32-Stunden-Woche für Vater und Mutter mit Kita neben dem Feldlazarett irgendwo im Teilzeit-Auslandseinsatz? Skurriles und Sinnvolles, das obligatorische Fragezeichen und die eigentliche Systemfrage

Ursula von der Leyen (CDU) will die Bundeswehr zum familienfreundlichen Arbeitgeber umbauen. Das Thema liegt ihr, so Christian Tretbar in seinem Artikel „Dienen zwischen Kita und Kaserne„. Auf alle Fälle hat sie wieder einmal die mediale Aufmerksamkeit erregen können. Sie hat das mit der ihr eigenen Verve vorgetragen, so dass man zu dem Eindruck getrieben werden konnte, Deutschlands Freiheit wird in der Marine-Kita verteidigt. Und das sie die Bundeswehr zu „einem der attraktivsten Arbeitgeber in Deutschland“ machen will, ist irgendwie konsequent, darunter macht sie es offenbar nicht. Um die Vereinbarkeit von Dienst und Familie zu verbessern, sollten Teilzeitmöglichkeiten wie eine Drei- oder Viertagewoche sowie Lebensarbeitszeitkonten eingeführt werden, so die Vision der neuen obersten Soldatenfrau. Außerdem sollen Tagesmütter in Kasernen stärker zum Einsatz kommen. Wenn es nur das wäre. Aber sie agiert nicht allein, was neue „familienpolitische“ Vorschläge angeht. Die Bühne betritt die neue Bundesfamilienministerin. Und die darf gleich gehörig Lehrgeld bezahlen. Die Luft in Berlin ist eben sehr bleihaltig, wie mancher aus der (hier durchaus positiv gemeint) Provinz stammende Politiker bereits schmerzhaft zu spüren bekommen hat.

Während Ursula von der Leyen sich erneut zumindest in den Medien typgerecht platzieren konnte, lief zeitgleich ein ganz anderer Film ab: Das Zurechtstutzen eines Kabinettsfrischlings namens Manuela Schwesig (SPD), die als neue Bundesfamilienministerin in die Fußstapfen der Vor-Vorgängering von der Leyen zu treten versucht – ebenfalls mit einem modern daherkommenden Vorschlag, der aber – anders als die Visionen der neuen Soldatenministerin – sofort zerrissen wurde und die nach kürzester Zeit vom Bannstrahl der Kanzlerin getroffen wurde, die über ihren Regierungssprecher Steffen Seibert ausrichten ließ: „Ministerin Schwesig hat da einen persönlichen Debattenbeitrag gemacht. Sie selber spricht ja von ihrer Vision“. Wenn man bedenkt, dass Helmut Schmidt im Kollektivgedächtnis der Deutschen nicht nur als qualmende Dauerprovokation der Medizin verankert ist, sondern auch als derjenige, der diejenigen, die Visionen haben, den Gang zum Arzt, respektive zum Psychiater nahegelegt hat, dann wird die Bloßstellung deutlich. Aber was läuft hier eigentlich gerade wirklich ab? Die eine wird gefeiert für – übrigens seit langem vorgetragene – Forderungen nach einer Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der „Mitarbeiter“ einer Armee, die seit längerem im Modus des Durcheinanderseins funktionieren muss/soll, die andere greift neuere Vorschläge aus der Fachdiskussion auf und wird dafür fast skalpiert, zumindest aber als reichlich naiv etikettiert, was in der Politik (und in weiten Teilen der Medien) von der Wirkungsseite vergleichbar ist.

Zuerst einige Worte zum Beitrag der Bundesverteidigungsministerin. Sie greift ein grundsätzliches und seit längerem diskutiertes Problem auf, das Christian Tretbar in seinem Artikel so beschreibt: »Die Auslandseinsätze, die häufigen Ortswechsel und die Betreuungssituation machen die Bundeswehr so unattraktiv für Familien. Wer in der Bundeswehr Karriere machen will, muss damit leben, häufig zu wechseln: die Position aber auch den Ort. Und das ist für Familien eine Belastung, da Kinder die Schule und die Ehefrau oder der Ehemann auch die Arbeit wechseln müssten.«  Immer wieder hat der Bundeswehrverband und auch der Wehrbeauftragte des Bundestages auf die Probleme hingewiesen – man vertiefe sich bei Bedarf nur in den aktuellen „Jahresbericht 2012“ des Wehrbeauftragten. Dessen Ausführungen zum Themenfeld „Vereinbarkeit von Familie und Dienst“ tragen ab der Seite 23 ein eigenes Kapitel zum Jahresbericht bei, noch vor den Folgethemen „Frauen in den Streitkräften“ und „Sexuelle Übergriffe“. „Es kann nicht hingenommen werden, wenn ein Soldat mit zwei einzuschulenden Kindern Ende Juli noch nicht weiß, wohin er zum 1. Oktober versetzt wird“, schreibt der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages. Das Thema Schulwechsel spiele eine große Rolle, da vor allem das föderale Schulsystem nicht passend sei für die von Bundeswehrangehörigen eingeforderte hohe Mobilität. Insofern stehen die mit Kindern beladenen Beschäftigten der Bundeswehr stellvertretend für die Probleme vieler Arbeitnehmer, aufgrund der Besonderheiten beim Militär ist allerdings diese Belastung sicher überdurchschnittlich.

