„Eine Welt ohne Zufall ist eine Welt unter ständiger Kontrolle“. Wer bei Amazon in die Lagerhallen blickt, sieht in die Zukunft einer sich ausbreitenden Screening-Mentalität in der Arbeitswelt

Der »Internet-Versandhändler Amazon kontrolliert ganz genau, welchen Weg seine Waren gehen – und seine Mitarbeiter. Damit steht der Online-Riese jedoch nicht alleine da. In Zukunft könnte uns das allen blühen«, so Corinna Budras in ihrem Artikel Der totalüberwachte Mitarbeiter. Sie beginnt ihren Blick in die Gegenwart und mögliche Zukunft bei Amazon in Koblenz, wo eines der großen Logistikzentren des Konzerns steht.

Amazon hat das System permanenter Kontrolle perfektioniert, aus Angst vor Diebstahl und um die Arbeitsprozesse zu optimieren.

»Den Warenfluss ständig zu überprüfen gehört für Amazon zum Geschäft. Das Problem ist: Auch der Mitarbeiter gerät in den Strudel ständiger Überwachung. Bleibe einer mit seinem Handscanner minutenlang untätig, werde das System nervös und löse einen Alarm aus, berichtet der Betriebsrat. Oft dauere es nicht lange, bis der Manager vorstellig wird. Dann gehe die Fragerei los, sagt Faltin, verpackt in „Feedbackgespräche“.«

Zugleich kann man in Koblenz aber auch lernen, wie wichtig ein Betriebsrat sein kann, denn:
»In Koblenz jedenfalls finden derzeit keine Feedbackgespräche zur „Prozessoptimierung“ mehr statt, der Betriebsrat ist dagegen vorgegangen. „Solange Feedbackgespräche Druck-Gespräche sind, müssen wir sie untersagen“, sagt Faltin.« Aber der Versandhändler Amazon ist kein Solitär, sondern das Unternehmen steht stellvertretend für eine ganz grundsätzliche Veränderung in vielen Unternehmen.

Denn Amazon ist nicht das einzige Unternehmen, das über seine Mitarbeiter permanent Daten sammelt, Chips oder Strichcodes einsetzt, immer genau weiß, wo sie gerade sind und vielleicht auch, was sie gerade tun. Corinna Budras zitiert Stefan Brink, der Datenschutzbeauftragte von Rheinland-Pfalz, mit den Worten: „Wir sehen gerade einen massiven Wandel in der Arbeitnehmerüberwachung“ und: „In Deutschland setzt sich gerade eine Screening-Mentalität durch“. Aus diesen Reihen wird darauf hingewiesen, dass »seit etwa fünf Jahren … Datenschützer etwas (beobachten), das sie „Amerikanisierung des Datenschutzes“ nennen: das flächendeckende Sammeln von Daten ohne konkreten Nutzen. Die tiefergehende Analyse, auch Screening genannt, kommt später.«
Offensichtlich, folgt man der Einschätzung von Datenschützern wie Stefan Bring, stehen wir am Anfang einer bedenklichen Entwicklung, die eben weit über Amazon hinausgeht: „Das Screening von Mitarbeitern wird zu einer ganz normalen Dienstleistung.“

Interessant ist der Hinweis auf die „Amerikanisierung des Datenschutzes“, besser: des Nicht-Datenschutzes. Hierzu überaus informativ der hörenswerte WDR-Beitrag Der vermessene Mensch – Überwachung am Arbeitsplatz (05.10.2014): Während sich die Deutschen noch über die Überwachung von Beschäftigten empören, sei es beim Discounter oder im Versandhandel, haben sich die Arbeitnehmer in den USA längst damit abgefunden, von ihren Arbeitgebern am Arbeitsplatz ausgespäht zu werden. Die Firmen sehen darin eine legitime Effizienz-Kontrolle. So lässt sich eine ganze Nation, die sich die Freiheit sonst groß auf ihre Fahnen geschrieben hat, abhören. Überwachte aus Deutschland und den USA schildern, wie sie diesen Eingriff in ihr Leben empfinden.

