„Entschärfter“ sanktionieren beim Existenzminimum? Das Bundesarbeitsministerium streut ein „Diskussionspapier“ über mögliche Veränderungen bei den Hartz IV-Sanktionen

Es kommt Bewegung in die Debatte über ein hoch kontroverses Thema: Sanktionen im Grundsicherungssystem. Für die einen sind sie von zentraler Bedeutung für das „Fordern“ im Hartz IV-System, um Druck auszuüben und auch um zu „bestrafen“, wenn man sich nicht regelkonform verhält. Für die anderen gibt es nur den Weg einer Abschaffung der Sanktionen und sie argumentieren, es kann nicht sein, Menschen das Existenzminimum zu entziehen. Irgendwo dazwischen sind diejenigen, die zwar keine grundsätzliche Abschaffung von Sanktionen unterstützen, aber mit guten empirischen Argumenten darauf hinweisen, dass die Sanktionspraxis durch eine erhebliche Streuung zwischen den Jobcentern (und sogar innerhalb von Jobcentern) charakterisiert ist, die nicht durch entsprechende Unterschiede zwischen den Personengruppen erklärt werden kann und insofern deutliche Hinweise auf eine willkürliche Ausgestaltung vorliegen. Hinzu kommt: Zahlreiche Sanktionen werden von den Sozialgerichten wieder einkassiert und waren demnach offensichtlich rechtlich nicht fundiert (dazu Hohe Erfolgsquoten bei Klagen und Widersprüchen gegen Sanktionen). Um welche Dimension es hier geht, verdeutlicht ein Blick auf die Zahlen: »Gut eine Million Mal haben die Jobcenter im vergangenen Jahr Leistungen gekürzt, in mehr als zwei Dritteln aller Fälle, weil Arbeitslose Termine unentschuldigt platzen ließen. Im Durchschnitt wurden 2013 fast 9000 Personen pro Monat die Zahlung ganz gestrichen«, so Thomas Öchsner in seinem Artikel Nahles will Hartz-IV-Sanktionen entschärfen. Auch der von vielen Medien immer wieder aufgegriffene Zuwachs an Sanktionen in den vergangenen Jahren basiert fast ausschließlich auf so genannten Meldeversäumnissen (dazu Mehr Sanktionen gegen „Hartz IV“-Bezieher wegen Arbeitsverweigerung?). Auch hier wurde schon grundsätzlich über den Streit über den (Un-)Sinn der Sanktionen berichtet (Das große Durcheinander auf der Hartz IV-Baustelle).

Öchsner berichtet in seinem Artikel, dass die strengeren Sonderregeln für unter 25-Jährige besonders umstritten sind. Denn den Jüngeren dürfen die Vermittler schon nach dem ersten gravierenden Verstoß gegen die Auflagen das Arbeitslosengeld II komplett für drei Monate kappen. Nach der zweiten Pflichtverletzung kann es auch vorübergehend kein Geld mehr für Miete und Heizung geben – mit der Folge, dass durch solche Maßnahmen Wohnungs- und Obdachlosigkeit vorprogrammiert sind. Union und SPD haben deshalb in ihrem Koalitionsvertrag angekündigt, zumindest die Sanktionsregeln für unter 25-Jährige „auf ihre Wirkung und möglichen Anpassungsbedarf hin“ zu überprüfen.

Zu dieser Frage gibt es neben vielen normativen Stellungnahmen auf neuere Forschungsbefunde, von denen hier beispielhaft zwei zitiert werden sollen:

  • Zum einen die Expertise Sanktionen im SGB II. Verfassungsrechtliche Legitimität, ökonomische Wirkungsforschung und Handlungsoptionen von Oliver Ehrentraut et al. (2014). »Sie geben einen Überblick über den Umfang und die Entwicklung der Sanktionen im Bereich der Grundsicherung, über unterschied- liche Positionen und Standpunkte, über die zentralen Argumente in der juristischen Debatte sowie über die Wirkungen von Sanktionen und die Schwierigkeiten bei der Interpretation der Ergebnisse. So weisen beispielsweise eine Reihe von Untersuchungen nach, dass Sanktionen im SGB II Auswirkungen auf die Beschäftigungsaufnahme haben. Allerdings wäre es verkürzt, dies schon als Beleg für den „Erfolg“ von Sanktionen zu werten. Die vertiefte Analyse lässt nicht nur einen lückenhaften Forschungsstand zu bestimmten Fragen erkennen, sondern nicht selten zudem eine ausschließlich auf quantitative Wirkungen verengte Forschungsperspektive. Sogenannte „nicht-intendierte“ Effekte wie z.B. gesundheitliche Folgen, Verschuldung oder Rückzug vom Arbeitsmarkt werden eher selten in die Untersuchungen einbezogen. Diese verengte Perspektive schränkt nicht nur die Interpretationsmöglichkeiten, sondern auch die Ableitung von Konsequenzen für die Gesetzgebung und die Verwaltungspraxis erheblich ein. Über Alternativen zu Sanktionen – so der Eindruck aus den vorliegenden Befunden – wird kaum nachgedacht«, so Ruth Brandherd im Vorwort zu der Expertise (Ehrentraut et al. 2014: 5).
  • Anlässlich einer Anhörung des Ausschusses für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landtags von Nordrhein-Westfalen vom 23. Mai 2014 hat sich auch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit zu dem Thema geäußert: Joachim Wolff: Sanktionen im SGB II und ihre Wirkungen, Nürnberg 2014. Erkennbar ist eine „Sowohl-als-auch“-Positionierung des BA-eigenen Instituts: »Die Befunde einiger quantitativer Studien weisen darauf hin, dass Bezieherinnen und Bezieher von Arbeitslosengeld (ALG) II aufgrund einer Leistungsminderung verstärkt in Beschäftigung übergehen. Eine Befragung von erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in Nordrhein-Westfalen liefert ferner Anhaltspunkte dafür, dass ein Teil der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten den im Sozialgesetzbuch II festgelegten gesetzlichen Pflichten ohne die Sanktionsmöglichkeit nicht nachkommen würde. Verschiedene Befragungsstudien verdeutlichen allerdings, dass sehr hohe Leistungsminderungen in Höhe von 60 Prozent des Regelsatzes, Wegfall des Regelsatzes bis hin zur „Totalsanktion“ besondere Einschränkungen der Lebensbedingungen der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten mit sich bringen können. Darunter fallen unter anderem verschärfte seelische Probleme, eingeschränkte Ernährung, Sperren der Energieversorgung und in Einzelfällen Obdachlosigkeit. Die Erkenntnisse sprechen nicht für ein generelles Aussetzen der Sanktionen im ALG-II-Bezug. Bei einer Reform der Sanktionsregeln sollte es vielmehr darum gehen, sehr starke Einschränkungen der Lebensbedingungen durch Sanktionen zu vermeiden und gleichzeitig eine Anreizwirkung der Sanktionen im Blick zu behalten« (Wolff 2014: 4). 

Und was tut sich nun aktuell auf der Ebene der Regierungspolitik? »Das von Andrea Nahles (SPD) geführte Bundesarbeitsministerium will … in Zukunft unnötige Härten vermeiden, das Strafsystem vereinfachen und die Sanktionen teilweise lockern. Dies geht aus dem Konzept des Ministeriums „zur Weiterentwicklung des Sanktionenrechts“ in der staatlichen Grundsicherung hervor«, so Öchsner in seinem Artikel. Und konkretisierend erfahren wir:

»Bislang wird den Hartz-IV-Empfängern der Regelsatz von derzeit 391 Euro für einen Alleinstehenden nach einem bestimmten Prozentsatz gekürzt, beim ersten Meldeversäumnis zum Beispiel um zehn Prozent. Dies hält das Ministerium für „verwaltungsaufwendig“ und „fehleranfällig“. Künftig sollen die Mitarbeiter in den Jobcentern den Hartz-IV-Satz pauschal um zum Beispiel 50 oder 100 Euro mindern können. Die strengeren Sonderregeln für unter 25-Jährige sollen ganz entfallen. Es wird also nicht mehr nach Lebensalter entschieden, was einige Verfassungsrechtler schon lange als Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz kritisieren. Rechte und Pflichte sollen künftig „für alle Leistungsberechtigten in gleicher Weise“ gelten, heißt es in dem Regierungspapier …«.