Man muss diese nun in den Vordergrund geschobene Debatte über einen Aspekt der Arbeitsbedingungen in der Bundeswehr sehen vor dem Hintergrund des tiefgreifenden Umbaus dieser Institution, vor allem seit dem Wegfall der Wehrpflicht, denn seitdem muss sich die Bundeswehr auf dem „normalen“ Arbeits- und Ausbildungsmarkt ausschließlich um Freiwillige bemühen – während aber ihr bisheriges Geschäftsmodell weitgehend in sich zusammengebrochen ist. Weite Teile der tradierten Ausbildungsstrukturen basierten auf dem Zwangscharakter einer Wehrpflichtigenarmee, die nunmehr, des zwangsläufigen Nachschubs beraubt, neue, normale Wege der Rekrutierung und „Personalentwicklung“ gehen muss. Insofern handelt es sich einerseits aus der Perspektive der Gesamtwirtschaft um eine Art „nachholende Modernisierung“ (und es wäre für die konkreten Lebensbedingungen der Soldatinnen und Soldaten schon viel gewonnen, wenn man da ein paar Schritte weiter kommt, was einen aber keineswegs absehbar zu „Deutschlands attraktivsten Arbeitgeber“ machen wird und das auch nicht leisten kann), anderseits aber kann man die ausgeprägten Besonderheiten des Arbeitgebers Militär doch nicht einfach negieren und mit den „normalen“ Unternehmen eine falsche Referenzgröße wählen. Anders ausgedrückt: Wenn die Soldaten sich im Auslandseinsatz befinden, dann werden gut gemeinte Konzepte einer Drei- oder Viertagewoche schlichtweg hinfällig. Und wenn die personelle Kontraktion der Bundeswehr weiter fortgeschrieben wird, dann müssen sich die Auslandseinsätze gerade der Spezialisten immer weiter ausdehnen. Und schlussendlich: Ankündigen kann man viel, aber die von der Ministerin aufgekochten Maßnahmen sind nicht billig und noch ist meines Wissens der Verteidigungshaushalt nicht mit den erforderlichen Mitteln bestückt. Man wird abwarten müssen, ob die neue Ministerin da was erreichen kann und den Worten Taten folgen lassen wird.

Deshalb richten wir jetzt den Blick auf den Ansatz der neuen Bundesfamilienministerin Schwesig. Eine Zusammenfassung des Vorschlags und der ersten Reaktionen darauf liefert uns beispielsweise der Artikel „Was die „Vision“ der Ministerin für Familien bedeuten würde„. Acht Stunden mehr Zeit sollen Eltern für den Nachwuchs haben – zumindest in den ersten drei Lebensjahren der Kinder. Um das zu erreichen, hat Manuela Schwesig den Vorschlag einer verkürzten Wochenarbeitszeit für Eltern in die Arena geworfen. Bei berufstätigen Paaren sollen beide Elternteile statt einer 40-Stunden-Woche eine kürzere „Familienarbeitszeit“ von zum Beispiel 32 Stunden als Regelarbeitszeit vereinbaren können. Die Besonderheit liegt auf dem Wort „beide Elternteile“, also angestrebt wird hier ein gemeinsames und hinsichtlich der regulären Arbeitszeit synchronisiertes und gleichverteiltes Arbeitszeitarrangement von Mutter und Vater. Bei solchen Forderungen nach einer Arbeitszeitreduktion kommt natürlich und verständlicherweise zum einen die Frage, wie denn dann die Einkommenseinbußen durch die niedrigere Vergütung kompensiert werden können bzw. ob man diese als Haushalt wegstecken kann. Die finanziellen Einbußen, so die Zielsetzung der Ministerin, sollen verkraftbar sein bzw. sie sollen ausgeglichen werden. »Schwesig spricht von einem Partnerschaftsbonus und davon, dass „ein Teil des Lohnausfalls“ aus Steuermitteln erstattet werden könnte. Das heißt, der Staat soll einspringen.«

Nun hat Frau Schleswig hier kein eigenes Konzept in die Welt gesetzt, sondern sie bedient sich hier aus den Vorschlägen einer Studie, die das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin im Auftrag der SPD- und gewerkschaftsnahen Friedrich-Ebert-Stiftung und der Hans-Böckler-Stiftung angefertigt hat. Hier erst einmal das Original-Material:

Kai-Uwe Müller, Michael Neumann und Katharina Wrohlich (2013a): Familienarbeitszeit – Wirkungen und Kosten einer Lohnersatzleistung bei reduzierter Vollzeitbeschäftigung, Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung, 2013

sowie

Kai-Uwe Müller, Michael Neumann und Katharina Wrohlich (2013b): Bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch eine neue Lohnersatzleistung bei Familienarbeitszeit, in: DIW Wochenbericht, Nr. 46/2013

Quelle:  Müller/Neumann/Wrohlich (2013b), Tabelle 2, S.9

Wie wird hier argumentiert? Ein Großteil der Eltern wünscht sich eine gleichmäßigere Aufteilung von Familien- und Erwerbsarbeit (zumindest auf der Ebene der Befragungen). Finanzielle Gründe sprechen aber häufig für ein klassisches Ein- oder Eineinhalb-Verdiener-Modell. Aus diesem bekannten Dilemma will man ausbrechen mit dem Modell einer neuen familienpolitischen Lohnersatzleistung bei Familienarbeitszeit.

