Es war ja auch nicht anders zu erwarten. Die Einführung eines mit Ausnahmen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohnes war von Anfang an heftig umstritten und nur im Kontext zahlreicher Tauschgeschäfte innerhalb der Großen Koalition umsetzbar. Da geben die Gegner nicht klein bei, nur weil jetzt seit einigen Tagen im neuen Jahr die Lohnuntergrenze in den meisten Branchen scharf gestellt worden ist. Verschoben haben sich lediglich die Angriffspunkte. Da ist beispielsweise der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU), der sich als Retter der vom Mindestlohn verfolgten Betriebe aufzuspielen versucht: Seehofer will Änderungen beim Mindestlohn. Gemeldet wird, dass der selbsternannte bayerische Löwe auf weniger Bürokratie pocht – das hört sich doch erst einmal ganz vernünftig an, wer will schon gerne Bürokratie verteidigen. Schauen wir genauer hin und auch auf die anderen Schlussfolgerungen, die man aus der Nun-doch-Existenz dieses in manchen Kreisen ungeliebten Kindes abzuleiten meint. Und nicht vergessen sollen erste Skurrilitäten auf der betrieblichen Ebene der (Nicht-)Umsetzung der Lohnuntergrenze.
Bleiben wir einen Moment bei Seehofer und seinem Anti-Bürokratie-Anliegen. In dem Artikel wird er mit den Worten zitiert: »… was da im Gesetz als Begleitwerk gebracht wurde, ist kolossal. Die Aufzeichnungspflichten und Kontrollmöglichkeiten treffen vor allem die kleineren Betriebe“, ergänzte Seehofer. „Wir müssen das Mindestlohngesetz entschlacken.“« Was genau stört hier wen?
Die »Betriebe (sind) verpflichtet, die Arbeitszeiten ihrer Mitarbeiter aufzuzeichnen, die als Minijobber bei ihnen tätig sind. Das gilt für 6,8 Millionen Minijobber, ausgenommen sind nur Privathaushalte. In der Wirtschaft hatten die neuen Vorschriften einen Proteststurm ausgelöst. Das Handwerk hatte von einer „Bürokratie-Geißel“ gesprochen, die Bauindustrie von einem „Bürokratie-Monster“.«
Und es kommt für einen Teil der Wirtschaft noch dicker:
»Für neun Branchen, die unter das Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz fallen, gelten noch härtere Vorschriften. Dies sind unter anderem Bau- und Fleischwirtschaft, aber auch Gaststätten. Sie müssen Beginn, Ende und Dauer der Arbeitszeit für alle Arbeitnehmer aufzeichnen und die Unterlagen mindestens zwei Jahre aufbewahren. Arbeitgebern, die gegen die Nachweis- und Dokumentationspflichten verstoßen, drohen Bußgelder bis zu 30 000 Euro.«
Dabei hat die Bundesregierung schon nach der heftigen Kritik aus den Reihen der Wirtschaft die Dokumentationspflichten gelockert: »Arbeitgeber müssen nun nur bis zu einem Monatseinkommen von 2.958 Euro Beginn, Dauer und Ende der Arbeitszeit dokumentieren und für zwei Jahre nachweisen. Ursprünglich war eine Grenze von 4.500 Euro vorgesehen.« Eine entsprechende Verordnung hat das Kabinett bereits passiert.
Ansonsten muss man an dieser Stelle mal grundsätzlich auf den Sachverhalt schauen. Der gesetzliche Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde ist ein Stundenlohn. Und wenn man so eine Lohnuntergrenze einführt, dann muss man sie auch kontrollieren können. Kontrolle im Fall eines Stundenlohnes bedeutet unabweisbar, dass man die geleisteten Arbeitsstunden nachprüfen können muss, um eine entsprechende Lohnberechnung nachvollziehen zu können. Nicht umsonst wird in ganz vielen Betrieben die Arbeitszeit der Beschäftigten ganz selbstverständlich erfasst. Wenn man also den Weg eines Stundenlohnes geht bei der Fixierung eines Mindestlohns, dann führt eben auch kein Weg vorbei an der Aufzeichnung der Arbeitsstunden.
Und dass die Dokumentationspflichten a) für die Minijobber und b) in besonderem Maße in bestimmten Branchen gilt, in denen ausweislich der bisherigen langjährigen Erfahrungen ein gewisses Missbrauchspotenzial gegeben ist, erscheint irgendwie logisch vor dem Hintergrund, dass erwartbar eine der Umgehungsstrategien zur faktischen Vermeidung einer Mindestlohnvergütung der Arbeitnehmer in unbezahlter Mehrarbeit besteht, mit der man dann billiger davon kommen kann. Man kann es auch so sagen: Einen Tod muss man sterben. Würde man diese gerade für Kleinbetriebe sicher sehr lästigen und aufwendigen Dokumentationspflichten schleifen, dann wäre dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet – auch zuungunsten der Unternehmen, die sich an Recht und Gesetz halten.