Die Wirklichkeit ist immer ambivalenter als die einfach daherkommende Vorstellung von da oben die bösen Unternehmen und da unten die armen, aber an sich guten Mitarbeiter. Auch unter denen gibt es natürlich solche und andere. Das wird in dem folgenden Passus – wieder über Amazon in Koblenz – deutlich:

»Besonders junge, körperlich fitte Männer ziehen offenbar besondere Genugtuung daraus, die eigene Leistung jeden Tag aufs Neue vermessen zu lassen. Fitnessarmbänder waren gestern, der Firmenkarte mit Barcode gehört die Zukunft. Sie garantiert maximale Aufmerksamkeit, selbst vom Chef. Mitarbeiter mit befristeten Arbeitsverträgen können so positiv auffallen, das hilft bei Verhandlungen über eine Verlängerung. Wahr ist außerdem: „Die Überwachung dient natürlich auch der Abschreckung.“ Das sagt der Betriebsrat Faltin ohne Vorwurf.«

Apropos Amazon: In der Print-Ausgabe der Rhein-Zeitung vom 25.11.2014 findet man den Artikel „Amazon vor dem Weihnachtstrubel“.  Darin wird berichtet, dass Amazon  in Koblenz für das bevorstehende Weihnachtsgeschäft 1.000 Saisonkräfte einstellt – 10,11 Euro zahlt ihnen das Unternehmen pro Stunde, so viel, wie die fest Angestellten im ersten Jahr als Basislohn bekommen. Das Logistikzentrum von Amazon in Koblenz wurde im Herbst 2012 mit rund 300 Mitarbeitern eröffnet. Derzeit arbeiten rund 2.000 Menschen fest an der A 61. Viele von ihnen kommen aus der Arbeitslosigkeit und Amazon weist darauf hin, dass das Unternehmen von der Arbeitsagentur Mayen-Koblenz eine Auszeichnung bekommen habe, weil unter den 2.000 Beschäftigten rund 100 Menschen mit einer Behinderung sind. Etliche Gehörlose sind darunter. Und auch ausgesprochene Kritiker des amerikanischen Versandhändlers müssen zugestehen, dass Amazon eines der wenigen Unternehmen ist, das vorbehaltlos Langzeitarbeitslosen eine Beschäftigungschance gibt, die in anderen Unternehmen noch nicht einmal in die Nähe eines Vorstellungsgesprächs kommen. Das ändert nichts an der in vielen Punkten berechtigten Kritik an diesem Unternehmen, gehört aber auch zu der eben immer ambivalenten Wirklichkeit.

1974 reloaded? Die Gewerkschaft ver.di will im Schnitt zehn Prozent mehr (nicht nur) für Erzieher/innen. Dagegen wären GDL & Co. fast schon tarifpolitische Softies

Das ist mal eine tarifpolitische Nachricht: Ver.di fordert im Schnitt zehn Prozent mehr Geld für Erzieher: Die Gewerkschaft »will die Berufe von Erziehern und Sozialarbeitern deutlich aufwerten, indem sie tariflich höher eingestuft und deutlich besser bezahlt werden. Die Verhandlungen dürften schwierig werden.« Das kann man wohl plausibel annehmen. Die üppig daherkommende Steigerung von 10% soll nicht in einer allgemeinen Lohnrunde über eine Anhebung der bestehenden Vergütungen erreicht werden, sondern es geht um eine Aufwertung der Sozial- und Erziehungsdienste, in dem die Beschäftigten in eine höhere Tarifgruppe eingruppiert werden sollen. »Ver.di hat die Eingruppierungsregeln zum Ende dieses Jahres gekündigt. Die Tarifkommission soll die Forderungen am 18. Dezember beschließen.« Dann sollen Verhandlungen mit der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) aufgenommen werden. Es geht unter anderem um Kinderpflegerinnen, Erzieherinnen, Heilpädagogen und Sozialarbeiter in kommunalen Kindertagesstätten und Sozialeinrichtungen. 2009 hatte es während der Tarifverhandlungen wochenlang Streikaktionen von ver.di und der Gewerkschaft GEW gegeben und auch jetzt wird sofort wieder ein Streikszenario in den Medien diskutiert (eine »Vorstellung, die bei berufstätigen Eltern große Unruhe auslöst«, wie Spiegel Online anzumerken meint). Ein solches Szenario würde aber – wenn überhaupt – erst im Frühjahr des kommenden Jahres relevant werden. Aus Sicht der Arbeitgeber übrigens gibt es hier gar keinen Verhandlungs- oder gar Änderungsbedarf: So wird Katja Christ, die Pressesprecherin des Arbeitgeberverbandes VKA, von Johannes Supe mit den Worten zitiert, dass der Verband »gar keine Notwendigkeit sieht, neu zu verhandeln«. Die Frauen im Sozial- und Bildungsbereich seien bereits »angemessen bezahlt«. Das ist mal eine Ansage, die schon beim ersten Hinschauen auf die Realität in diesem Feld mehr als wagemutig daherkommt.

