Zwischen Unausweichlichkeit und Glasperlenspiel: Vorhersagen der demografischen Entwicklung im Spannungsfeld von Notwendigkeit und scheinbarer Gewissheit

In so gut wie allen sozialpolitischen Handlungsfeldern begegnet uns immer wieder der Hinweis auf „die“ demografische Entwicklung. Man kann durchaus die These vertreten, dass die mit der Demografie verbundenen Entwicklungen wie ein „roter Faden“ der Sozialpolitik daherkommen. Ob es um die Planung und Steuerung geburtshilflicher Angebotsstrukturen in der Gesundheitspolitik, um den Ausbau der Kindertagesbetreuung, um die Schulbedarfsplanung und die Entwicklung der Auszubildenden-Zahlen geht, bis hin zu der Frage der Entwicklung des Arbeitskräfteangebots, der Zahl der Rentner oder der Entwicklung der Pflegebedürftigkeit – für alle diese Fragen spielt es eine ganz erhebliche Rolle, wie und in welcher Richtung sich die Bevölkerung hinsichtlich Zahl und Altersstruktur entwickelt. Insofern benötigt man in der sozialpolitischen Diskussion wie auch in den Niederungen der praktischen Politikgestaltung – gerade vor Ort – möglichst genaue Vorhersagen über die demografische Entwicklung. Und die Statistiker versuchen das in regelmäßigen Abständen auch zu liefern. Der 28.04.2015 wird so ein Tag sein, an und nach dem wieder einmal über ganz viele Ältere, zu wenig Kinder, menschenentleerte Regionen und auch boomende Großstädte in den Medien berichtet werden wird, denn das Statistische Bundesamt hat eingeladen zu einer großen Pressekonferenz unter der gewichtigen Überschrift „Bevölkerungsentwicklung Deutschlands bis 2060“, auf der ein aktualisierter Blick in die Zukunft, also die Ergebnisse der 13. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung, präsentiert werden sollen. Die Bundesstatistiker versprechen: »Auf der Grundlage von Annahmen zur künftigen Entwicklung von Geburtenhäufigkeit, Lebenserwartung und Wanderungen wird gezeigt, wie die demografische Entwicklung bis 2060 aussehen könnte.« Und fast wie ein Werbeblock für Journalisten-Spielzeug kommt die Ankündigung daher, an diesem Tag werde auf der Webseite des Statistischen Bundesamtes auch „eine neu gestaltete animierte Bevölkerungspyramide“ freigeschaltet. Prima.

Und natürlich werden sich die Medien auf der ständigen Suche nach „Neuigkeiten“ auf diesen Blick in unsere Zukunft stürzen und je nach Berichterstattungsinteresse werden dann apokalyptische Versionen oder eher beschwichtigende Texte verfasst, sicher mit einer recht deutlichen Neigung hin zur demografischen Apokalypse, weil schlechte bzw. beunruhigend daherkommende Nachrichten (angeblich) mehr Quote und Auflage bringen. Die den demografischen Wandel positiv bewertenden oder wenigstens vor einer einseitigen Dramatisierung warnenden Beiträge sind eindeutig in der Minderheit (vgl. dazu auch den Blog-Beitrag Jenseits der „Demokalypse“? Die fabelhafte Welt des altersgerechten Lebens. Aber alles hat seinen Preis vom 05.04.2015).