Also das bedeutet vor allem eine „Entschärfung“ des Verwaltungsaufwandes für die Jobcenter, die offensichtlich davon entlastet werden sollen, einen bestimmten Prozentsatz von einem konkreten Leistungsbetrag ausrechnen zu müssen. „Entschärfter“ sanktionieren mit einer Pauschale, so muss man das wohl zusammenfassen. Der Wegfall der Sonderregelungen für Jugendliche und junge Erwachsene wäre allein rechtssystematisch längst überfällig.
Aber es geht weiter – mit einer wichtigen „guten“ Botschaft für die Betroffenen und einer erneuten Verwaltungsentlastungsinaussichtstellung für die Jobcenter aus dem Hause Nahles:

»Das Arbeitsministerium will künftig auch vermeiden, dass Hartz-IV-Empfänger auf Grund von Sanktionen auf der Straße landen können. Die staatliche Übernahme der Kosten für Unterkunft und Heizung werde „nicht mehr von den Sanktionen erfasst“, schreiben Nahles‘ Beamte. „Damit wird auch die Gefahr von Wohnungsverlusten auf Grund von Sanktionen vermieden.“ Weiterer Vorteil: Die Mitarbeiter in den Jobcentern müssen weniger rechnen, weil in einem Hartz-IV-Haushalt mit mehr als einer Person die nach einer Kürzung übrig gebliebenen Ausgaben für die Miete und Heizung nicht mehr auf die übrigen Bewohner aufzuteilen sind. Am Prinzip der Lebensmittelgutscheine, die es nach Sanktionen auf Antrag im Wert von maximal 196 Euro pro Monat gibt, will das Ministerium aber offensichtlich festhalten: Auch künftig seien „zur Sicherung des Existenzminimums Sachleistungen zu erbringen, deren Höhe angemessen sein muss“, heißt es in dem Papier.«

Es muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass es sich um ein „Diskussionspapier“ handelt, erst im Herbst dieses Jahres soll ein Referentenentwurf vorgelegt werden. Wie sich die Union dazu positioniert, ist noch nicht bekannt.

Aus der Opposition kommt bedenkenswerte Kritik, aber zugleich auch ein Hinweis, warum die Bundesregierung offenbar bereit ist, die schärferen Sonderregelungen für junge Menschen abzuschaffen – wieder einmal wohl weniger aufgrund von Einsicht, als denn aus Angst vor den Männern und Frauen aus Karlsruhe:

„Der Grundbedarf muss immer gesichert sein. Das ist auch in dem Konzept des Bundesarbeitsministeriums nicht der Fall“, sagt Wolfgang Strengmann-Kuhn, sozialpolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag. Das Bundesarbeitsministerium wolle nur einem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zu den Sondersanktionen für unter 25-Jährige zuvorkommen, die verfassungsrechtlich fragwürdig seien. Der Grünen-Politiker fordert, die Sanktionen grundsätzlich zu überprüfen und sie vorerst durch ein Moratorium außer Kraft zu setzen.

Das ging schnell: Tarifverhandlungen scheitern am ersten Tag. Die Taxibranche zwischen dem gesetzlichen Mindestlohn ante portas und Uber & Co. im Nacken

Die Verhandlungen in der Taxibranche sind gescheitert. Die Arbeitgeber wollen einen niedrigen Mindestlohn und längere Schichten – ver.di brach die Gespräche schnell ab: Gewerkschaft lehnt 6,80 Euro für Taxifahrer ab oder Mindestlohn-Verhandlung für Taxifahrer gescheitert, so lauten die Schlagzeilen.

Die Arbeitgeber seien darauf fixiert gewesen, einen Einstieg in den Mindestlohn von 6,80 Euro festzuschreiben – außerdem Schichtlängen von zwölf Stunden, mehr als 40 Wochenstunden und eine Sechs-Tage-Arbeitswoche, so wird Christine Behle, Mitglied im Ver.di-Bundesvorstand, zitiert. Der Abbruch der Verhandlungen bringt die Branche in Schwierigkeiten, denn: »Kernpunkt des Tarifstreits ist der gesetzliche Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde ab 2015. Unter bestimmten Bedingungen kann eine Branche eine Übergangszeit bis 2017 ausschöpfen, bis sie die Entgelte auf das Mindestniveau bringen muss. Die Arbeitgeber und -nehmer können vertraglich klären, wie sie dabei im Einzelnen vorgehen. Gelingt ihnen das nicht, gilt der Mindestlohn ab 1. Januar 2015.« Und damit nicht genug, denn gleichzeitig befindet sich ein Teil der Taxibranche, in bestimmten Großstädten, in einer Auseinandersetzung mit einer fundamentalen Infragestellung ihres bisherigen Geschäftsmodells – gemeint sind die Aktivitäten von Uber & Co. (dazu bereits die Blog-Beiträge Taxifahrer eingeklemmt zwischen dem Mindestlohn ante portas, (Schein)Selbständigkeit und einer App sowie Die klassische Taxibranche hat es nicht leicht in Zeiten von gesetzlichem Mindestlohn und rosinenpickender Konkurrenz aus der App-Economy).