Die Gewerkschaft ver.di hat ihre Mitteilung über das, was sie zu fordern gedenkt, unter die Überschrift „Mehr Wertschätzung für die Beschäftigten“ gestellt. Und es gibt tatsächlich eine ganze Reihe an guten Argumenten, die Fachkräfte in den Einrichtungen – an dieser Stelle sollen die Kindertageseinrichtungen in den Blick genommen werden – besser zu vergüten. Dies nicht nur grundsätzlich, sondern selbst aus einer rein betriebswirtschaftlichen Sicht spricht viel für eine andere Eingruppierung, denn die Kita-Landschaft hat sich in den vergangenen Jahren erheblich verändert:

Die Kindertageseinrichtungen standen nicht nur in den vergangenen Jahren im Zentrum eines gewaltigen quantitativen Ausbaus, was die Betreuungsangebote angeht, sondern zugleich sind die bildungspolitischen Erwartungen an die pädagogischen Fachkräfte in den Kitas erheblich nach oben geschraubt worden – sowohl von Seiten der Politik wie auch von einem immer größer werdenden Teil der Eltern. Hinzu kommt, dass die Öffnungszeiten der Einrichtungen in den zurückliegenden Jahren kontinuierlich ausgeweitet worden sind, mit der Folge, dass sich die Öffnungszeiten der Kitas von den Betreuungszeiten der einzelnen Kinder immer stärker entkoppelt haben. Dies muss vor dem Hintergrund gesehen werden, das gleichzeitig der Anteil der Teilzeitbeschäftigten unter den pädagogischen Fachkräften deutlich angestiegen ist, was zu einer erhöhten Fluktuation während eines Arbeitstages beiträgt. Zugleich – man denke hier an die Einführung des Rechtsanspruchs ab dem vollendeten ersten Lebensjahr – sind die Kinder immer jünger geworden, die heute in die Kindertageseinrichtungen kommen und zugleich bleiben sie tendenziell immer länger. Und natürlich kann man auch nicht leugnen, dass es viele Kinder gibt, die aus „schwierigen“ Familienverhältnissen kommen und die einer besonderen Sorge bedürfen, zugleich aber auch die Fachkräfte teilweise vor erhebliche Herausforderungen stellen, wenn man beispielsweise an die zunehmende Zahl von Kindern aus anderen Nationen, mit anderen kulturellen und religiösen Hintergründen denkt, die mittlerweile in den Kindertageseinrichtungen angekommen sind. Parallel zu diesen Veränderungen hat es eine enorme inhaltliche Aufwertung des frühpädagogischen Handelns gegeben, was sich weniger in der Tatsache manifestiert, dass es seit einigen Jahren an Hochschulen in Deutschland auch entsprechende Studiengänge der Kindheitspädagogik gibt, sondern das Wissen und die Forschungslage sind in den vergangenen Jahren deutlich erweitert worden und das soll alles aufgenommen und reflektiert werden von den pädagogischen Fachkräften. Man könnte die Aufzählung durchaus noch erheblich erweitern, aber die bislang skizzierten Entwicklungslinien sollten reichen, um eine entsprechende Aufwertungsforderung substantiell zu unterfüttern.

Aus einer fachpolitischen Sicht besteht überhaupt gar keinen Zweifel daran, dass eine bessere Vergütung in diesem so wichtigen Bereich gut begründet und wünschenswert ist.

