Diesseits und jenseits der Kümmerexistenz. Arme und reiche (Solo)Selbständige, die vielen dazwischen und die Frage, was sich denn wie lohnt

Es ist ja zu einer gewissen Unsitte geworden, dass man Studien vor ihrer allgemeinen Veröffentlichung exklusiv irgendeinem Medium zur Verfügung stellt, das sich dann hoffentlich bedankt mit einer entsprechend prominent platzierten Berichterstattung, an die man ansonsten vielleicht nicht gekommen wäre. Das kann Sinn machen, kann aber auch zuweilen zu einem Ergebnis führen, das man so nicht haben wollte. Weil Berichterstattung kann nur sehr selektiv sein, muss verkürzen und zuweilen greift man nur einen und dann noch nicht einmal den für die Studienverfasser wichtigsten Aspekt heraus, weil der gerade gut in die Landschaft passt. Diese Tage kann man dieses allgemeine Muster wieder einmal exemplarisch studieren am Beispiel einer neuen Studie des DIW Berlin zur Selbständigkeit in Deutschland. So berichtete Philip Plickert in der FAZ unter der Überschrift Selbständig – aber oft arm über eine der Zeitung vorliegende „neue, noch unveröffentlichte Studie“ des DIW. »Der Sprung in die Selbständigkeit ist mit Risiken verbunden. Und es winken noch nicht einmal immer gute Einkommen. Fast jeder fünfte Selbständige ohne Mitarbeiter verdient je Stunde weniger als das Mindestlohnniveau«, kann man da lesen. Und der DIW-Forschungsdirektor Alexander Kritiklos wird in dem Artikel zitiert mit den Worten, dass die Zahl der „Kümmerexistenzen“ höher sei als er erwartet hätte. Um das zu untermauern, werden auch Zahlen geliefert: „18 Prozent der Solo-Selbständigen in Deutschland, das sind etwa 400.000, verdienen weniger als 5 Euro netto je Stunde und haben damit weniger als den aktuellen Bruttomindestlohn“, so Kritikos. Unter den abhängig Beschäftigten lag nur jeder Zehnte unter 5 Euro Nettolohn. Nur einen Tag nach der Veröffentlichung geht das DIW dann mit dieser Pressemitteilung an die Öffentlichkeit: Selbständigkeit lohnt sich doch. Schon die Überschrift deutet an, dass hier wohl „korrigierend“ auf die Berichterstattung im Vorfeld der Veröffentlichung der angesprochenen Studie reagiert werden soll.

Das kann man auch der Formulierung gleich am Anfang der Pressemitteilung entnehmen:

Der Schritt in die Selbständigkeit lohnt sich finanziell für viele, denn auch Solo-Selbständige verdienen nicht generell weniger als vergleichbare Angestellte … Alexander Kritikos, einer der Autoren der Studie und Forschungsdirektor am DIW Berlin, widerspricht damit einem weit verbreiteten Vorurteil, viele Selbständige würden ein Kümmerdasein fristen. Selbständige mit Mitarbeitern erzielen mit großer Wahrscheinlichkeit ein höheres Einkommen als Angestellte. „Aber auch Solo-Selbständige“ – so Kritikos – „stellen sich finanziell nicht selten besser als Angestellte, insbesondere wenn sie sich am oberen Ende der Einkommensverteilung befinden oder wenn sie über ein Abitur, aber keine weitere berufliche Ausbildung verfügen.“

Unabhängig von diesen medialen Manövern kann man nun auch einen direkten Blick in die zitierte Studie des DIW werfen, denn sie wurde zwischenzeitlich allen zugänglich gemacht:

Michael Fritsch, Alexander S. Kritikos und Alina Sorgner: Verdienen Selbständige tatsächlich weniger als Angestellte? In: DIW Wochenbericht Nr. 7/2015, S. 134 ff.

Zur Datenbasis der Studie eine wichtige Hintergrundinformation: Die Wissenschaftler haben die Daten des Mikrozensus 2009 ausgewertet, die den Forschern zufolge in ihrer Verteilungsstruktur im Wesentlichen auch heute so gültig seien. Was man gesondert diskutieren könnte.