Derzeit wählen nur rund 1 % aller Paare mit Kindern im Alter von ein bis drei Jahren eine Arbeitszeitkombination, in der beide Elternteile 80 Prozent einer Vollzeit-Tätigkeit nachgehen. Viel häufiger vertreten sind das Alleinverdiener-Modell (39 %) und das 1,5­-Verdiener­-Modell (35 %). Bei Alleinerziehenden liegt der Anteil der Mütter, die 80 Prozent einer Vollzeit-Tätigkeit nachgehen, bei rund 10 %.

Die neue Lohnersatzleistung sollen Eltern von Kindern im Alter zwischen ein und drei Jahren im Anschluss an das Elterngeld erhalten können, wenn beide Partner sich für eine sogenannte reduzierte Vollzeit-Erwerbstätigkeit entscheiden. Damit ist eine Arbeitszeit in Höhe von etwa 80 Prozent einer Vollzeit-Stelle gemeint, was einer Wochenarbeitszeit von 32 Stunden entspricht. Der finanzielle Zuschuss soll sich dabei am Nettoeinkommen der Eltern orientieren und für kleinere Einkommen prozentual größer ausfallen als für höhere, so Müller, Neumann und Wrohlich (2013a und b) in ihrer Modellbeschreibung. 

Um es an dieser Stelle zuzuspitzen: Mit diesem Modell adressieren die Wissenschaftler ein Kardinalproblem hinsichtlich des gegebenen Geschlechterarrangements auf dem Arbeitsmarkt, das sich dergestalt ausprägt, dass der Rückzug auf Teilzeitarbeit fast ausschließlich ein Tatbestand ist, der bei den Frauen/Müttern zu verbuchen ist. Die Ursachen sind vielfältig, die drei wichtigsten: Das Ehegattensplit­ting, die beitragsfreie Mitversicherung für Ehepartner in der gesetzlichen Krankenversicherung und die Minijobs. Sie bieten vor allem den Frauen einen finanziellen Anreiz dafür, zumindest zeitweise aus dem Job auszusteigen oder aber ihre Arbeitszeit dauerhaft zu reduzieren, was letztendlich das Einverdiener- bzw. Zuverdienst-Modell stabilisiert, so auch Katja Tichomirowa in ihrem Beitrag „Was für Schwesigs Vorschlag spricht„. Damit aber wird das „Risiko“ Teilzeitarbeit aus der Sicht einiger (und nicht weniger) Arbeitgeber verknüpft mit dem „Risikoträger“ Frauen, denn fast ausschließlich bei diesen muss man mit der Realisierung eines Teilzeitwunsches rechnen.

  • Dazu passen die neuen Befunde einer Befragungsstudie von Vätern, die das Forsa-Institut im Auftrag der Zeitschrift „Eltern“ durchgeführt hat: Die Studie im Original kann man hier abrufen: Forsa (2013): Meinungen und Einstellungen der Väter in Deutschland, Berlin sowie eine Zusammenfassung der Ergebnisse hier auf der Website der Zeitschrift „Eltern“: Zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Väter 2014: »Sie wollen nicht mehr außen vor sein, sondern mitten drin im Familienalltag. Sie haben klare Vorstellungen davon, was einen guten Vater ausmacht. Sie wickeln, schmusen, helfen im Haushalt – und bleiben doch die Vollzeit-Ernährer.« Die Studienautoren sprechen von einer „großen Widersprüchlichkeit“: Männer schwanken zwischen Ernährer- und Vaterrolle: Sie wollen Zeit mit ihrem Kind verbringen, scheuen aber Teilzeitarbeit: Väter sind einer Studie zufolge innerlich gespalten. »Zwar hätten 43 Prozent der berufstätigen Väter gern mehr Zeit für die Familie, ergab die Umfrage. Zugleich sei aber die Mehrheit von ihnen nicht bereit, in Teilzeit zu arbeiten: Neun von zehn Vätern (89 Prozent) sind demnach in Vollzeit tätig und zwei Drittel der abhängig Beschäftigten wollen das auch so. Nur vier Prozent der Befragten arbeiteten in Teilzeit und nur ein Drittel würde gern in Teilzeit arbeiten.«

Insofern – man muss es so deutlich formulieren – wird hier quasi die Systemfrage aufgerufen: Erst wenn es für die Arbeitgeber kein besonderes „Risiko“ der Frauen ist, dass diese bei der Arbeitszeit reduzieren, wenn Kinder das Licht der Welt erblicken, sondern wenn dieses „Risiko“ gleichverteilt ist zwischen den Geschlechtern, erst dann würden die Unternehmen das Thema nicht mehr zu einem Frauenthema reduzieren (können). Allein dieser Aspekt verdient es, dass man das Modell offen und unaufgeregt diskutieren sollte.