Allerdings muss man eben auch die restriktiven Rahmenbedingungen sehen und zur Kenntnis nehmen, die das Handlungsfeld bestimmen. Ein besonderes Problem ist die spezifische Finanzierungsstruktur, in die die Kindertageseinrichtungen eingebettet sind.  Kurz gesagt: Die Finanzierung ist dergestalt deformiert, dass die Kommunen die Hauptlast der Kosten zu tragen haben, während hingegen die Bundesländer und vor allem der Bund sowie die auf der Ebene des Bundes angesiedelten Sozialversicherungen am meisten von der Kindertagesbetreuung profitieren in Form höherer Steuern und Beitragseinnahmen. Die Kommunen wiederum – als letztes Glied in der Verwertungskette – stehen vor dem Problem, dass sie in den vergangenen Jahren einen vom Bundesgesetzgeber eingeführten Rechtsanspruch auf (irgendeinen) Betreuungsplatz umsetzen mussten, gleichzeitig aber haushaltsmäßig oftmals in einer desaströsen Verfassung sind. An die Kommunen aber richtet sich nunmehr die Forderung von ver.di. Angesichts der haushaltspolitischen Lage, in der sich viele Kommunen befinden, erscheint die Durchsetzung eines Steigerungsbetrags von 10 % völlig unrealistisch.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht unrealistisch, wenn man davon ausgeht, dass die Gewerkschaft im kommenden Frühjahr zum Mittel des Arbeitskampfes greifen muss. Hierbei sollte allerdings berücksichtigt werden – und die Erfahrungen, die während der Streikaktionen im Jahr 2009 gesammelt wurden, belegen das eindrücklich –, dass die Erzieherinnen (zu über 95 % haben wir es in den Kindertageseinrichtungen mit Frauen zu tun) keinesfalls hinsichtlich einer notwendigen Streikbereitschaft die Rolle übernehmen können, die früher im öffentlichen Dienst die Müllwerker oder die Busfahrer gehabt haben, bevor sie in vielen Städten privatisiert worden sind. Zumindestens 2009 haben sich sehr viele Erzieherinnen sehr schwer damit getan, ihre Einrichtung länger als einen oder zwei Tage zu bestreiken, denn viele zeichnen sich durch ein ausgeprägtes Verantwortungsgefühl gegenüber den Kindern und deren Eltern aus, so dass ihnen ein Arbeitskampf schon grundsätzlich nicht leicht fällt. Und während am Anfang eines Arbeitskampfes und vor allem bei einer Begrenzung auf kurze Zeiten noch davon auszugehen ist, dass es eine große bzw. zumindestens spürbare Sympathie auf Seiten der betroffenen Eltern und in der allgemeinen Öffentlichkeit geben wird, muss und wird sich das ändern, je länger gestreikt wird bzw. werden muss. Anders ausgedrückt: Wir können bei den Erzieherinnen eben nicht davon ausgehen, dass wir es mit streikerprobten oder gar streikfreudigen Personen zu tun haben. Nun hat sich allerdings die Situation seit 2009 verhindert. Der Organisationsgrad der Erzieherinnen in den Gewerkschaften Verdi und GEW hat sich nach oben entwickelt und seit dem quantitativen Ausbau vor allem der Kleinkindbetreuung wird zunehmend von einer aggressiveren Stimmung unter vielen Fachkräften berichtet, was die konkreten Arbeitsbedingungen angeht. Insofern könnte man annehmen, dass die Bereitschaft, sich nunmehr wenn es nicht anders geht auch mit Arbeitskampfmaßnahmen zu wehren, in den vergangenen Jahren angestiegen ist.

Dabei muss aber eine weitere Besonderheit des Feldes berücksichtigt werden: Von den mehr als 52.000 Kindertageseinrichtung, die es derzeit in Deutschland gibt, befinden sich nur ein Drittel in kommunaler Trägerschaft, zwei Drittel der Einrichtung werden von freien Trägern betrieben. Genau so sieht es aus bei den Beschäftigten, denn von den insgesamt 472.000 pädagogisch tätigen Fachkräften arbeiten 33,5 % bei einem öffentlichen Träger, der Rest entfällt auf die freien Träger. Unter diesen stellen Einrichtungen in evangelischer oder katholischer Trägerschaft die größte Gruppe dar, allein hier arbeiten mit über 163.000 pädagogischen Fachkräften mehr Menschen als in allen kommunalen Kindertageseinrichtungen zusammen. Hier nun aber besteht die Besonderheit darin, dass in diesen Einrichtungen aufgrund der tradierten Sonderrechte der Kirchen im Arbeitsrecht schlichtweg gar nicht gestreikt werden darf, auch wenn die Betroffenen das wollten. Die einzigen, die also bei einem Arbeitskampf spürbar und überhaupt tätig werden können, sind die Erzieherinnen in den kommunalen Kindertageseinrichtungen. Wenn man sehenden Auges in diese Richtung marschieren will, dann sollte man die Leute gut vorbereiten, ganz besonders gut, sonst endet das in einem Desaster.