Damit aber nicht genug. Dietrich Creutzburg hat in der FAZ eine – nun ja – „interessante“ Argumentationsfigur entwickelt, auf die man erst einmal kommen muss: Lohnpolitik jenseits der Vernunftgrenze, so hat er seinen Artikel überschrieben. Darin fordert er kurz und bündig: »Die Gewerkschaften verlangen auch dieses Jahr Tariferhöhungen. Wegen der Einführung des Mindestlohns ist jedoch der Verteilungsspielraum für 2015 schon ausgeschöpft – ein Grund, alle Tarifrunden abzusagen.«
Ein netter Versuch. Aber wie begründet er diese nun wirklich recht harsche Intervention in die Tarifautonomie? Er behauptet, der volkswirtschaftlich vertretbare Spielraum für Lohnerhöhungen in Deutschland liege nach verbreiteter Einschätzung bei drei Prozent, die sich zusammensetzen aus einem gesamtwirtschaftlichen Produktivitätsfortschritt und einem Teuerungsausgleich. Die Lohnpolitik dieses Jahres, so Creutzburg, »läuft völlig aus dem Ruder, weil die Gewerkschaften jetzt auch noch Tariferhöhungen fordern.« Da muss man genauer hinschauen: »Denn diesmal ist der Spielraum eigentlich schon durch die Einführung des neuen Mindestlohns ausgeschöpft. Allein die gesetzlich verfügte Anhebung aller (Niedrig-)Löhne auf 8,50 Euro je Stunde wird das gesamtwirtschaftliche Lohnniveau um fast drei Prozent nach oben treiben. Würde man die beschriebene … Lohnformel wirklich ernst nehmen, müssten alle aktuellen Tarifrunden abgesagt werden.« Warum sie das tun sollten? Weil ansonsten weitere Lohnerhöhungen beispielsweise in der Metallindustrie Wohlstand zugunsten von Arbeitnehmern und zu Lasten von Unternehmern umverteilen würde. Er sieht schon gewisse kritische Punkte in seinem Argumentationsgebäude, beispielsweise die Frage: Warum sollten Maschinenschlosser oder Chemielaboranten auf die Idee kommen, von Lohnforderungen abzusehen, weil gerade ein Mindestlohn für Taxifahrer und Pizzaboten in Kraft getreten ist? Genau, warum eigentlich? Aber vielleicht ist der Artikel in Wirklichkeit nur ein satirischer Beitrag? Ich befürchte, der Mann meint das so, wie er es schreibt.
Bleibt abschließend, an diesem 11. Januar 2015, also wenige Tage nach dem Inkrafttreten des gesetzlichen Mindestlohns und damit lediglich am Anfang einer langen Kette an Berichten aus der Umsetzungswelt stehend, der Blick auf die Reaktionen von real existierenden Unternehmen auf die Herausforderung Mindestlohn. Schwitzen statt Mindestlohn, so haben Alfons Frese und Thomas Walbröhl ihren Artikel überschrieben:
»Der Mindestlohn setzt Kreativität frei. Ein Kneipenwirt zum Beispiel forderte seine Kellnerinnen und Kellner auf, das Trinkgeld in einen Topf zu werfen, aus dem dann die vom Gesetzgeber vorgeschriebene Lohnerhöhung finanziert werden könnte. Noch heißer ist die Geschichte aus einem Wellnessbetrieb: Die Beschäftigten bekommen statt 8,50 Euro einen Gutschein für die hauseigene Sauna. Schwitzen statt Mindestlohn.«
Aber die Gegenseite schläft offensichtlich nicht, denn der Artikel berichtet auch darüber:
»Verdi und die Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG) lassen derzeit eine App entwickeln, mit der die Köche und Kellner und Hotelbediensteten demnächst auf dem Smartphone ihre Arbeitszeit erfassen und dokumentieren können. Wenn die dann von der bezahlten Zeit abweicht, kommt die Gewerkschaft ins Spiel. Im Februar soll die App verfügbar sein. Dann machen sich auch Mindestlohn-Teams der NGG auf den Weg, um direkt in den Gaststätten das Personal über alle möglichen Facetten rund um den Mindestlohn zu informieren.«