Aber gerade wenn man das Modell mit der neuen Leistung umsetzen wollte, ergeben sich zahlreiche Fragezeichen, die man an diesen Vorschlag kleben muss, hier nur drei zur Auswahl:

  • Schauen wir beispielsweise nur in die Bilanzierung der Studienverfasser, was die vermuteten Auswirkungen der neuen teilkompensatorischen Geldleistung angeht – und die ist mehr als ernüchternd: »Die Studie zeigt, dass sich der Anteil der Familien, in denen beide Elternteile einer solchen reduzierten Vollzeit-Beschäftigung nachgehen, ausgehend von derzeit einem Prozent nahezu verdoppeln könnte« (Müller/Neumann/Wrohlich 2013: 3). Nur zur Einordnung dieser Aussage: Derzeit wählen nur rund 1 % aller Paare mit Kindern im Alter von ein bis drei Jahren eine Arbeitszeitkombination, in der beide Elternteile 80 Prozent einer Vollzeit-Tätigkeit nachgehen. Die Wissenschaftler schätzen mithin bei der Umsetzung ihres Ansatzes eine Verdoppelung – auf 2%!
  • Viele Arbeitnehmer sind ja nicht blöd: Sie wissen aus ihrer Anschauung und Erleben der Arbeitswelt, dass eine formale Reduktion der Arbeitszeit (die einhergehen würde mit einer Einkommensreduzierung, die selbst von der vorgeschlagenen Teil-Kompensation auf der Ausfallseite nur anteilig ausgeglichen wird) nicht zwingend auch eine tatsächliche Verringerung der Arbeitsbelastung im gleichen Umfang bedeutet. Denn auf der anderen Seite der Bilanz steht eine betriebliche Realität für immer mehr Arbeitnehmer, die auf eine stundengenaue Abgrenzung der Arbeitszeit keine Rücksicht nimmt und zuweilen auch nicht nehmen kann, sondern da werden die Beschäftigten konfrontiert mit einer Erwartungshaltung des Arbeitgebers bzw. der Aufträge, so dass man unbezahlte Mehrarbeit macht. Das ist auch ein bekanntes Ergebnis der Teilzeitarbeitsforschung.
  • Schlussendlich muss man natürlich als Sozialpolitiker darauf hinweisen, dass eine solche Reduktion der Arbeitszeit immer zu Komplikationen führen kann und wird bei der späteren Rente, denn deren Ausgestaltung hat immer noch das „male-breadwinner-Modell“ als Referenzpunkt, also eine 45 jährige Vollzeit-Tätigkeit, die immer mit dem durchschnittlichen Arbeitsentgelt vergütet wurde, was derzeit eine Brutto-Monatsrente von 1.266,30 Euro zur Folge hätte. Wenn man die damit verbundenen Konsequenzen bei Teilzeitarbeit oder Einkommensreduktion aus der derzeitigen Rentenformel verstanden hat, dann wird sich einem die Anmerkung erschließen, dass ein sicher gut gemeinter Ansatz der Erwerbsarbeitszeitreduktion konfligiert mit einer bislang nicht vorgenommenen Systemveränderung in der Rentenmechanik, die Teilzeitarbeit bislang lediglich als Ergänzung abgeleiteter Ansprüche in den klassischen Familienmodellen abzubilden in der Lage ist.

Kurzum: Eigentlich trifft das Modell einer Lohnersatzleistung, wenn beide die gleiche „kleine Vollzeit“ machen, den Nerv der notwendigen Debatte angesichts der krassen gegebenen und ziemlich beharrlichen Geschlechterarrangements, was die bezahlte Arbeit angeht. Aber ob es wirklich sinnvoll ist, mit einer neuen Geldleistung auf den Markt zu kommen, darüber ließe sich auch engagiert streiten. Wenn man den wirklich wollte.

Sozialleistungen für Zuwanderer innerhalb der EU: Das Spiel mit dem Feuer und die Löschversuche der EU-Kommission mit Papier. Immerhin 52 Seiten. Und das Feuilleton mischt auch mit

Das waren bestimmt hektische Tage im Headquarter der EU-Kommission in Brüssel. Die Stellungnahme von EU-Beamten zu einem vor dem EuGH anhängigen Verfahren, das von einem deutschen Sozialgericht weitergereicht wurde zur Klärung grundlegender europarechtlicher Fragen, die hinsichtlich der (Nicht)Anwendung sozialrechtlicher Bestimmungen aufgetreten sind, hatte zu Tobsuchtsanfällen in Bayern („Wer betrügt, der fliegt“) und unzähligen wütenden Leserbriefen und Forums-Kommentaren im Netz geführt, wurde doch die Botschaft transportiert, die abgehobene EU-Kommission wolle nunmehr die Scheunentore in die deutschen Sozialsysteme für die „Armutszuwanderer“ aus dem Südosten Europas gegen „unseren“ Willen öffnen. Schnell wurde aus einer Stellungnahme von Beamten in einem laufenden Verfahren, das sich noch über Monate hinziehen wird, quasi eine „Entscheidung“ und alle Welt konnte sich so richtig aufregen. Der Druck muss enorm gewesen sein (die sprichwörtliche Unempfindlichkeit der Kommission vor emotionalisierten Lagen in einigen Mitgliedsstaaten und das kurz vor den anstehenden Europawahlen aber auch), denn heute konnten wir so etwas wie eine „Kommunikationsoffensive“ der Kommission erleben (was nicht den üblichen Gepflogenheiten der EU-Beamten entspricht), denn der zuständige Sozialkommissar veröffentlichte einen „Leitfaden“ zu der mittlerweile teilweise außer Kontrolle geratenen Thematik der Sozialleistungen für Zuwanderer.

