Aus den real existierenden Arbeitsmärkten: Von „marktüblichen Löhnen“ in „Tochtergesellschaften“ und Ingenieuren aus der Datenwolke

Vivantes, der Krankenhauskonzern des Landes Berlin, will Hunderte Mitarbeiter ausgliedern, um keine Tariflöhne mehr zahlen zu müssen, berichtet Thomas Gerlach in seinem Artikel Umstrittener Diätplan. Und Hannes Heine sekundiert diese Berichterstattung unter der Überschrift Proteste gegen den Vivantes-Sparkurs. Viele der fast 15.000 Vivantes-Mitarbeiter fürchten sich verständlicherweise vor Lohndumping im Zuge des anstehenden Konzernumbaus, der einem bekannten Muster folgen soll: »Der landeseigene Krankenhauskonzern will sparen und plant eine weitere Ausgliederung von Arbeitsbereichen. Alle therapeutischen Dienste sollen in eine noch zu gründende Tochtergesellschaft ausgelagert werden. Dasselbe droht den Mitarbeitern in den Bereichen Facility Management, Einkauf und Logistik sowie beim Patientenbegleitservice«, so Gerlach in seinem Artikel. Die Zielsetzung dieser Maßnahme ist simpel: Bei Neueinstellungen würde der Tarifvertrag für den Öffentlichen Dienst (TVÖD) keine Anwendung mehr finden.

Die Vivantes-Sprecherin Kristina Tschenett wird dementsprechend mit den Worten zitiert: „Zweck der konzerneigenen Tochtergesellschaft ist es daher, bei Neueinstellungen eine branchenübliche Vergütung zu zahlen“ – und die „marktüblichen Löhne“ liegen deutlich unter dem aktuellen Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes (TvöD). Der geplante Konzernumbau folgt dem Muster einer Aufspaltung in Stamm- und „Randbelegschaft“: »Ärzte und Pflegekräfte bilden künftig die Stammbelegschaft. Ergo- und Physiotherapeuten, Wachleute sowie Reinigungskräfte aber sollen in Tochterfirmen arbeiten. Dort würde bald weniger gezahlt als bislang«, so Heine. Besonders aufgebracht sind die Beschäftigten – darunter Ergotherapeuten, Logopäden, Physio- und Musiktherapeuten -, weil sie schon in den vergangenen Jahren einen Lohnverzicht hingenommen haben. Die Beschäftigten bringen in einem offenen Brief das zum Ausdruck, was das landeseigene Unternehmen hier machen will: Tarifflucht. Von den aktuellen Plänen würden etwa 800 Mitarbeiter betreffen, schätzt die Gewerkschaft Ver.di Berlin-Brandenburg. »Perspektivisch könnte Vivantes jedoch alle Mitarbeiter in neue oder bestehende Tochtergesellschaften auslagern, die nicht zu den Kernbereichen Ärzte, Pflegepersonal und Funktionsdienste, wie etwa Röntgen und MRT, gehörten. Dann würden bis zu 6.000 der etwa 15.000 Beschäftigten aus dem TVÖD herausfallen.«

Der Hintergrund aus Sicht des Unternehmens: Viele Behandlungen werden nicht ausreichend von den Krankenkassen vergütet, Vivantes muss zudem marode Gebäude sanieren. Der Konzern benötige jährlich zusätzlich 40 Millionen Euro vom Land, um den Investitionsstau aufzulösen, die er offensichtlich nicht bekommt und die man sich nun teilweise bei den eigenen Beschäftigten holen will. Nach Angaben der Berliner Krankenhausgesellschaft werden für alle Berliner Kliniken Investitionsmittel von mindestens 140 Millionen Euro jährlich benötigt, 2014 gibt Berlin aber nur rund 70 Millionen in das System. Für 2015 sind 77 Millionen Euro im Doppelhaushalt eingeplant.
»Knapp 70 Prozent der Ausgaben entfielen auf Personalkosten, und mit den jüngsten Tarifsteigerungen würden die Kosten deutlich schneller steigen als die Einnahmen aus den Fallpauschalen der Krankenkassen – also die Summe, die diese für die Behandlungen von Patienten zahlen«, so Gerlach mit Bezug auf die Argumentation der Unternehmensführung.