Insgesamt gibt es in Deutschland 4,2 Millionen Selbständige, davon 2,3 Millionen Solo-Selbständige und 1,9 Millionen mit Angestellten. Und das die Gruppe der Selbständigen sehr heterogen ist, wird niemanden überraschen, der sich die unterschiedlichen Typen von Selbständigen vor Augen führt: Das reicht dann von kleinen Ladenbesitzern, Kiosk- und Kneipenbetreibern oder Dienstleistern über Handwerkermeister oder Angehörige der Freien Berufe bis hin zu den „klassischen“ großen Unternehmern. Entsprechend breit muss auch die Streuung der Einkommen sein. »Die relativ starke Streuung der Einkommen von Selbständigen weist darauf hin, dass unternehmerische Selbständigkeit mit hohen Einkommens- chancen, aber auch mit hohen Einkommensrisiken behaftet ist.« Diese Schlussfolgerung erscheint zwingend und ist nicht wirklich überraschend. Wir sind konfrontiert mit sehr hohen Einkünfte einer Minderheit der Selbständigen und einer kaum vorhandene „Unternehmer- rendite“ für viele andere Selbständige.

Hinsichtlich der Einkommensverteilung bei den Selbständigen (und deren Vergleich zu den abhängig Beschäftigten) kommen die DIW-Wissenschaftler zu folgenden Erkenntnissen:

»Während Selbständige am unteren Ende der Einkommensverteilung sehr geringe Einkommen in Kauf nehmen müssen, übersteigen die Werte am oberen Ende der Einkommensverteilung die Werte für die abhängig Beschäftigten bei weitem. Ein Beispiel: Rund 18 Prozent (etwa 400 000) der Solo-Selbständigen, aber auch etwa zehn Prozent (185 000) der Selbständigen mit weiteren Beschäftigten verdienten im Jahr 2009 weniger als fünf Euro netto pro Stunde. Allerdings mussten sich auch zehn Prozent aller abhängig Beschäftigten (rund 3,65 Millionen) mit weniger als fünf Euro netto pro Stunde zufrieden geben … (Nach den Nettoeinkommensdaten) ist die Streuung für Selbständige um mehr als das Dreifache höher als für abhängig Beschäftigte … So verdienen die untersten zehn Prozent der Selbständigen mit Beschäftigten (das zehnte Perzentil) pro Stunde weniger als die untersten zehn Prozent der abhängig Beschäftigten … mehr als 40 Prozent aller Solo-Selbständigen realisieren ein höheres Einkommen als abhängig Beschäftigte, allerdings nur in den höheren Einkommenskategorien … Der Median-Selbständige mit weiteren Beschäftigten verdient pro Stunde 22 Prozent mehr als ein vergleichbarer abhängig Beschäftigter. Der Median-Solo-Selbständige verdient hingegen sechs Prozent weniger.«

In ihrem Fazit kommen die Wissenschaftler zu dem Ergebnis, dass die »Analyse verdeutlicht, dass es keinen Grund gibt, insbesondere die Solo-Selbständigkeit grundsätzlich in ein schlechtes Licht zu stellen. Im Gegenteil: Bei Solo-Selbständigen ist die Streuung der Einkommen besonders hoch, sie erwirtschaften also sowohl sehr niedrige als auch überproportional hohe Einkommen.«

Soweit einige zentrale Befunde aus der DIW-Studie. Ganz offensichtlich möchte man vermeiden – so ist die Pressemitteilung des Instituts zu lesen -, dass es eine Fokussierung auf den unteren Rand vor allem der Solo-Selbständigkeit gibt, deshalb die fast schon allergisch daherkommende Reaktion auf den dann auch noch von der FAZ aufgegriffene Begriff von den „Kümmerexistenzen“. Dies muss sicher auch im Kontext der vielen Bemühungen gesehen werden, Existenzgründungen in die Selbständigkeit hinein zu befördern.

Aber genau hier sind eben auch eine nicht wegzudiskutierende sozialpolitische Relevanz und zugleich ein weitgehend ungelöstes sozialpolitisches Problem zu verorten: Denn viele der nun mal auch tatsächlich vorhandenen Solo-Selbständigen, die schon derzeit kaum oder gar nicht über die Runden kommen, induzieren reale sozialpolitische Leistungen in der Gegenwart bzw. und vor allem mit Blick auf die Zukunft erhebliche Sicherungslücken, vor allem im Bereich der Alterssicherung.