In »der Auseinandersetzung über die sogenannte Armutseinwanderung hat die Europäische Kommission am Montag ein Handbuch veröffentlicht, um den Mitgliedstaaten die Anwendung des geltenden EU-Rechts zu erleichtern. Darin wird unter anderem noch einmal ausgeführt, dass eine umfangreiche Prüfung nötig ist, um zu entscheiden, ob ein EU-Ausländer, der nicht arbeitet, in seinem Gastland Anspruch auf Sozialleistungen hat oder nicht. „Jeder Fall ist anders“, sagte der zuständige Sozialkommissar László Andor«, berichtet Nikolas Busse in seinem Artikel „Nachhilfe aus Brüssel“ in der Online-Ausgabe der FAZ.

In dem Handbuch wird beispielsweise dargelegt, wie der „gewöhnliche Aufenthaltsort“ eines EU-Bürgers bestimmt werden kann, was wiederum wichtig ist für die Zuständigkeitsfrage, welches Land ihnen Sozialleistungen zahlen muss. »Andor verwies darauf, dass es kein automatisches Aufenthaltsrecht in einem anderen EU-Land gebe, wenn jemand nach sechs Monaten keine Arbeit gefunden habe.«

Daniel Brössler konkretisiert das in seinem Artikel „EU-Kommission legt Leitfaden vor“ für die Online-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung mit einem Blick in das Handbuch der Kommission:

»Auf Seite 49 im neuen Leitfaden der EU-Kommission für die Regeln der Arbeit im EU-Ausland geht es um Herrn I. Der junge Mann ist alleinstehend und arbeitslos. Er stammt, das steht nicht im Leitfaden, vielleicht aus Rumänien, vielleicht aber auch aus Spanien. Auf der Suche nach Arbeit hat er seine Heimat verlassen. In einem anderen EU-Land übernachtet er bei einem Freund und hält sich als Straßenmusikant über Wasser. Bei den Behörden angemeldet hat er sich nicht. Herr I., so erläutert der Leitfaden, hat seinen Wohnsitz folglich immer noch in der Heimat. Konsequenz: Von Sozialleistungen im Gastland kann Herr I. nicht legal profitieren.«

Aber da gibt es ja nicht nur den Straßenmusikanten Herrn I.

»Herr J. ist wie Herr I. ledig und arbeitslos. Seinen Mietvertrag im Heimatland hat er gekündigt, seine gesamte Habe mitgenommen. Das Gastland, wo er bei einem Freund unterkommt, sei nun deshalb erst einmal als sein Wohnort anzusehen, heißt es im Leitfaden. Was aus Sicht der Kommission heißt, dass er nicht einfach von Sozialleistungen ausgeschlossen werden kann.«

Genau um die aus Sicht der EU-Kommission hoch relevanten Unterschiede zwischen den Fallkonstellationen des Herrn I. und des Herrn J. geht es auch bei dem anhängigen Verahren, das aus Deutschland an den EuGH überwiesen worden ist und in dem die deutsche Praxis überprüft wird. Eine arbeitslose Rumänin und ihr kleiner Sohn hatten in Leipzig erfolglos Hartz IV beantragt. »Pauschal ausgeschlossen werden dürfen EU-Ausländer von solchen Leistungen nicht, betonte die Kommission in ihrer Stellungnahme zu dem Verfahren – und löste damit in Deutschland heftige Reaktionen aus.«

Auf 52 Seiten erläutert die Kommission nun ihre Rechtsauffassung. Das Dokument im Original kann man hier als PDF-Datei abrufen:

European Commission: Practical guide: The legislation that applies to workers in the European Union (EU), the European Economic Area (EEA) and in Switzerland. Brussels, December 2013

Wie stark die EU-Kommission in den letzten Tagen unter Druck gestanden hat, endlich konkretisierende Aussagen vorzulegen, kann man auch der folgenden Aussage des Sozialkommissars Andor entnehmen, die in dem Artikel von Daniel Brössler zitiert wird: „Es gibt mit Sicherheit eine Grenze für das Aufenthaltsrecht in einem anderen Land, in dem man keiner Berufstätigkeit nachgeht“. So könne man etwa erwarten, dass jemand nach sechs Monaten herausgefunden habe, ob er auf dem Arbeitsmarkt eines anderen EU-Landes eine Chance habe.

Und das alles, seien wir ehrlich, wegen der instrumentalisierten Debatte über eine angebliche Masseneinwanderung von Rumänen und Bulgaren nach Deutschland und Großbritannien – nur ist die bislang ausgeblieben. Aber mittlerweile gibt es auch immer mehr Widerstand und Gegenpositionen, die dazu veröffentlicht werden. Stellvertretend dafür und mit einem durchaus relevanten Bezug zu sozialpolitischen Aspekten der Artikel „Der neue, schändliche Anti-Romanismus“ des Feuilletonisten Dirk Schümer in der FAZ. Sein Petitum: „Wer die Zahl ehrlich schuftender Rumänen und Bulgaren kennt, sieht, wie verlogen die Debatte ist“:

»Der eigentliche Skandal … ist: Die Massen sind längst mitten in Europa angekommen. Aber weil es sich um dringend benötigte Fachkräfte oder um mies bezahlte Schwerarbeiter handelt, interessiert es die Wähler und Medien in unseren Breiten nicht. Nur die vermeintlichen Roma, … die sorgen nun für Angst und Schrecken … Das Gesamtproblem der Zuwanderung ins Sozialsystem hingegen wird in doppelter Weise verlogen angegangen: Es handelt sich um die Einwanderung der Slumbevölkerung des Ostens in den saturierten Sozialstaat hier und die gleichzeitige Auswanderung der bestens ausgebildeten Ärzte, Ingenieure, Facharbeiter in unsere Arbeitsmärkte. Beides wird in einen Topf geworfen. Und die geglückte Einwanderung wird ignoriert, die missglückte Migration jedoch medial ausgebeutet.«

Und dann spitzt er die aus seiner Sicht zentrale Frage zu:

»… das Erschwindeln deutscher Sozialleistungen, ist weder ein Problem der Europäischen Union noch der rumänischen Bürger, sondern ganz schlicht der deutschen Behörden. Die Freizügigkeit der Menschen wird von Europa geregelt, das Sozialwesen nicht. Ein noch besser gepolsterter Wohlfahrtsstaat als der dänische hat gegen solche Zuwanderung zum Zweck der Geldabschöpfung deutliche Rechtsmittel und Kontrollstrukturen geschaffen (übrigens mit den Stimmen linker Parteien), weshalb es keinem Roma einfällt, in Dänemark beim Sozialamt vorzufahren.«

Und dann gibt uns Dirk Schümer noch einen weiteren Gedanken mit auf den Weg:

»Rund drei Millionen Rumänen haben ihre Heimat in den vergangenen zwanzig Jahren verlassen – etwa jeder achte Bürger. In Spanien funktioniert keine Baustelle, in Italien kein Markt, kein Altersheim ohne schlecht bezahlte, oft unwürdig wohnende Rumänen oder Moldawier. Und jeder zweite Absolvent einer internationalen Schule in Bulgarien ist schon mit Studienbeginn dem Vaterland verlorengegangen. Zwanzigtausend teuer ausgebildete Ärzte fehlen dem rumänischen Gesundheitssystem, weil sie nicht mehr für fünfhundert Euro daheim, sondern für das Vier- bis Achtfache in Frankreich, Großbritannien, Belgien oder Deutschland arbeiten wollen. Dieser Preis, den die ärmsten Staaten Europas in Form von Blut für die Union bezahlen, ist gewaltig.«

Auch Schümer konstatiert, dass es Bürger zweiter und dritter Klasse in Europa gibt, weist aber zugleich darauf hin, dass umgekehrt gerade die ärmsten Mitbürger oft genug die einfallsreichsten und bewundernswertesten sind. Der britische Komödiant Stewart Lee, so Schümer in seinem Artikel, weist darauf hin, dass die Zuwanderer als Nachtportiers oder Krankenschwestern gewöhnlich sehr viel besser Englisch beherrschen als das pöbelnde Analphabetendrittel seiner Landsleute.
Und am Ende konfrontiert er den Seehoferschen Imperativ „Wer betrügt, der fliegt“ (der ja auch immer – nur darüber wird nie gesprochen – eine entsprechende Verwaltung, die sich betrügen lässt, voraussetzt) mit einem interessanten, aber leider umplausiblen Gedankenspiel: Wenn mit jedem ausgewiesenen „Armutsflüchtling“ ein arrivierter Arzt oder Handwerker aus Rumänien oder Bulgarien wieder aus den reichen Ländern abreist, dann würde sich das Geschrei schnell reduzieren. Da die sich aber einzeln und oftmals auch erfolgreich durchschlagen in den Ländern, in denen das Geschrei am lautesten ist, werden wir zumindest noch bis zur Europawahl mit einer Fokussierung auf die andere Seite der Medaille leben müssen. Und hoffen, dass die Dauerschäden überschaubar bleiben.

Der Mindestlohn mal wieder: Für manchen sind 8,50 Euro zu hoch, für eine gesetzliche Rente auf dem Niveau des Existenzminimums ist das deutlich zu niedrig. Kann eine „Mindestbemessungsgrundlage“ helfen?

Es ist schon ein – nicht nur – sozialpolitisches Kreuz mit dem Mindestlohn. Da hat man mal die 8,50 Euro pro Stunde in die Welt gesetzt und jetzt streiten sich alle um diesen Betrag. Für einen Teil der Arbeitgeber ist das natürlich viel zu viel, für andere ist das auch nicht mehr als ein „Hungerlohn“. Und ganz frisch ist die Erkenntnis, dass auch die, die nach außen fest zu mindestens 8,50 Euro stehen, in praxi, also bei Tarifverhandlungen, dann auch schon mal die 8,50 Euro eine weitere Zeit lang 7,75 Euro sein lassen, wie jetzt in der Fleischindustrie zu beobachten (hierzu der Beitrag Überraschend unblutige Einigung auf einen Mindestlohn von 8,75 Euro in der Fleischindustrie. Aber nicht sofort, sondern ab 2017). Über die Gründe dafür wird sicher noch zu spekulieren und zu diskutieren sein und möglicherweise liegen sie – wie in dem Beitrag angedeutet – tatsächlich in der Machtfrage zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern sowie der Einsicht, dass es derzeit betriebswirtschaftliche Realitäten „eigener Art“ gibt.