Fazit: Eine doppelte Unterfinanzierung der Krankenhäuser in Verbindung mit einem strukturellen Problem personenbezogener Dienstleistungen schlagen hier wie im Lehrbuch zu: Die doppelte Unterfinanzierung der Kliniken resultiert zum einen aus der Systematik des Fallpauschalensystems, die besonders problematisch ist für Häuser der Maximalversorgung bzw. für die Kliniken, die eine breite Angebotspalette vorhalten müssen und die sich nicht auf lukrative Felder innerhalb des Systems spezialisieren können, wo man tatsächlich hohe Margen erwirtschaften kann. Hinzu kommt die seit Jahren wirkende zweite Unterfinanzierung, die aus der dualen Krankenhausfinanzierung resultiert, denn für die Investitionen sind – eigentlich – die Länder zuständig und die geben schlichtweg zu wenig Geld in die Krankenhauslandschaft, so dass sich ein veritabler Investitionsstau über die letzten Jahre aufgebaut hat – im zweistelligen Milliardenbereich.

Hinzu kommt ein generelles Strukturproblem personenbezogener Dienstleistungen, die – wie die Krankenhausbehandlung, aber man denke hier auch an die Altenpflege sowie die meisten sozialen Dienstleistungen – am Tropf der öffentlichen oder parafiskalischen Finanzierung hängen, also auf Steuer- und/oder Beitragsmittel angewiesen sind. Sie sind konfrontiert mit dem, was die Ökonomen „administrierte Preise“ nennen, also beispielsweise Fallpauschalen oder Pflegesätze. Und deren Anpassung folgt oftmals einer Budgetlogik (beispielsweise wird die Budgetanhebung begrenzt auf den Anstieg der eigenen Beitragseinnahmen), die dann Probleme verursacht, wenn der tatsächliche Kostenanstieg darüber liegt. Und wenn bei einem Personalkostenanteil an den Gesamtkosten von 70% und mehr die Löhne z.B. um 3 Prozent erhöht werden, die Fallpauschalen oder die Pflegesätze aber nur um 1 Prozent, dann kann der betroffenen Anbieter die Lücke nur durch Produktivitätssteigerungen aufzufangen versuchen, was allerdings in Bereichen wie der Pflege schwer oder gar nicht möglich ist oder wenn man es denn tut, in dem endet, was als „Pflegenotstand“ skandalisiert wird. Wenn er also den Weg der Produktivitätssteigerung nicht gehen kann, dann verbleibt dem Anbieter nur die Option, bei den Personalkosten eine Kostensenkung zu realisieren, beispielsweise wie bei Vivantes durch Tarifflucht.

Nun wird der eine oder die andere sagen: So ist das eben im Bereich der sozialen Dienstleistungen, die am Tropf der öffentlichen Mittel hängen. In der „freien“ Wirtschaft hingegen sei vieles anders. Also werfen wir einen Blick in die „schöne Welt“ der Industrie.

Auslaufmodell Festanstellung? Diese Frage wirft Christoph Ruhkamp in seinem Artikel auf – und meint damit nicht irgendwelche Underdogs des Arbeitsmarktes, sondern berichtet über eine Gruppe, die man üblicherweise nicht mit diesem Thema in Verbindung bringen würde, sondern die im Mittelpunkt der Debatte über einen (angeblichen) Fachkräftemangel stand und steht: Ingenieure. Angesichts der seit Jahren schon beobachtbaren Entwicklung einer immer stärkeren Nutzung von (outgesourcten) Werk- und Dienstverträgen ist das für die, die sich mit der Materie intensiver beschäftigen, keine Überraschung, sondern die logische Fortführung eines seit langem laufenden Trends.

»Schöne digitale Arbeitswelt: Wenige Ingenieure arbeiten mit Tausenden freien Entwicklern zusammen. Das hat Folgen für die Arbeitswelt«, so Ruhkamp. Beobachtet wird eine Zunahme der Zahl an außerhalb der klassischen Unternehmen arbeitenden Crowdworkern, also an Menschen, die ihre Arbeitsleistung über Internetplattformen erbringen. Wieder einmal ist die Automobilindustrie ganz vorne dabei: »Der amerikanische Kleinserienspezialist Local Motors beschäftigt nur 100 Festangestellte. Ihnen stehen 40.000 externe Entwickler gegenüber, die für das Unternehmen arbeiten.«