Ein Teil der auch in der DIW-Studie beschriebenen Solo-Selbständigen mit den sehr niedrigen Einkommen findet man wieder im Grundsicherungssystem (SGB II) und hier als Aufstocker. Die Abbildung mit der Entwicklung der Zahl der selbständigen Aufstocker verdeutlicht, dass es seit einigen Jahren eine erkennbare Konstanz gibt, was die Zahl der Betroffenen angeht. Die unvollständige Existenzsicherung dieser „Kümmerexistenzen“ wird also über Steuermittel gewährleistet. Und Steuermittel werden auch bei vielen Solo-Selbständigen spätestens im Alter fällig werden, denn sie zeichnen sich aus durch oftmals nur rudimentär oder gar nicht vorhandene Altersvorsorge – woher auch, wenn sie mit den laufenden Einkommen schon gegenwärtig nicht oder gerade so über die Runden kommen. Hier wird in aller Deutlichkeit und Konsequenz ein nur historisch zu verstehendes Sicherungsdilemma erkennbar, denn die weitreichende Herausnahme „der“ Selbständigen aus der gesetzlichen Rentenversicherung war ein gleichsam ständisches Abbild der Gesellschaft in der Vergangenheit, in der man tatsächlich oftmals davon ausgehen konnte, dass der Selbständige über andere, private Formen der Altersvorsorge selbst in der Lage war, sich gegen die mit dem Alter verbundenen Einkommensrisiken abzusichern. Das ist aber bei vielen Solo-Selbständigen im unteren und mittleren Einkommensbereich heute schlichtweg eine Illusion und wird nicht funktionieren können. Im Ergebnis wird das dann dazu führen, dass die Betroffenen im Alter auf Leistungen aus der Grundsicherung für Ältere angewiesen sein werden.

Das Problem ist schon lange bekannt. Und sogar Versuche des Gegensteuerns hat es gegeben, die allerdings schnell wieder beerdigt worden sind. Man erinnere sich an dieser Stelle nur an die blutige Nase, die sich die damalige Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU), geholt hat, als sie in der letzten Legislaturperiode davon gesprochen hat, dass es die „Notwendigkeit einer Pflichtvorsorge“ geben würde, die man gegenüber den Selbständigen durchsetzen müsse, da das Risiko der Altersarmut nicht auf die Gesellschaft abgewälzt werden dürfe. Der im Frühjahr 2012 von ihr in die Diskussion eingebrachte geplante Zwang zur Alterssicherung wurde bereits wenige Monate später sang- und klanglos beerdigt (vg. hierzu beispielsweise schon im August 2012 Zwangsrente für Selbständige steht vor dem Aus).

Aber nur, weil man den Kopf in den Sand steckt angesichts der Widerstände und der auch vielen tatsächlichen technischen Schwierigkeiten – das Problem verschwindet ja deshalb nicht einfach von der Tagesordnung, wenn man darüber nicht mehr nachdenkt und nach Lösungen sucht.

Es lohnt sich. Kräftiger Anstieg der Reallöhne. Also im Durchschnitt über alle Arbeitnehmer und mit Wasser im Wein

Offensichtlich läuft es gut in Deutschland. Eine Erfolgsmeldung nach der anderen. Exporte, Importe und Exportüberschuss erreichen neue Rekordwerte, so berichtete das Statistische Bundesamt am 09.02.2015: »Die Außenhandelsbilanz schloss im Jahr 2014 mit dem bislang höchsten Überschuss von 217,0 Milliarden Euro ab. Damit wurde der bisherige Höchstwert von 195,3 Milliarden Euro im Jahr 2007 deutlich übertroffen.« Und am gleichen Tag legen die Bundesstatistiker nach und verkünden eine frohe Botschaft für die Arbeitnehmer: Reallohn­index 2014 um 1,6 % gestiegen. Der Reallohnanstieg von 1,6 % im Jahr 2014 – das ist »der höchste Anstieg seit Beginn der Zeitreihe des Reallohnindex im Jahr 2008.« Allerdings lohnt es sich, genauer hinzuschauen, denn die Statistiker geben wichtige Hinweise, wie es zu diesem an sich erfreulichen Ergebnis gekommen ist und sie schütten durchaus Wasser in den schön daherkommenden Wein: »Der starke Anstieg der Reallöhne im Jahr 2014 ist vor allem durch den niedrigen Anstieg der Verbraucherpreise begründet und nicht vorrangig auf die gestiegenen Verdienste zurückzuführen. Die Verbraucherpreise erhöhten sich mit + 0,9 % deutlich geringer als im Durchschnitt der letzten 5 Jahre (+ 1,5 %), der Anstieg der Nominallöhne (+ 2,4 %) lag hingegen sogar leicht unter dem entsprechenden Durchschnittswert (+ 2,5 %).« Noch kräftiger erhöhten sich die Löhne der Arbeitnehmer, für die ein Tarifvertrag gilt. Sie stiegen im Jahr 2014 sogar um 3,1 %. Über besonders kräftige Zuwächse konnten sich die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes freuen, die im Durchschnitt 3,5 % mehr Geld bekamen.