Auch wenn es den Betroffenen absolut zu wünschen wäre, eine deutliche Verbesserung ihrer Vergütungssituation zu erfahren – die 10% sind „eine steile Forderung“, so zitiert die Gewerkschaft ver.di selbst eine Betroffene. Die Forderung kommt in die Nähe dessen, was in den 1970er Jahren sogar am Ende eines Arbeitskampfes erreicht worden ist: Anfang 1974 streikt der öffentliche Dienst und der damalige ÖTV-Chef Heinz Kluncker erzwang eine Lohnerhöhung von elf Prozent. An dieser Stelle könnte man skeptisch fragen, warum man sich auf eine so hoch daherkommende Forderung verständigt hat – was, wenn da deutlich weniger bei raus kommt? Die Gefahr von teilweise massiven Enttäuschungen am Ende eines solchen Prozesses auf Seiten der Erzieher/innen sollte nicht unterschätzt werden.

Man darf gespannt sein, wie sich diese Runde entwickeln wird. Eine mutige Forderung, die Zeichen setzt. Verdient hätten es die betroffenen Fachkräfte auf alle Fälle, aber zwischen Wunsch und Wirklichkeit gibt es ja oft eine zuweilen sehr große Diskrepanz. Und auch auf die muss man vorbereitet sein. Gerade in diesem Bereich.

Foto: © Stefan Sell

Drogenpolitik ist ein schwieriges Terrain. Gerade dann muss man diskutieren und streiten – dürfen

Hubert Wimber steht kurz vor der Pensionierung, aber er ist ein moderner Mann. Wenn es um Drogenpolitik geht, ist Münsters Polizeipräsident seinem Dienstherrn sogar etwas zu modern. Nordrhein-Westfalens Innenminister Ralf Jäger (SPD) hat Wimber verboten, sich in einer Organisation zu engagieren, die für die Freigabe von Cannabis wirbt. Das steht in einem Bericht Jägers an den Landtag. Darüber berichtet Jannis Brühl in dem Artikel Polizeichef darf nicht für Cannabis kämpfen.

Schauen wir uns in einem ersten Schritt den konkreten Sachverhalt an: »Es geht um die Pressekonferenz anlässlich der Gründung des deutschen Ablegers des Netzwerkes Leap (Law Enforcement against Prohibtion – „Strafverfolger gegen Prohibtion“) im Bundestag. Bei Leap setzen sich Kriminalexperten für die Freigabe weicher Drogen ein. Die Gruppe wollte sich am 22. Oktober offiziell gründen. Als Teilnehmer waren ein Linken-Politiker, eine ehemalige Offizierin des britischen Geheimdienstes MI5 angekündigt – und eben Wimber. Der ist bekannt ist für seine liberale Einstellung gegenüber weichen Drogen … Wimber hinterfragt die harte Verbotspolitik, er hält den Einsatz von Polizisten gegen Cannabis-Konsumenten für Verschwendung von Ressourcen.«
Aber aus der Veranstaltung wurde nichts, sie wurde kurzfristig abgesagt, da der Polizeipräsident absagen musste. Er konnte bzw. korrekter: er durfte nicht teilnehmen.

Jannis Brühl erläutert die Hintergründe: »Das Innenministerium hatte dazwischen gegrätscht, wie nun bekannt wird. In einer Antwort auf eine Anfrage der Piraten wird die dienstliche Anordnung an Wimber wörtlich zitiert: „Teilnahme und Mitwirkung an dem am 22.10.2014 geplanten Pressetermin im Bundestag in Berlin im Zusammenhang mit der Gründung der Organisation ‚Leap Deutschland‘ sind Ihnen untersagt.“«

Zwei Dinge sind hier anzumerken:

Dem einen oder der anderen wird bei dem Namen Ralf Jäger einfallen: Ist das nicht der von außen betrachtet ziemlich überforderte Innenminister von Nordrhein-Westfalen, der politisch verantwortlich ist, aber natürlich nicht sein will, für die aufgrund einer verfehlten Einsatzplanung völlig aus dem Ruder gelaufene Demonstration wildgewordenen Hooligans in Köln? Und der sich auch nicht mit Ruhm bekleckert hat im Kontext der schlimmen Vorfälle in nordrhein-westfälischen Asylbewerberheimen? Und … Ja, genau der ist das.