Partner von Local Motors ist übrigens BMW. Erwähnt werden die auch aus anderen Artikeln bekannten Beispiele:

IBM »führte für seine Abteilung Anwendungsentwicklung ein Tool namens „Liquid“ ein. Damit werden Projekte in kleine Arbeitseinheiten aufgeteilt – und anschließend weltweit an die am wenigsten verlangenden Programmierer vergeben, sowohl konzernintern als auch an Freelancer. Die Folge: Hochqualifizierte in aller Welt stehen im direkten Wettbewerb zueinander.«
»Der Internetkonzern Amazon hat einen Marktplatz für Gelegenheitsarbeiten namens Mechanical Turk eingeführt, auf dem die „Mechanical Turker“ gerade einmal 1,25 Dollar in der Stunde verdienen. Sechzig Prozent der digitalen Fließbandarbeiter geben an, dass ihre Arbeit auf der Plattform ihre einzige Einkommensquelle ist. Die Details der Arbeitsverhältnisse werden einfach durch die Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Plattformen geregelt.«

Aber der Beitrag von Ruhkamp verweist auch darauf, dass es Gestaltungsversuche dieser Entwicklung gibt, was deshalb von Bedeutung ist, weil sie von den Betroffenen nicht nur negativ wahrgenommen wird, sondern oftmals darauf hingewiesen wird, dass man gerne mehr Zeit- und Ortssouveränität in Anspruch nehmen möchte: »Knapp die Hälfte der Befragten aus Forschung und Entwicklung sagten, dass sie gerne einen Teil ihrer regulären Arbeit von zu Hause aus erledigen würden. Unter den Akademikern seien es laut der Beschäftigtenbefragung der IG Metall sogar 55 Prozent.« Aber das muss gestaltet werden. Vor allem brauchen die Beschäftigten das »Recht, nach Hochphasen der Arbeit auch zurückzuschalten. Dass das geht, zeigen inzwischen viele Betriebsvereinbarungen und Regelungen, die Betriebsräte entwickelt und durchgesetzt haben: BMW und Bosch zählen und bezahlen neuerdings nicht mehr nur die Arbeit auf dem Firmengelände, sondern auch die unterwegs verrichtete. Trotzdem bleiben die Arbeitszeit begrenzt und der Sonntag frei. Auch VW und Daimler akzeptieren das Recht auf Abschalten.«

Dafür brauchen die Beschäftigten aber vor allem auch eine möglichst starke Gewerkschaft und dafür müssen sie sich auch selbst bewegen und sich organisieren. Genau an dieser Stelle muss man dann darauf hinweisen, dass es mit dem Organisationsgrad gerade bei den Ingenieuren und anderen vergleichbaren Berufsgruppen „bescheiden“ aussieht. Natürlich muss auch Gewerkschaft sich bewegen und ändern – aber am Ende wird der mögliche Ausgang der (Nicht)Gestaltung der Digitalisierung auch und gerade von der Bereitschaft der Betroffenen abhängen, sich kollektiv aufzustellen. Alleine – dafür braucht man keine Studien – werden sie keine Chance haben und als kleine Crowdworker im Ozean der Globalisierung enden.

„Wer nachrechnet, wundert sich, wie lange es dauert, bis er das eingezahlte Geld zurück erhält.“ Natürlich – es geht um die „Riester-Rente“

Das wird für diejenigen, die sich mit den Untiefen der privaten Altersvorsorge und dabei vor allem der „Riester-Rente“ beschäftigt haben, keine überraschende Erkenntnis sein: Erste Riester-Renten fallen niedriger aus, so ist ein Artikel in der Frankfurter Rundschau überschrieben.

Über die Riester-Rente wurde in den vergangenen Jahren immer wieder und zunehmend auch kritischer berichtet. Diese Auseinandersetzung ist wichtig, wenn man bedenkt, wie viele Millionen Menschen sich vom Staat haben leiten lassen, einen Teil ihrer zukünftigen Altersversorgung auf diese Säule zu legen. Und auf den ersten Blick scheint das ja auch ein gutes Angebot zu sein, wenn man bedenkt, wie tief der Staat in die Taschen (seiner Steuerzahler) greift, um den Abschluss von Riester-Verträgen anzureizen: Riester-Sparer bekommen eine staatliche Grundzulage von bis zu 154 Euro pro Jahr. Für jedes vor 2008 geborene Kind gibt es zusätzlich 185 Euro, für jedes danach geborene Kind 300 Euro. Gutverdiener profitieren eher von den möglichen Steuerersparnissen als den Zulagen.

