreten ist oder sich eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt.«

Im hier verhandelten Fall rügt das BVerfG, dass die bislang mit dem Fall befassten Gerichte sich ausschließlich auf ein Sachverständigengutachten gestützt haben – und das hat es in sich (das BVerfG formuliert das so: „Die Verwertbarkeit des Gutachtens unterliegt erheblichen verfassungsrechtlichen Zweifeln“).

Wie das? Man lese den folgenden Passus der Verfassungsrichter, dann wird einem klar, was für eine fragwürdige „Begutachtung“ hier stattgefunden hat:

»Im Sachverständigengutachten wird die verfassungsrechtlich gebotene Frage nach einer nachhaltigen Gefährdung des Kindeswohls weder explizit noch in der Sache gestellt. Stattdessen prüft es die Erziehungsfähigkeit der Eltern in einer Weise, die nicht geeignet ist, das rechtliche Merkmal der Kindeswohlgefahr in tatsächlicher Hinsicht aufzuklären. Als Kriterien zieht es unter anderem heran, ob die Eltern dem Kind vermittelten und vorlebten, dass es „sinnvoll und erstrebenswert ist, zunächst Leistung und Arbeit in einer Zeiteinheit zu verbringen, sich dabei mit anderen messen zu können und durch die Erbringung einer persönlichen Bestleistung ein Verhältnis zu sich selbst und damit ein Selbstwertgefühl aufbauen zu können“, ob die Eltern der „geistigen Entwicklung ihres Kindes größtmögliche Unterstützung und Hilfe zukommen lassen, damit die Kinder hier nach ihrem geistigen Vermögen auf eine persönliche Bestleistung hin gefördert werden und diese erbringen können“ und ob die Eltern den Kindern ein „adäquates Verhältnis zu Dauerpartnerschaft und Liebe vorleben“. Mit diesen Fragestellungen wird die Erziehungsfähigkeit des  Beschwerdeführers an einem Leitbild gemessen, das die von Art. 6 Abs. 2 und Abs. 3 GG geschützte primäre Erziehungszuständigkeit der Eltern verfehlt. Eltern müssen ihre Erziehungsfähigkeit nicht positiv „unter Beweis stellen“; vielmehr setzt eine Trennung von Eltern und Kind umgekehrt voraus, dass ein das Kind gravierend schädigendes Erziehungsversagen mit hinreichender Gewissheit feststeht. Außerdem folgt aus der primären Erziehungszuständigkeit der Eltern in der Sache, dass der Staat seine eigenen Vorstellungen von einer gelungenen Kindererziehung grundsätzlich nicht an die Stelle der elterlichen Vorstellungen setzen darf. Daher kann es keine Kindeswohlgefährdung begründen, wenn die Haltung oder Lebensführung der Eltern von einem von Dritten für sinnvoll gehaltenen Lebensmodell abweicht und nicht die aus Sicht des Staates bestmögliche Entwicklung des Kindes unterstützt.«

Klare Worte des Verfassungsgerichts.

Und das Gericht muss „beeindruckt“ gewesen sein von den Vorurteilen der Gutachterin gegenüber dem aus Afrika stammenden Vater des Kindes:

»Zudem hat die Sachverständige Äußerungen und Verhaltensweisen des Beschwerdeführers ebenso wie seine von der Gutachterin wiederholt in den Vordergrund gerückte Herkunft aus einem afrikanischen Land in sachlich nicht nachvollziehbarem Maße negativ bewertet. So geht sie davon aus, dass der Beschwerdeführer umfassend alle nahen zwischenmenschlichen Beziehungen – zur Mutter, Tochter und auch zur neuen Partnerin – dazu instrumentalisiere, seinen Aufenthaltsstatus zu sichern, und hält Äußerungen des Beschwerdeführers vor diesem Hintergrund tendenziell für  unglaubwürdig. Darüber hinaus bezeichnet die Sachverständige eine autoritäre, gewaltsame und von Unterwerfung der Kinder geprägte Erziehung als „afrikanische Erziehungsmethode“, stellt fest, die „afrikanischen Verhaltensweisen“ deckten sich nicht mit dem Recht der Kinder auf gewaltfreie Erziehung und hält „Nachschulungen“ des Beschwerdeführers im Hinblick auf „die Einsichtsfähigkeit in die europäischen Erziehungsmethoden“ für erforderlich.«

Das ist schon wirklich starker Tobak.