Damit hier keinesfalls der Eindruck entsteht, dass hier nur die „eine“ Seite abgewatscht werden soll: In dem Artikel wird mit Blick auf die Opposition in NRW, genauer: die CDU, ausgeführt:

»Die CDU beobachtet Wimber seit Längerem. Im Februar stellte sie im Innenausschuss die Frage: „Narrenfreiheit‘ für Münsteraner Polizeipräsidenten?“ und bezweifelte, dass er in Sachen Drogendelikte seinem Dienstherrn loyal folge. Anlässlich des geplanten Leap-Treffens hieß in einer Anfrage der Konservativen spitz: „Verstößt der Polizeipräsident von Münster gegen Recht und Gesetz?“«

Ist die harsche Reaktion des SPD-geführten Innenministeriums in NRW vielleicht nur ein angstbesetzter Reflex auf die Treibjagd der Opposition auf einen Vertreter aus dem Sicherheitsapparat, der abweicht von der offiziell „hart“ daherkommenden drogenpolitischen Linie? Man kann bekanntlich nicht in das Seelenleben eines Ministeriums von außen hineinschauen, wenn es denn überhaupt eins gibt. Deshalb zum zweiten, inhaltlich wesentlich wichtigeren Aspekt.

Es gibt seit längerem eine seriöse und mit hoher Kompetenz ausgestattete Diskussionslinie über die Sinnhaftigkeit einer Liberalisierung bis hin zu einer Legalisierung von bislang unter das Betäubungsmittelgesetz fallenden und damit als illegal deklarierten „weichen“ Drogen (vgl. beispielsweise Experten fordern: Cannabis muss legalisiert werden). An dieser Stelle sei nur an die im Jahr 2013 veröffentlichte „Resolution deutscher Strafrechtsprofessorinnen und –professoren an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages“ verwiesen, die mittlerweile von 122 Strafrechtsprofessoren aus Deutschland unterschrieben wurde und die im Kontext eines Netzwerks von Experten aus Wissenschaft und Praxis – dem Schildower Kreis (auch auf Facebook mit einer eigenen Seite vertreten) –  entstanden ist. In der Resolution wird der Deutsche Bundestag aufgefordert,  eine Enquête-Kommission einzusetzen mit dem Ziel einer Überprüfung des bestehenden Betäubungsmittelrechts. Denn die Resolution geht davon aus, dass zentrale Elemente der gegenwärtigen Drogenpolitik gescheitert sind:

Die strafrechtliche Drogenprohibition ist gescheitert, sozialschädlich und unökonomisch. Dies wird mit fünf Thesen begründet:
1. Mit der Drogenprohibition gibt der Staat seine Kontrolle über Verfügbarkeit und Reinheit von Drogen auf.
2. Der Zweck der Prohibition wird systematisch verfehlt.
3. Die Prohibition ist schädlich für die Gesellschaft.
4. Die Prohibition ist unverhältnismäßig kostspielig.
5. Die Prohibition ist schädlich für die Konsumenten.

Auch auf der internationalen Ebene wird seit längerem an der dominierenden Prohibitionspolitik gerüttelt und diese grundsätzlich in Frage gestellt – auch hier von hochrangigen Kommissionen, nicht (nur) aus dem Milieu. Die Global Commission on Drugs, ein einflussreicher Thinktank, hat den „Krieg gegen die Drogen“ für verloren erklärt. Mehrere Staaten beginnen aus der Prohibition auszusteigen: Uruguay, Spanien, Portugal, Belgien und Tschechien, aber auch die US-Bundesstaaten Colorado und Washington, so der Hinweis von Heino Stöver in dem Pro- und Contra-Artikel zur Legalisierungsfrage Der Streit um die Drogen.