Um diese Zulagen in voller Höhe zu erhalten, müssen Riester-Sparer pro Jahr, die Zulagen bereits eingerechnet, vier Prozent ihres Vorjahresbruttoeinkommens, maximal 2100 Euro, in ihren Riester-Vertrag einzahlen. Neben der Zulage können je nach Einzelfall noch Steuererstattungen anfallen, so der Artikel aus der Frankfurter Rundschau.

Niels Nauhauser von der Verbraucherzentrale Baden-Württemberg in Stuttgart hat nun aber beobachtet: „Erste Verträge, die nun fällig werden, weisen mitunter eine viel niedrigere Rente aus, als ursprünglich in Aussicht gestellt wurde“. Und weiter wird er zitiert mit den Worten: „Wer nachrechnet, wundert sich, wie lange es dauert, bis er das eingezahlte Geld zurück erhält.“
Dieser problematische Aspekt wurde bereits an anderer Stelle diskutiert und nachgewiesen. Für eine vertiefende Auseinandersetzung vgl. beispielsweise die Studie

Joebges, Heike et al.: Auf dem Weg in die Altersarmut. Bilanz der Einführung der kapitalgedeckten Riester-Rente (= IMK Report, Nr. 73), Düsseldorf: Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung, September 2012.

Das IMK bezeichnet die Einführung der Riester-Rente als „Fehlentscheidung“: »… erstens sei die freiwillige Vorsorge für Arbeitnehmer vergleichsweise teuer und auch deshalb zehn Jahre nach ihrer Einführung nicht weit genug verbreitet. Zum zweiten fielen die Renditen kapitalgedeckter Produkte tendenziell geringer als die der umlagefinanzierten Rente.«

Eine Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) gelangte zu dem Ergebnis, dass bei 2011 neu abgeschlossenen Verträgen die Versicherten mindestens 87 Jahre alt werden müssten, um wenigstens ihre eigenen Einzahlungen und die staatlichen Zulagen wieder ausgezahlt zu bekommen – ohne jegliche Rendite.

Hier ist auch der Anknüpfungspunkt für die aktuelle Berichterstattung mit ihrem Hinweis, dass für viele die jetzt tatsächlich ausgezahlte Rente niedriger daherkommt als erwartet. Gründe für diese Entwicklung:

»Bei Verkauf der Verträge haben die Anbieter oft mit Zinsen gerechnet, die aus heutiger Sicht viel zu hoch waren. Außerdem müssen die Versicherer die Rente extrem vorsichtig kalkulieren, indem sie eine lange Lebenserwartung annehmen. „Die Sparer müssen rechnerisch sehr alt werden, bis die Versicherung ihnen ihr Geld wieder ausgezahlt hat.“

In diese kritische Vorbehalte bestätigende Berichterstattung passt auch der Beitrag Nur Scham der Banken erspart Minuszins bei Riester von Karsten Seiber. Es gibt ja unterschiedliche Formen der Riester-Rentenverträge und der Artikel befasst sich mit den Riester-Banksparpläne, die sei Jahren als die stillen Stars unter den Altersvorsorgeprodukten gelten und auch von Verbraucherschützern gerne empfohlen werden: »Wer monatlich oder vierteljährlich einen festen Betrag auf ein Konto bei seiner Bank einzahlt, der kommt deutlich günstiger an die staatliche Förderung, als wenn er das Geld einer Versicherung oder Fondsgesellschaft überlässt.«

Immer wieder als Positivum hervorgehoben: Bei den Banksparplänen ist die Höhe der Zinsen festgelegt. »Keine Bank kann willkürlich festlegen, wie viel sie dem Sparer gutschreibt. Sie muss sich an einem Referenzzins der Kapitalmärkte orientieren.«

Und genau hier wird es jetzt problematisch, denn durch die Zinspolitik der letzten Jahre ist eine Folge, dass auch der auf Jahrzehnte angelegte Riester-Banksparplan derzeit kaum etwas bringt. Die meisten Anbieter von Banksparplänen haben sich hinsichtlich der Seite einem BGH-Urteil aus dem Jahr 2004 erforderlichen Ausweisung eines Referenzzinssatzes für die Umlaufrendite entschieden. Sie bildet die Rendite von Bundesanleihen mit unterschiedlicher Laufzeit ab und wird börsentäglich neu justiert.