Die neuen, vorläufigen Daten des Statistischen Bundesamtes decken sich mit den Berechnungen des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) bei der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Dieses hatte den Anstieg der Nominallöhne kürzlich sogar mit durchschnittlich 2,7 Prozent beziffert und damit sogar eine Reallohnsteigerung von 1,8 Prozent ermittelt: Tariflöhne und -gehälter 2014: Reale Tarifsteigerungen von 2,2 Prozent. Neben den realen Steigerungen der Tariflöhne und -gehälter wird vom WSI immer auch die Entwicklung der „Effektivlöhne“ ausgewiesen. Es geht dabei um die effektiven Bruttoeinkommen – hier fließen unter anderem auch die Einkommen von Beschäftigten ein, die nicht nach Tarif bezahlt werden und das sind in den letzten Jahren immer mehr geworden. Das WSI schreibt zur Entwicklung:

»Die Tariflöhne haben im Jahr 2014 real (nach Abzug der Inflation) spürbar zugelegt. Die Verbraucherpreise sind im vergangenen Jahr um 0,9 Prozent gestiegen, die Tarifvergütungen dagegen um nominal 3,1 Prozent. Daraus ergibt sich im gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt ein reales Wachstum der Tariflöhne und -gehälter um 2,2 Prozent … Bei den effektiven Bruttoeinkommen … fiel der Zuwachs im vergangenen Jahr ähnlich aus: Die Bruttolöhne und -gehälter sind 2014 nominal je Arbeitnehmer/in um 2,7 Prozent gestiegen, preisbereinigt bedeutet dies einen Anstieg um 1,8 Prozent.«

Man muss diese Daten natürlich einordnen. Wenn es so ist, dass vor allem die sehr niedrige Inflationsrate verantwortlich ist für den ausgewiesenen Reallohnanstieg und dieser weniger auf gestiegene Verdienste zurückzuführen ist, worauf das Statistische Bundesamt hingewiesen hat, dann muss man ergänzend erwähnen, dass auch „die“ Inflationsrate nicht einfach zu handhaben ist, handelt es sich doch ebenfalls um eine sehr hoch aggregierte Größe. In die Berechnung der Preissteigerungsrate gehen hunderte einzelner Güter und Dienstleistungen ein, die natürlich gewichtet werden müssen. Und die konkrete Art und Weise der konkreten Zusammensetzung des Wägungsschemas ist seit jeher eine Quelle der kritischen Debatte, inwieweit und welche Haushaltskonstellationen damit abgebildet werden (können). Es geht an dieser Stelle nicht um die überwiegend psychologisch zu erklärende Differenz zwischen der amtlich ausgewiesenen und der so genannten „gefühlten“ Inflation, die sich vor allem dadurch ergibt, dass bestimmte Güter und Dienstleistungen, die oft bis täglich in Anspruch genommen werden, bei den Menschen ein anderes Gewicht haben als ihnen im offiziellen Gewichtungsschema zugerechnet wird.

Es geht hier vor allem darum, dass die Haushalte mit niedrigen bis durchschnittlichen Einkommen oftmals ein Konsummuster haben (müssen), bei dem eine spezifische Berechnung der Preissteigerungsrate zu höheren Werten führen könnte als die, die von der einen offiziellen Inflationsrate ausgewiesen werden. Dann würde der gefeierte Reallohnanstieg differenziert nach Arbeitnehmereinkommensgruppen sicher wesentlich differenzierter betrachtet werden.
Eine weitere Einschränkung soll und kann an dieser Stelle nicht verschwiegen werden: In bestimmten Teilbereichen des Arbeitsmarktes sehen wir derzeit an vielen Beispielen die Tendenz, durch ein „Abschichten“, „Auslagern“ und anderen Strategien der Lohnkostensenkung die Arbeitseinkommen von Beschäftigtengruppen zu drücken – vgl. hierzu nur als ein Beispiel den Blog-Beitrag Billiger, noch billiger. Wo soll man anfangen? Karstadt, Deutsche Post DHL, Commerzbank … und Primark treibt es besonders konsequent.

Spannend wird das noch junge Jahr 2015 mit Blick auf die Auswirkungen unterschiedlicher Entwicklungslinien auf die weitere Lohnentwicklung. Also zum einen die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns, von dem trotz aller Ausnahmen gut drei Millionen Beschäftigte positiv betroffen sein müssten, darunter viele Arbeitnehmer, die in der Vergangenheit mit Löhnen deutlich unter den nun geltenden 8,50 Euro pro Stunde abgespeist worden sind. Zum anderen beginnt derzeit die Tarifrunde 2015. Für rund 11 Millionen Beschäftigte laufen die Tarifverträge in den kommenden Monaten aus. Die Verhandlungen haben in der Metallindustrie begonnen und starten demnächst im öffentlichen Dienst (Länder). Es folgen die Chemische Industrie, der Einzelhandel sowie der Groß- und Außenhandel. Vgl. dazu die Übersicht Tarifrunde 2015 vom WSI Tarifarchiv.