An dieser Stelle kann und soll es aber nicht weiter um die wichtige, zugleich höchst komplexe Frage einer Legalisierung bislang illegaler Drogen gehen, denn auch wenn man eher eine ablehnende Position einnimmt, was eine solche Entwicklung angeht, und man beim bisherigen prohibitiven Ansatz bleiben möchte, muss man zur Kenntnis nehmen – um wieder an den Ausgangspunkt zurückzukommen -, dass es sehr gute Gründe geben kann, dass auch Repräsentanten aus dem Sicherheitsapparat sich zu Wort melden und für einen anderen drogenpolitischen Weg plädieren können sollten dürften. Und nicht nur der Polizeipräsident aus Münster tut das, sondern entsprechende Hinweise kommen auch aus den Reihen der Polizeigewerkschaft, ohne dass die damit für irgendeine uneingeschränkte Legalisierung plädieren würden. Aber deren Argumentation ist genau so bedenkenswert: Tausende Polizisten werden laut Gewerkschaft falsch eingesetzt, so ist ein Artikel des Focus überschrieben und das ist die zentrale These von Rainer Wendt, dem Vorsitzenden der Deutschen Polizeigewerkschaft. Dadurch ließen sich „auf einen Schlag mehrere Tausend Stellen“ schaffen, und zwar ohne zusätzliche Kosten. Interessant sind hier die Beispiele, die er anführt. Zuerst eines aus einem Bereich, von dem viele Autofahrer schon mal betroffen waren:

»Als Beispiel für die Verschwendung von Arbeitszeit nannte Wendt die Regelungen zur Haftung von Autobesitzern. Wer als Pkw-Halter nach einer Ordnungswidrigkeit behaupte, er sei nicht gefahren, löse „umfangreiche Ermittlungen“ aus. Bundesweit seien statistisch gesehen 2.000 Beamte nur damit beschäftigt, in solchen Fällen den Fahrer zu ermitteln. Wendt empfahl, die Regelungen europäischer Nachbarländer zu übernehmen: „Der Halter sagt, wer gefahren ist, oder er zahlt das Bußgeld.“«

Und jetzt kommt sein zweites Beispiel – und das ist passungsfähig zu der hier relevanten Debatte:

»Der Gewerkschafter wandte sich auch gegen die Verfolgung von Konsumenten geringer Cannabis-Mengen. Polizisten müssten diese Personen nach geltendem Recht anzeigen, Staatsanwälte stellten die Verfahren aber routinemäßig ein. „Es wäre besser, den Konsum geringer Mengen von Cannabis nicht mehr verfolgen zu müssen – um sinnlose Bürokratie zu vermeiden.“«

Man könnte diese Linie jetzt fortschreiben – und sich beispielsweise anschauen, wie viele Inhaftierte deshalb im Strafvollzug gelandet sind, weil sie gegen das Betäubungsmittelrecht verstoßen haben.

Nun könnte man noch abschließend einwenden, um den nordrhein-westfälischen Innenminister Ralf Jäger in Schutz zu nehmen, dass der das machen musste, weil sich der Polizeipräsident ja öffentlich für eine Liberalisierung bzw. Legalisierung weicher Drogen engagieren wollte und das wohl immer auch noch will. Und das beträgt sich nicht mit seiner Funktion.

Aber ist das wirklich so? Hierzu eine gedankliche Analogie: Ein Lehrer an einer staatlichen Schule vergibt regelmäßig Noten, die teilweise enorme Auswirkungen für den gesamten Lebensweg haben können. Und trotzdem kann sich der Lehrer oder der Direktor der Schule in einer Organisation beispielsweise für eine Abschaffung von Zensuren einsetzen, wenn er oder sie die für nicht sinnvoll oder wirkungslos hält. Würde man ernsthaft erwägen, diesen Pädagogen einen Maulkorb zu verpassen, weil sich das nicht mit ihrer Aufgabe des Notenverteilens vertragen würde? Die Protestwelle gegen diesen Eingriff wäre sehr hoch.

Fazit: Jetzt sind wir bei dem entscheidenden Punkt angekommen. Die Handlungsweise des nordrhein-westfälischen Innenministers Ralf Jäger (SPD) zeugt von einer Haltung, die man nur kopfschüttelnd zur Kenntnis nehmen kann und die man ablehnen sollte. Es geht hier um einen obrigkeitsstaatlichen Verbotsversuch hinsichtlich einer dringend erforderlichen, wenn auch unangenehmen und sicher nicht einfach zu führenden Debatte. Und ein Sozialdemokrat sollte eigentlich … aber wie gesagt, solche Verweigerungshaltungen sind leider kein Privileg bestimmter Parteien.