»Doch während die Umlaufrendite bei Einführung der Riester-Rente vor zwölf Jahren noch bei fünf Prozent lag, fiel sie vor zwei Monaten erstmals unter ein Prozent. Und seitdem ging es weiter abwärts: Aktuell weist die Bundesbank lediglich noch eine Umlaufrendite von 0,8 Prozent pro Jahr aus.«

Das ist bereits wenig, aber noch nicht das, was beim Kunden tatsächlich ankommt, denn die Banken wollen nicht völlig auf eine wenn auch geringe Marge verzichten.

»Zwischen 0,5 und 1,0 Prozentpunkte behalten sie ein. Die Zahlen führen zu einem ernüchternden Ergebnis: Ein Zins von 0,8 Prozent abzüglich Kosten von 1,0 Prozent ergibt ein Minus von 0,2 Prozent. Das heißt nichts anderes, als dass ein Sparer der Bank noch etwas dafür zahlen muss, damit er sein Geld langfristig bei ihr anlegen darf«, so Karsten Seiber in seinem Artikel, der zugleich aber darauf hinweist: »So weit lassen es die Banken bislang nicht kommen.« In dem sie auf die eigentlich erforderliche Anpassung in den Minusbereich derzeit verzichten.

Vor diesem Hintergrund, aber auch unter Berücksichtigung weiterer, an dieser Stelle gar nicht thematisierter Probleme im Bereich der staatlich geförderten Altersvorsorge kann man durchaus die  Schlussfolgerung von Gustav A. Horn bei der Vorstellung der zitierten Studie des IMK über die Bilanz der Einführung der kapitalgedeckten Altersvorsorge nachvollziehen:

„Hohe Kosten, magere Renditen und erhebliche Risiken bei der Kapitaldeckung gehen zu Lasten von Millionen Menschen, die darauf hoffen, das im Zuge der Reformen deutlich abgesenkte Niveau der gesetzlichen Rente durch Vorsorgesparen ausgleichen zu können. Doch nach allem, was wir heute absehen können, wird das nur relativ wenigen gelingen. Noch schlechter wird es für all jene aussehen, die sich eine zusätzliche Absicherung gar nicht leisten können.“

Mindestlohnpflicht bei öffentlichen Aufträgen? Ja, aber nicht für Subunternehmer im Ausland. Ein deutsch-polnisches Modell der Bundesdruckerei wird vom EuGH bestätigt

Ein wichtiges Argument für einen gesetzlichen Mindestlohn war und ist, dass ein solcher auch für die Beschäftigten gilt, die nach Deutschland kommen und hier arbeiten. Ansonsten könnten diese Arbeitnehmer mit Löhnen vergütet werden, die auf dem Niveau des Herkunftslandes und damit möglicherweise deutlich unter dem liegen, was in Deutschland gezahlt werden muss. Mit einem für alle geltenden Mindestlohn kann man die daraus resultierende Verzerrung vermeiden – jedenfalls grundsätzlich, denn es gibt natürlich weitere Möglichkeiten, trotzdem ein Kostengefälle zu nutzen, wenn man beispielsweise an die Sozialversicherungsbeiträge denkt, die ebenfalls erheblich variieren. Unabhängig davon gibt es auch die Option, einen Teil oder den gesamten Auftrag an einen Standort mit deutlich niedrigeren Arbeitskosten zu verlagern. Dagegen ist man im Inland dann machtlos, vor allem, wenn die Verlagerung innerhalb der EU passiert, denn hier gilt grundsätzlich die Dienstleistungsfreiheit. Nun gibt es in den meisten Bundesländern Tariftreue- und Vergabegesetze, mit denen bei öffentlichen Aufträgen u.a. die Einhaltung von Mindestlohnbestimmungen eingefordert wird, um einen Auftrag bekommen zu können (vgl. dazu die Abbildung über Tariftreue-Regelungen in Deutschland vom WSI Tarifarchiv). Insofern bietet es sich für ein Unternehmen an, über die Auslagerung des eigentlichen Auftrags an einen öffentlichen Auftrag im Inland zu kommen, was aber beim öffentlichen Auftraggeber sauer aufstoßen kann.