Aber unabhängig davon wird kaum einer die eigentlich so naheliegende Frage stellen: Wenn es jetzt um die 13. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung geht, dann muss es schon 12 vorangegangene gegeben haben – und dann wäre es doch mal interessant zu erfahren, was denn aus den Vorausberechnungen später in der Realität geworden ist. Dieses Wissens über die Genauigkeit der Vorhersagen wäre eigentlich eine absolut erforderliche Hintergrundinformation, um die neuen Zahlen einordnen und bewerten zu können. Und diese Infragestellung der bisherigen Vorhersagen ist nicht einem generellen Ablehnung von Vorausberechnungen der demografischen Entwicklung geschuldet, jeder, der sich mit Sozialpolitik und ihrer Gestaltung beschäftigt, wird solche verwenden oder heranziehen. Und sie ist auch nicht einer generellen Verneinung der Möglichkeit geschuldet, überhaupt eine solche Vorhersage jenseits der reinen Kaffeesatzleserei machen zu können – denn gerade die demografische Entwicklung zeichnet sich dadurch aus, dass sie im Prinzip gut vorhersagbar ist, denn sie wird von nur drei Einflussfaktoren bestimmt: der Geburtenrate, der Entwicklung der Lebenserwartung sowie dem Wanderungssaldo. Hinsichtlich der Geburtenrate wie auch der Lebenserwartungsentwicklung kann man sich auf recht sicherem Fundament bewegen, aber die Zu- und Abwanderungen und der daraus gebildete Wanderungssaldo stellen einen erheblichen Unsicherheitsfaktor dar. Und selbst wenn man den Wanderungssaldo gut eingrenzen könnte, bleibt immer noch ein großes Restrisiko hinsichtlich des weiteren Gangs der Dinge, denn jemand, der sein restliches Leben hier bleibt, müsste natürlich anders bewertet werden als jemand, der nach zwei Jahren wieder zurückwandert.

Dass das nicht nur theoretische Einwände sind, kann man an einer diese Tage bereits veröffentlichten Bevölkerungsvorausberechnung zeigen. Unter der trockenen Überschrift Neue Vorausberechnung zur Bevölkerungsentwicklung in Nordrhein-Westfalen: Bevölkerungszahl steigt bis 2025 um ein Prozent meldet sich das Statistische Landesamt Nordrhein-Westfalen zu Wort und präsentiert die Ergebnisse der Vorausberechnung der Bevölkerung in den kreisfreien Städten und Kreisen Nordrhein-Westfalens 2014 bis 2040/2060.

Auch hier wird also – wie in der nun vom Bundesamt anstehenden neuen Vorausberechnung – bis in das Jahr 2060 versucht, die demografische Entwicklung vorherzusagen. Wir schreiben bekanntlich das Jahr 2015 und ich erspare mir an dieser Stelle ausführliche Anmerkungen zu dem Hinweis, wie äußerst fragwürdig es ist, von heute aus gesehen auf der Basis unvollständiger und mit zahlreichen Fehlern behafteten Daten aus der Vergangenheit die Zukunft über eine Zeitspanne von 45 Jahren (!) zu modellieren. Man muss sich nur einmal klar machen, dass viele bevölkerungsbezogene Daten, die nun weitergerechnet werden, aus Datensätzen stammen, die beispielsweise in Westdeutschland seit der letzten großen Volkszählung im Jahr 1984 (!) immer nur fortgeschrieben wurden mit den entsprechenden Fehlern, die sich einschleichen müssen. Auch der Zensus 2011 war ja keine echte Volkszählung und konnte nur eine Annäherung an die Realität liefern.

Über einige Ergebnisse aus den neuen Vorhersagen der Landesstatistikern wurde in den Medien sofort berichtet, beispielsweise in dem Artikel Bevölkerung – Am Rhein wird es eng, im Sauerland einsam von Matthias Korfmann und Wilfried Goebels. Dieser Artikel sei auch deshalb hier hervorgehoben, weil er die angesprochene Problematik erkennt und zum Thema macht.
In der Vergangenheit war es ja eine der Kernaussagen der Debatte über die demografische Entwicklung, dass die Bevölkerung unweigerlich schrumpfen wird angesichts einer seit mehr als 40 Jahren stabil (zu) niedrigen Geburtenrate. Die Autoren merken vor diesem Hintergrund zu Recht erstaunt an:

»Nordrhein-Westfalen wächst überraschend bis 2025 – nach neuen Prognosen beginnt der Bevölkerungsrückgang deutlich später als von Experten erwartet. Ursache sind vor allem die hohen Zuwanderungszahlen. Nach den Berechnungen des Landesamtes für Statistik wird die Einwohnerzahl im Bundesland deshalb noch bis 2025 um ein knappes Prozent auf 17,7 Millionen Bürger steigen. Die Statistiker gehen davon aus, dass die Geburtenzahl zwar absehbar sinken wird, zunächst aber ein neuer Bedarf für Kitas und Schulplätze besteht. Erst 2040 soll die Bevölkerungszahl dann laut Prognose landesweit um lediglich 0,5 Prozent auf 17,5 Millionen sinken.«

Und wie immer liegt die wahre Erkenntnis jenseits der Durchschnittswerte, vor allem dann, wenn man eine große Streuung der Einzelwerte hat, aus denen sich der Durchschnitt zusammensetzt. Anders formuliert: Die einen gewinnen, die anderen verlieren. Mit Blick auf NRW und der in den Raum gestellten vorausberechneten Bevölkerungsentwicklung bis 2040:

»So wächst die Einwohnerzahl unter anderem in den Städten Düsseldorf (+13%), Köln (+19%), Bonn (+12%), Essen (+3,6%), Münster (16,6%) und Leverkusen (+8%). Im Ruhrgebiet sinkt die Einwohnerzahl um 3,9% auf 4,8 Millionen Bürger. Den größten Rückgang melden der Märkische Kreis mit -19%, Hochsauerlandkreis -16%, Hagen -9,7%, Oberbergischer Kreis -9,9% und der Ennepe-Ruhr-Kreis -8%. Damit verschärft sich die „Landflucht“ in NRW.«

Und mit Blick auf eine etwas kürzere Zeitspanne, also bis 2025, bringen die beiden Verfasser des Artikels ihre Verwunderung deutlich zum Ausdruck:

»Wir hatten uns schon an all die düsteren Prognosen zur Bevölkerungsentwicklung gewöhnt. Deutschland, NRW, die Städte an der Ruhr werden schnell und dramatisch schrumpfen, hieß es. Und nun legt das Landesamt IT.NRW eine ganz andere Vorhersage auf den Tisch: Zumindest bis 2025 soll die Zahl der Einwohner in NRW sogar wachsen. Selbst Revierstädte sind unter den „Wachstums“-Kandidaten: Dortmund (+ 5,1 %), zum Beispiel, und Essen (+ 3,6 %).«

Dabei sprechen die beiden von einer „soliden Datenbasis“ der neuen Vorhersage, würde diese doch auf der „Volkszählung 2011“ basieren. Bei allem Respekt vor der Arbeit der amtlichen Statistik, aber der „Zensus 20122“ war keine richtige Volkszählung, allenfalls eine Simulation einer Volkszählung im Wege der Auszählung und des Abgleich zahlreicher Registerdaten und einer Stichprobe.
Und sie bringen selbst Hinweise, wie vorsichtig man sein sollte, wenn es um Prognosen geht:

»Im Jahr 2001 machte eine düstere Vorhersage Schlagzeilen im Revier: „Das Ruhrgebiet verliert immer mehr Bürger“, hieß es damals. Und: „Essen, Dortmund und Hagen trifft es besonders hart.“ Eine Studie des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) blickte damals bis 2015 voraus. Optimismus war nicht angesagt. Selbst eine Steigerung der Geburtenrate um 50 Prozent werde die Schrumpfung des Ruhrgebiets nicht stoppen können, hieß es.«

Von oben betrachtet ist die Gesamtentwicklung schon so eingetreten, wie damals vorhergesagt – allerdings mit krassen Abweichungen bezogen auf einzelne Ruhrgebietsstädte zu dem, was tatsächlich passiert ist – und zwar nach oben wie unten: »Völlig missglückt hingegen ist die Vorhersage für Dortmund, Essen sowie den Kreis Unna. Essen dürfte heute nur noch eine 529.000 Einwohner-Stadt sein. Tatsächlich sind es … rund 570.000. Dortmund hatte … nach Angaben der Stadt selbst sogar 589.000. Die Prognose sah Dortmund bei nur noch 529.000 Einwohnern. Im Kreis Unna hingegen leben heute sogar rund 45.000 Bürger weniger als vorhergesagt.«

Wie kann es dazu kommen?