Aber stellen wir uns einmal vor, die Tarifparteien hätten sich auf 8,50 Euro ab dem 1. Juli 2014 geeinigt oder noch hypothetischer der Gesetzgeber hätte das für sie erledigt mit einem flächendeckenden, gesetzlichen Mindestlohn. Dann müsste man aus einer engeren sozialpolitischen Sicht den folgenden zusammenfassenden Befund zur Kenntnis nehmen: Nach derzeitigem Stand reicht ein Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro gerade aus, um die Aufstockung des Lohns vollzeitbeschäftigter Singles durch Leistungen nach SGB II („Hartz IV“) auszuschließen. Aber die auf dieser Basis erreichbaren Rentenanwartschaften reichen keinesfalls aus, um auch eine Existenzsicherung im Alter zu erreichen. Statt 8,50 Euro im Jahr 2015 müsste der Mindestlohn bei 11,21 Euro liegen – aber man bekommt auch bei diesem Stundenlohn nur dann eine Netto-Rente, die dem Existenzminimum entspricht, wenn der Biografie eine Vollzeit-Beschäftigung über 45 Jahre zugrunde liegt. Das war noch nicht alles.

Denn eigentlich müsste der Stundenlohn 2015 schon bei 12,11 Euro liegen, wenn man das rückblickend aus der Sicht des Jahres 2027 berechnet, wenn man unterstellt, dass die Rentenniveauabsenkungen fortgeführt werden. Alles klar? Dann noch eins: Der Mindeststundenlohn von 11,21 Euro bzw. 21,11 Euro des Jahres 2015 muss aber kontinuierlich angehoben werden, nur um eine Netto-Rente in Höhe des Existenzminimums erreichen zu können – dafür »müsste der Mindestlohn kontinuierlich angehoben werden – und zwar in den Jahren 2016 bis 2018 um jeweils 2,6 Prozent, im Jahr 2019 um 2,9 Prozent und ab dem Jahr 2020 jährlich um drei Prozent.«

So jedenfalls die Berechnungsergebnisse von Johannes Steffen, der die Website „Portal Sozialpolitik“ betreibt, in seiner neuen Veröffentlichung „Wenn der Mindestlohn fürs Alter nicht reicht. Plädoyer für eine Mindestbemessungsgrundlage für Rentenbeiträge auf Arbeitsentgelt„, aus der hier berichtet wird.

Steffen weist mit Blick auf die notwendige jährliche und nicht unerhebliche Dynamisierung des Mindestlohns – wohlgemerkt, nur um weiterhin das Ziel zu erreichen, eine Netto-Rente in Höhe des Existenzminimums sicherstellen zu können – gleich auf eine erste Schwachstelle der im Koalitionsvertrag fixierten Verständigung über den Mindestlohn hin:

»Nun sieht aber schon der Koalitionsvertrag die erste eventuelle Anpassung frühestens nach dreijähriger »Laufzeit« zum 1. Januar 2018 vor; dass es dann sogleich zu einer Erhöhung um 7,8 Prozent (3 x 2,6%) kommt, erscheint aus heutiger Sicht eher unwahrscheinlich …«

Aber wie kommt Johannes Steffen auf diese doch erheblichen Abweichungen? Sie resultieren aus der Logik der Entgeltpositionierung in einem beitragsabhängigen Rentenversicherungssystem:

»Auf Basis der … Werte für das erste Halbjahr 2014 ist eine erwerbslebensdurchschnittliche Entgeltposition von 61,43 Prozent (= 0,6143 EP/Jahr) notwendig, um nach 45 Beitragsjahren eine Nettorente in Höhe des … steuerfreien Existenzminimums … zu erzielen … Liegt die durchschnittliche Entgeltposition unterhalb dieses Schwellenwertes, so kann das Existenzminimum alleine mit der Nettorente nicht erreicht werden.«

Oder für alle, die das anhand von konkreten Zahlen brauchen, hier seine Abbildung dazu:

Man muss also 0,6143 Entgeltpunkte erreichen, nur um nach diesem Szenario auf eine Netto-Rente in Höhe des steuerfreien Existenzminimums zu kommen. Und das ist jetzt ein Problem bei einem vorgesehenen Mindestlohn von 8,50 Euro, denn: »Ganzjährig zum Mindestlohn Vollzeitbeschäftigte erreichen … im Jahr der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns eine relative Entgeltposition von 46,97 Prozent – oder 0,4697 Entgeltpunkte für das Jahr 2015.«

Anders ausgedrückt: Im Ausgangsjahr (2015) müsste der Mindestlohn um ein knappes Drittel höher angesetzt werden als im Koalitionsvertrag vorgesehen – und auch seine weitere Entwicklung bis zum Jahr 2027 müsste dynamischer verlaufen als der erwartbare Anstieg des Durchschnittseinkommens.

Die Bewertung der laut Koalitionsvertrag vorgesehenen Mindestlohnhöhe aus einer sozialpolitischen Sicht muss also zweigeteilt ausfallen:

1.) Geht man von dem berechtigten Anliegen aus, dass der gesetzliche Mindestlohn eine Höhe haben sollte, die bei durchschnittlicher Fallkonstellation einen aufstockenden Bezug von Grundsicherungsleistungen bei einem Alleinstehenden ausschließt, dann muss man zu dem Ergebnis kommen, dass dieses Ziel mit den 8,50 Euro gerade so erreichbar ist.