Zum Sachverhalt erfahren wir:

»Im aktuellen Fall ist der Bieter für einen Dienstleistungsauftrag der Stadt Dortmund die bundeseigene Bundesdruckerei. Sie wollte den Dienstleistungsauftrag in Polen durch ihre dort ansässige hundert-prozentige Tochtergesellschaft ausführen lassen. Die Bundesdruckerei sah sich nicht in der Lage, gegenüber dieser Nach-Unternehmerin durchzusetzen, dass diese ebenfalls die Verpflichtungserklärung zur Zahlung des gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohnes (in NRW derzeit 8,62 Euro pro Stunde) abgibt. Es kam zum Rechtsstreit, weil die Bundesdruckerei nach Ansicht der Stadt Dortmund den Auftrag deshalb nicht erhalten soll. Die Vergabekammer Arnsberg hatte wegen europarechtlicher Bedenken einen Vorlagebeschluss an den EuGH gerichtet.«

Subunternehmer im Ausland müssen keinen Mindestlohn zahlen. Europäischer Gerichtshof: Bundesdruckerei darf Auftrag nach Polen auslagern – so die knackige Überschrift eines der Berichte über die nun vorliegende Entscheidung des EuGH. Das höchste EU-Gericht hat damit zu Ungunsten der Stadt Dortmund, die über eine Ausschreibung einen Auftrag zur Aktendigitalisierung und Konvertierung von Daten ihres Stadtplanungs- und Bauordnungsamts vergeben wollte, entschieden, denn man hatte mit Bezug auf das Tariftreue- und Vergabegesetz Nordrhein-Westfalen (TVgG – NRW) in Anwendung dieses Gesetzes von allen Bietern verlangt, dass das Mindestentgelt von 8,62 Euro auch den Arbeitnehmern zu gewährleisten sei, die bei einem vom Bieter vorgesehenen Nachunternehmer mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat (im vorliegenden Fall Polen) beschäftigt sind und den betreffenden Auftrag ausschließlich in diesem Staat ausführen.

Der EuGH hat sich nicht mit der Frage befasst, welche Mindestlohn-Regeln gelten, wenn der ausländische Subunternehmer die Arbeit vor Ort in Deutschland verrichtet, sondern es geht um die vollständige Dienstleistungserbringung in einem anderen Land als Deutschland.

Hier die Kernaussage der Entscheidung des EuGH, die man der Pressemitteilung Nr. 129/14 entnehmen kann:

»Ein bei der Vergabe öffentlicher Aufträge vorgeschriebenes Mindestentgelt kann nicht auf die Arbeitnehmer eines Nachunternehmers mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat erstreckt werden, wenn diese Arbeitnehmer den betreffenden Auftrag ausschließlich in diesem Staat ausführen. Die Verpflichtung zur Zahlung eines Mindestentgelts, das keinen Bezug zu den Lebenshaltungskosten in diesem anderen Mitgliedstaat hat, verstößt gegen die Dienstleistungsfreiheit.«

Der EuGH hat entscheiden, dass es der »Dienstleistungsfreiheit zuwiderläuft, wenn der Mitgliedstaat, dem der öffentliche Auftraggeber angehört, den Nachunternehmer verpflichtet, den Arbeitnehmern ein Mindestentgelt zu zahlen.«

Die Begründung des EuGH für seine Entscheidung ist eine ökonomische:

»Indem diese Regelung nämlich ein festes Mindestentgelt vorgibt, das zwar dem entspricht, das erforderlich ist, um in Deutschland eine angemessene Entlohnung der Arbeitnehmer im Hinblick auf die in diesem Land bestehenden Lebenshaltungskosten zu gewährleisten, aber keinen Bezug zu den in dem Mitgliedstaat bestehenden Lebenshaltungskosten hat, in dem die Leistungen im Zusammenhang mit dem betreffenden öffentlichen Auftrag ausgeführt werden (im vorliegenden Fall Polen), und damit den in diesem Mitgliedstaat ansässigen Nachunternehmern die Möglichkeit vorenthalten würde, aus den zwischen den jeweiligen Lohnniveaus bestehenden Unterschieden einen Wettbewerbsvorteil zu ziehen, geht sie nämlich über das hinaus, was erforderlich ist, um zu gewährleisten, dass das Ziel des Arbeitnehmerschutzes erreicht wird.«