»Dem Branchenverband zufolge hatte Ver.di bei der gesetzlich vorgesehenen schrittweisen Annäherung an den Mindestlohn von 8,50 Euro zwar Zugeständnisse zur reinen Lohnhöhe bis 2017 signalisiert. Gleichwohl habe die Gewerkschaft Zusatzbelastungen wie die 40-Stunden-Woche und Arbeitszeiterfassung „ultimativ gefordert, die in Summe unsere Unternehmen bereits ab Januar 2015 deutlich über dem Mindestlohn belasten würden“, kritisierte BZP-Präsident Michael Müller«, so der Artikel Mindestlohn-Verhandlung für Taxifahrer gescheitert. Die Gewerkschaft ver.di hingegen kritisiert, dass die Arbeitgeber fixiert waren auf eine Festlegung auf 6,80 Euro pro Stunde als Einstieg in einen Mindestlohn. Außerdem sollten Schichtlängen von zwölf Stunden, mehr als 40-Wochenstunden und eine Sechs-Tage-Arbeitswoche festgeschrieben werden. Taxifahrer gehören nach Angaben des Statistischen Bundesamtes zu den am schlechtesten bezahlten Beschäftigten in Deutschland.

Schon die Mindestlohn-Thematik ist höchst komplex angesichts der Verhältnisse in dieser Branche, worauf der Artikel Zwischen Mindestlohn und Netz-Konkurrenz bereits im Juni dieses Jahres hingewiesen hat:

»Momentan verdienen Taxifahrer nach BZP-Angaben im Schnitt etwa 6,00 Euro bis 6,50 Euro die Stunde, bei angestellten Fahrern geschieht das meist über Umsatzbeteiligungen. „Das dürfte regional sehr schwanken“, erklärt Jan Jurczyk von der Gewerkschaft Verdi. Gehört hätten sie schon von Fällen, wo drei Euro in Mecklenburg-Vorpommern und acht Euro in Baden-Württemberg verdient worden seien. „Deswegen ist der Mindestlohn da so wichtig“, sagt Jurczyk. Für viele Taxifahrer würde er mehr Geld in der Tasche bedeuten.
Nach Einschätzung von Professor Stefan Sell könnte ein Mindestlohn aber auch noch mehr Konkurrenz ins Geschäft bringen. Weil er nicht für Selbstständige gelten würde, könnten mehr Fahrer in die Selbst- oder Scheinselbstständigkeit abtauchen, vermutet der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler von der Hochschule Koblenz. Sie würden finanziell nicht von der neuen Regel profitieren, aber den Taxifirmen Konkurrenz machen, die ihren Angestellten wie vorgeschrieben mehr pro Stunde zahlen müssten. „Das ist ein echtes Dilemma.“«

Und dann auch noch der Ärger mit den neuen Teil-Konkurrenten, also Fahrdiensten wie Uber & Co.
Das Landgericht Frankfurt hatte Uber bundesweit die Vermittlung untersagt, wenn Fahrer keine Genehmigung zur Personenbeförderung haben. Dagegen hatte Uber Widerspruch eingelegt und zugleich erklärt, sich nicht an das Verbot zu halten. Zwei Uber-Fahrern wurden vom Gericht Ordnungsgelder angedroht. Am kommenden Dienstag geht es in Frankfurt vor Gericht in die nächste Runde.

Wohnst Du schon oder suchst Du noch? Die Wohnungsfrage als neue alte soziale und „Markt“-Frage, zunehmend auch für die „Mitte“

Es gehört nicht viel Phantasie dazu, die in Teilen des Landes, vor allem in den (Groß)Städten, immer schwieriger werdende Versorgung mit Wohnraum als eines der ganz großen sozialpolitischen Themen in den vor uns liegenden Jahren zu identifizieren. Das spüren nicht nur die Hartz IV-Empfänger und die Menschen mit sehr kleinen Einkommen, sondern Wohnungsmangel diffundiert als Problem immer stärker in die Reihen der „Normalverdiener“: Normalverdiener finden in deutschen Städten kaum Wohnraum, so die Überschrift eines Artikels. Das ist irritierend, denn auf den ersten Blick scheint doch alles rund zu laufen: » …  vielerorts (drehen sich) die Kräne: Allein von Januar bis Juni genehmigten die Behörden laut Statistischem Bundesamt bundesweit 137.000 neue Wohnungen, knapp zehn Prozent mehr als ein Jahr zuvor.« Für die Auflösung dieses eben nur scheinbaren Widerspruchs braucht man keine Studien, sondern man muss sich nur die meisten der neu errichteten Wohneinheiten genauer anschauen. 

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