Unauffällig, nicht sichtbar, verdeckt. Und es werden mehr. Frauen und Obdachlosigkeit

Über Wohnungs- und Obdachlosigkeit wird nicht bzw. wenn, dann nur sehr verzerrt berichtet. Und in den wenigen Berichten geht es fast ausschließlich um Männer. Frauen tauchen so gut wie nie auf. Aber es gibt sie. Christina Hoffmann hat ihren Artikel über obdachlose Frauen überschrieben mit Die Unauffälligen. Rund drei Viertel aller Obdachlosen in Deutschland sind Männer. Frauen ohne Wohnung sind unauffällig, ja fast: nicht sichtbar. Hoffmann notiert in ihrem Artikel:
»Mit Wissenschaftlern und Sozialpädagogen kann man gut und lange über Obdachlosigkeit von Frauen sprechen. Die weiblichen Betroffenen selbst schweigen lieber; es ist schwierig, eine obdachlose Frau für ein Interview zu gewinnen … Für die Mehrheit der Frauen ohne Wohnung gilt: Sie haben eine große Scham ob ihrer Situation und eine noch größere Angst, erkannt zu werden.«

In einer Großstadt wie Berlin mit einer sehr ausdifferenzierten Wohnungsnotfallhilfe gibt es auch Einrichtungen wie „FrauenbeDacht“, die sich speziell an Frauen ohne Bleibe richten. In einem Berliner Altbau verteilen sich auf fünf Etagen 43 Einzelzimmer mit Bett, Schrank, Tisch und einem Stuhl. Außerdem gibt es Gemeinschaftsküchen und Aufenthaltsräume, zudem zwei Zimmer für eine Mutter mit Kind.

Eigentlich wollen Politik und Medien immer sofort erst einmal wissen – wie viele sind es denn, um die es hier geht. Die Sucht nach den Zahlen, nicht selten müssen es große Zahlen sein, damit überhaupt ein Resonanzkörper in Schwingungen versetzt wird. Aber über die wohnungs- und obdachlosen Menschen gibt es keine Bundesstatistik. Immer wieder muss man deshalb auf die Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft für Wohnungslosenhilfe (BAG W) zurückgreifen. Die kam bei ihrer Schätzung im Jahr 2012 auf ungefähr 284.000 Betroffene, Männer und Frauen. »Seit einigen Jahren trifft es immer mehr Frauen. Mitte der neunziger Jahre waren nach Schätzung der BAG W zwölf bis 15 Prozent der Obdachlosen Frauen; heute ist es schon ein Viertel«, berichtet Hoffmann.

Wie kommt es zu den Steigerungen? Als eine Möglichkeit zur Erklärung wird genannt: Die Art und Weise, wie Männer und Frauen leben, gleicht sich immer weiter an. Aber auch und nicht überraschend für jeden, der sehenden Auges durch unsere Städte geht: der angespannte Wohnungsmarkt. Vgl. dazu auch den Gastbeitrag Die vergessenen 360.000 – Ein Einblick in das Leben von Menschen ohne Wohnung von Rebekka Wilhelm und Lena Amberge vom 18.12.2014 bei O-Ton Arbeitsmarkt in der Rubrik Menschen am Rande kommen zu Wort.

„Die Obdachlosigkeit kommt immer nach einer langen, langen Geschichte“, so wird die Sozialwissenschaftlerin Brigitte Sellach in dem Artikel zitiert, die biografische Interviews mit betroffenen Frauen durchführt. „Beziehungsprobleme mit Demütigungen, Gewalt und Ohnmacht bringen Frauen in die Wohnungslosigkeit.“ Die Soziologie diagnostiziert überdies sogenannte „Ausschlussprozesse“ der Gesellschaft: Langzeitarbeitslose, körperlich und geistig Behinderte und vor allem psychisch Kranke gehörten irgendwann nicht mehr dazu.
Ein besonders Frauen betreffendes Phänomen wird in dem Artikel von Christina Hoffmann auch erwähnt: „Verdeckte Obdachlosigkeit“. »Frauen schlüpfen bei Männern unter, die sie misshandeln oder ausnutzen. Ein Schlafplatz im Tausch gegen Sex oder Hausarbeit. Diese Frauen fallen nicht auf, weder in der Statistik noch im Straßenbild.«