Diese Argumentation ist für sich genommen auch nachvollziehbar, denn wie sollte das Gericht auch anders entscheiden angesichts der Fallkonstellation, dass die gesamte Dienstleistungserbringung in einem anderen Mitgliedsstaat der EU stattfinden soll? Ansonsten würde im Extremfall jeder aufgrund seiner niedrigeren Kosten günstigere Anbieter aus dem Ausland abgeblockt werden können. Vor diesem Hintergrund erscheint auf den ersten Blick eine solche Kritik überzogen:

»Die Europaparlamentarierin Evelyne Gebhardt (SPD) beklagte, der EuGH gewichte einmal mehr Unternehmerinteressen von Anbietern aus Billiglohnländern stärker als die Interessen heimischer Unternehmen und ihrer Mitarbeiter. »Die Ausbreitung von Subunternehmertum darf nicht mit dem Geld der Steuerzahler finanziert werden«, kritisierte sie.«

Auf der anderen Seite steckt natürlich auch ein Kern Wahrheit in dieser Wahrnehmung der Entscheidung, denn der vorliegende Fall ist ja auch dadurch gekennzeichnet, dass der Bieter, also die Bundesdruckerei, die eigenen Lohnkosten dadurch zu unterlaufen versucht, in dem ein Tochterunternehmen in Polen gegründet wird, über die man dann die Auftragserledigung der Stadt Dortmund zu einem Preis anbieten kann, bei dem die inländische Konkurrenten, die sich an die Bestimmungen des Tariftreue- und Vergabegesetzes Nordrhein-Westfalen halten müssen, nicht mitgehen können und aufgrund des Dumpingpreises ausscheiden werden. Man könnte dies logisch gesehen nur ausschließen, in dem man die Auftragserledigung an ein bestimmtes Territorium bindet, was wiederum europarechtlich nicht funktionieren wird.

Ein schlechter Geschmack bleibt natürlich mit Blick auf die Aufträge, die man tatsächlich auch vollständig auslagern kann, denn dann wird das beschriebene Ungleichgewicht im Ausschreibeverfahren nicht auflösbar sein, wenn der Preis entscheidend ist für die Vergabe. Letztendlich folgt das Modell dem Outsourcing vieler produzierender Unternehmen, die Teile der Produktion oder diese insgesamt an billigere Standorte verlagern.

Der DGB kritisiert die EuGH-Entscheidung. Unter der Überschrift „Körzell: Geschäftsmodelle à la Bundesdruckerei stoppen“ wird Stefan Körzell vom DGB-Bundesvorstand zitiert:

»Unabhängig von juristischen Auseinandersetzungen sieht Körzell vor allem den Bund in der Pflicht: „Gerade die öffentliche Hand sollte mit gutem Beispiel vorangehen und alles unterbinden, was Lohndumpingprozesse befördert. Der Bund als Eigner der Bundesdruckerei darf keine Mindestlohn-Umgehungsstrategien zulassen, indem über Tochterfirmen in Nachbarländern Leistungen billiger eingekauft werden.“ Das „Geschäftsmodell“ der Bundesdruckerei berge die Gefahr, dass die Interessen der Beschäftigten in Deutschland unter Druck gerieten. Dies habe auch Auswirkungen auf die Sozialversicherungssysteme.«

Juristisch gesehen ist die Entscheidung des EuGH aber eine Niederlage für die Gewerkschaften, die im Vorfeld ein Gutachten in Auftrag gegeben hatten: Der Arbeitsrechtler Wolfgang Däubler hatte in seinem Gutachten zu diesem Fall (Sind die Mindestlohnvorgaben des TVgG NRW für öffentliche Auftragnehmer und deren Nachunternehmer mit dem Unionsrecht vereinbar?, Düsseldorf, 20. Januar 2014) festgestellt, dass das nordrhein-westfälische Tariftreuegesetz europarechtskonform ist: Weder die Entsenderichtlinie noch die Dienstleistungsfreiheit seien verletzt. Dieser Sichtweise ist das EuGH offensichtlich nicht gefolgt.