  • Zugleich aber, das sei hier nur angemerkt, wird dann aber auch klar, dass das eben nicht für einen alleinverdienenden Vater gelten muss und auch nicht gelten wird aufgrund der Defizite im System des Familienlastenausgleichs. Und vor allem kann es natürlich nicht funktionieren, wenn zwar Mindestlohn gezahlt wird oder sogar darüber), aber die Arbeitszeit nach unten abweicht von einer Vollzeitbeschäftigung. In diesen Fällen muss es auch in der 8,50 Euro- oder auch 10 Euro-Mindest-Zukunft Aufstockungen geben müssen.

2.) Man kann den Grundgedanken hinsichtlich der Abdeckung des Existenzminimums aus dem Lohneinkommen übertragen auf die Altersphase: »45 Beitragsjahre in Vollzeitbeschäftigung (Standarderwerbsbiografie) müssen eine Nettorente gewährleisten, die mindestens auf Höhe des Existenzminimums liegt und die damit für Alleinstehende eine Aufstockung durch Leistungen nach SGB XII im Regelfall (und unter Status-quo-Bedingungen) ausschließt.« Kann dies nicht (mehr) gewährleistet werden, so werden Armutsrenten – die nicht umstandslos gleichzusetzen sind mit Altersarmut – zu einem systematischen Problem eines Rentenversicherungssystems, das dessen Legitimität und die hier vorgesehenen Zwangsbeiträgen untergraben muss. Steffen weist darauf hin, dass der Versuch, die durch zu niedrige bemessene Arbeitseinkommen resultierenden Armutsrenten nachträglich wieder nach oben zu hieven – beispielsweise durch die geplante „solidarische Lebensleistungsrente“ – zum Scheitern verurteilt sein werden (vgl. hierzu  Steffen, J.: „Solidarische Lebensleistungsrente“. Rentenniveausenkung konterkariert Armutsvermeidung, Dezember 2013).
Was bleibt übrig?

»Herstellen lässt sich die erforderliche strukturelle Kompatibilität zwischen Beitragsbemessungsgrundlage und normativer Vorgabe letztlich nur durch einen ausreichend hohen und allgemein gültigen Mindestlohn oder – sofern dessen Höhe und/oder »allgemeine Gültigkeit« nicht hinreicht – ergänzend durch eine Mindestbemessungsgrundlage für Rentenbeiträge auf Arbeitsentgelt.«

Wie könnte so eine „Mindestbemessungsgrundlage“ für Rentenbeiträge auf Arbeitsentgelt aussehen, vor allem, welche Höhe müsste sie  haben? Hierzu präsentiert Steffen in seiner Veröffentlichung einen möglichen Rechenweg:

Das bedeutet: Bereits im vorgesehenen Einführungsjahr 2015 liegt der Mindestlohn von 8,50 Euro  um 2,71 Euro unterhalb der für erforderlich erachteten Mindestbemessungsgrundlage für Rentenbeiträge auf Arbeitsentgelt.

Fazit von Johannes Steffen: »Eine Mindestbemessungsgrundlage ist daher in Ergänzung des gesetzlichen Mindestlohns mit Blick auf die Altersvorsorge sowie für die Stärkung der Akzeptanz des Pflichtversicherungssystems unabdingbar.«

Und dann legt er noch einen drauf, was die Finanzierung angeht: »Der auf den Differenzbetrag zwischen Stundenlohn und Mindestbemessungsgrundlage fällige Beitrag wäre demgegenüber alleine vom Arbeitgeber zu entrichten (Aufstockungsbetrag).« Er spricht hier von „Vorsorgedumping“ und das rechtfertigt seiner Meinung nach die Finanzierung über die Arbeitgeber.
Was das für Arbeitgeber konkret bedeuten würde, beziffert Steffen auch:

»Bei einem gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro und einer Mindestbemessungsgrundlage von 10,89 Euro hätte der Arbeitgeber den auf den Differenzbetrag (2,39 Euro) entfallenden Beitrag zur Rentenversicherung in Höhe von 46 Eurocent pro Stunde aufzustocken. Verglichen mit einem Stundenlohn in Höhe von 8,50 Euro stiege das Arbeitgeber-Brutto um 4,52 Prozent von 10,14 Euro auf 10,60 Euro.«

Ein „vorsorgekompatibler Mindestlohn“ wie auch eine „Mindestbemessungsgrundlage für Rentenbeiträge“ würde allerdings – darauf weist Steffen ausdrücklich hin – nur die Situation in der Zukunft verbessern helfen. Niedriglöhne der Vergangenheit sind damit nicht mehr korrigierbar. Deshalb muss man dafür eine ergänzende Lösung finden, also zurückliegende Zeiten mit niedrigem Entgelt im Nachhinein für die Rente aufzuwerten. Steffen fordert in diesem Kontext: »… eine Verlängerung der gegenwärtig auf Zeiten vor 1992 begrenzten Regelungen zur sogenannten Rente nach Mindestentgeltpunkten … bildet insofern die leistungsrechtliche Kehrseite der beiden Medaillen Mindestlohn und Mindestbemessungsgrundlage.«

Man sieht, nichts für Leute, die auf der Suche sind nach einfachen Lösungen für ein komplexes System.