Der Blick nach vorne ist eigentlich einer nach hinten, so wird der Regionalforscher Peter Strohmeier zitiert. Man schreibt die durchschnittlichen Verhältnisse der jüngsten Vergangenheit in die Zukunft fort. Dazu auch ein anderer Experte:

»In der Prognose aus dem Jahr 2001 spiegeln sich die Erfahrungen aus den 1990-er Jahren. „Damals gab es zunächst intensive Wanderungsbewegungen. Es kamen viele Aussiedler, Asylbewerber und Kriegsflüchtlinge. Das ging zum Ende der 1990-er Jahre aber zurück, und offenkundig ließen sich die Experten von diesen Eindrücken leiten“, erklärt Andreas Farwick, Geograph an der Ruhr-Uni.«

Da haben wir sie wieder, die große Unbekannte – und Unsicherheit – Zuwanderung. Dass das auch heute von Bedeutung ist, muss an dieser Stelle kaum besonders hervorgehoben werden. Und das folgende Zitat legt den Finger in die offene Wunde derjenigen, die an schein-exakte Zahlen glauben:

»Die Prognose von 2001 enthält zwar Hinweise auf die Folgen einer EU-Osterweiterung, konnte aber nicht mit einigen dramatischen Entwicklungen rechnen: die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise mit ihren Konsequenzen für Griechenland und Spanien, der arabische Frühling, die Bürgerkriege in Syrien und Irak – das schlägt auch auf die Bevölkerungsentwicklung im Ruhrgebiet durch. Farwick: „Die Kernstädte des Ruhrgebietes, haben eine sehr starke Zuwanderung. In Dortmund gibt es zum Beispiel eine große Südosteuropa-Community, also ziehen andere Menschen aus Südosteuropa in diese existierende Gemeinschaft nach.“ Ähnliches lässt sich in Duisburg beobachten.«

Man wusste es im Jahr 2001 eben nicht und konnte es damals auch nicht wissen. Wer aber weiß, was in den vor uns liegenden 45 Jahren passieren wird? Daran sollten wir denken, wenn das Statistische Bundesamt am kommenden Dienstag seine neue Bevölkerungsvorausberechnung veröffentlicht und viele Medien – anders als der hier zitierte Artikel – eine Zahl oder eine Altersverteilung für das Jahr 2060 in den Raum stellen wird und aus Vereinfachungsgründen sagen, schreiben oder bebildern wird: So wird es kommen. Die Statistiker übrigens sind exkulpiert, weisen sie doch immer in ihren Texten korrekt darauf hin, dass es sich nicht um Prognosen handelt, sondern unter Vorausberechnungen auf der Grundlage bestimmter Annahmen (zu der Geburtenrate, zur Zuwanderung), die so kommen können, es aber nicht müssen. Dann werden mehrere Varianten gerechnet, aber in der Berichterstattung wird das dann alles eingedampft auf eine Zahl aus den vielen.

Korfmann und Goebels zitieren den Bielefelder Bevölkerungsforscher Jürgen Flöthmann, der eine natürliche Grenze für Vorhersagen sieht: „Alles, was über 30 Jahre hinausgeht, ist völlig spekulativ.« Und das ist schon eine recht weit gezogene Obergrenze, sie orientiert sich an einer Generation. Aber was kann und wird da nicht noch alles passieren.

Fazit: Mehr Demut vor der unsicheren Zukunft und mehr Szenarien auf der Basis plausibler Annahmen statt der erfolglosen Suche nach der einen Zahl. Es wird sie geben, aber wir werden sie erst hinterher kennen.

Teilkasko-Dilemmata: Die Pflege zwischen steigenden Heimkosten und Eltern, die ihre Kinder brauchen bzw. die von den Sozialämtern gebraucht werden

Bewohner von Pflegeheimen müssen immer mehr selbst zahlen, so Timot Szent-Ivanyi in seinem Artikel Kosten für Pflegeheime steigen deutlich. Dabei sind die Leistungen aus der Pflegeversicherung doch erst zum 1. Januar 2015 angehoben worden. Aber die Heimbewohner  müssen mehr aus der eigenen Tasche bezahlen als vor dem Inkrafttreten der Reform. Das zumindest zeigen Berechnungen des Verbandes der privaten Krankenversicherung (PKV). Die Zahlen aus der PKV-Pflegedatenbank gelten für alle Versicherten, da die private und die gesetzliche Pflegeversicherung die gleichen Leistungen haben. Szent-Ivanyi berichtet über die Situation am Beispiel der rund 380 Pflegeheime, wobei die Daten auch zeigen, dass die durchschnittlichen Heimkosten in der Hauptstadt über dem bundesdeutschen Durchschnitt liegen. Die Ursache für die steigenden Eigenbeträge der Pflegebedürftigen ist einfach: Die Kosten für einen Heimplatz steigen stärker als die Leistungen aus der Pflegeversicherung. »Die wachsenden Eigenanteile bestätigen einen längerfristigen Trend: Die Leistungen der Pflegeversicherung werden schleichend entwertet, weil die Kosten stärker steigen als die Zuweisungen aus der Pflegeversicherung. Berechnungen haben ergeben, dass die Leistungen seit Einführung der Pflegeversicherung im Jahre 1995 mehr als 25 Prozent an Wert verloren haben. Auch die zum 1. Januar diesen Jahres erfolgte Erhöhung der Zahlungen um vier Prozent hat den Wertverfall nicht stoppen können«, bilanziert Timot Szent-Ivanyi.

Man kann das angesprochene Auseinanderlaufen von Heimkosten und Leistungen aus der Pflegeversicherung am Beispiel von Berlin verdeutlichen:

»Zum 1. Januar 2015 wurden mit der Pflegereform die Zuweisungen für einen Heimplatz je nach Pflegestufe zwischen 41 und 62 Euro angehoben. In der höchsten Pflegestufe III werden derzeit beispielsweise 1.612 Euro gezahlt. Die durchschnittlichen Heimkosten kletterten jedoch stärker, und zwar abhängig vom Pflegebedarf zwischen 56 und 77 Euro. Wer die Pflege nach der Stufe I benötigt, muss derzeit in Berlin für einen Heimplatz im Schnitt 2.756 Euro zahlen. In Stufe II sind 3.336 Euro fällig, in Stufe III 3.750 Euro. Im Bundes-Schnitt sind die Heime jeweils rund 300 Euro billiger.
Damit steigen die Anteile, die die Hilfebedürftigen in Berlin selbst aufbringen müssen, trotz verbesserter Pflegeleistungen an. Der Eigenanteil in Pflegestufe I wächst um rund 15 Euro auf 1.692 Euro, in der Stufe II um 18 Euro auf 2.006 Euro und um 15 Euro auf 2.138 Euro in der Stufe III.«

Das sind erhebliche Beträge, die natürlich bei vielen Menschen weit über dem liegen, was sie an Renten haben. Kann ein Pflegebedürftiger diese Beträge nicht aus seinen Alterseinkünften und/oder seinem Vermögen zahlen, ist er auf Sozialhilfe angewiesen. Die Sozialämter können sich das Geld bei den Kindern zurückholen, womit wir schon bei der nächsten großen Baustelle wären.

Kathrin Gotthold greift dieses in den vor uns liegenden Jahren mit Sicherheit an individueller Betroffenheit und gesellschaftlicher Brisanz gewinnende Thema in ihrem – etwas reißerisch überschriebenen – Artikel So riskieren Eltern die Existenz ihrer Kinder ausführlich auf.

»2,63 Millionen pflegebedürftige Mitmenschen gab es bereits Ende 2013 in Deutschland. Das sind 125.000 mehr als 2011 – ein Anstieg um fünf Prozent. Im Jahr 1999 zählte Deutschland noch rund zwei Millionen Pflegebedürftige. Prognosen zufolge steigt ihre Zahl bis 2050 um weitere rund zwei Millionen.«

Gotthold bezieht sich dabei auf die aktuellsten Daten der Pflegestatistik 2013, deren Deutschlandergebnisse vom Statistischen Bundesamt vor kurzem veröffentlicht worden sind. Für das Thema hier besonders relevant: 764.000 Pflegebedürftige, das sind 29% aller Pflegebedürftigen, wurden vollstationär in 13.000 Pflegeheimen mit 675.000 Beschäftigten betreut.

Können Eltern im Alter die Kosten für die Pflege oder die Heimunterbringung nicht mehr aufbringen, wendet sich das Sozialamt an die Kinder. Und dann merken erst viele, dass es nicht nur eine Unterhaltsverpflichtung der Eltern gegenüber ihren Kindern gab, sondern es gibt auch den umgekehrten Weg, den „Elternunterhalt“ nach § 1601 BGB – und immer mehr Sozialämter gehen konsequent diesen Weg, um sich ein Teil der steigenden Ausgaben für die Hilfe zur Pflege von den Kindern wieder zurückzuholen und diese an der Finanzierung vor allem der teuren Heimkosten zu beteiligen. Dabei kann nicht nur auf das Einkommen der Kinder zurückgegriffen werden, sondern abzüglich bestimmter Schonwerte auch auf deren Vermögen. So kann das Sozialamt verlangen, dass Kinder ein Ferienhaus oder auch ein unbebautes Grundstück verkaufen. Sicher geschützt ist hingegen das selbst genutzte Familienheim. Unterhaltspflichtig sind nur die Kinder des Berechtigten. Schwiegerkinder sind davon nicht betroffen (BGH, Urteil vom 14.01.2004, Az. XII ZR 69/01). Aber das ist dem Grunde nach nicht begrenzt auf die eigenen Eltern: Grundsätzlich besteht nach dem Gesetz auch eine Unterhaltspflicht der Enkel gegenüber ihren Großeltern. Weil die näheren Verwandten gemäß § 1606 Abs. 2 BGB vor den entfernteren Verwandten haften, müssen Enkelkinder für den Unterhalt der Großeltern aber nur dann zahlen, wenn deren Kinder selbst nicht verpflichtet sind, weil ihr Einkommen und Vermögen zu gering sind.

»Ein im Pflegeheim untergebrachter Elternteil hat Anspruch auf Unterhalt in Höhe der notwendigen Heimkosten zuzüglich eines Barbetrags für die Bedürfnisse des täglichen Lebens (BGH, Urteil vom 19.02.2003, Az. XII ZR 67/00). Letzterer beläuft sich nach § 27b Abs. 2 S. 2 SGB XII derzeit auf mindestens 107,73 Euro im Monat. Die Summe soll die Aufwendungen für Körper- und Kleiderpflege, Zeitschriften, Schreibmaterial und den sonstigen Bedarf des täglichen Lebens decken. Häufig geht der Sozialhilfeträger zunächst in Vorleistung und holt sich das Geld dann von den Kindern zurück. Die zuständige kommunale Behörde macht laut § 94 SGB XII den Anspruch des Heimbewohners seinen Kindern gegenüber geltend und hat auch das Recht, von diesen Auskunft über ihre Einkommens- und Vermögensverhältnisse zu verlangen«, so Britta Beate Schön in ihrem Beitrag Unterhalt von Kindern für ihre Eltern. In einem ersten Schritt wird das bereinigte Nettoeinkommen der Kinder berechnet und davon dann der Selbstbehalt abgezogen nach Maßgabe der Düsseldorfer Tabelle. »Dem Unterhaltspflichtigen steht seit dem 1. Januar 2015 ein Selbstbehalt von 1.800 Euro und für den Ehepartner von 1.440 Euro pro Monat zu. Der Familienselbstbehalt beläuft sich damit derzeit monatlich auf 3.240 Euro. Hinzu kommen Freibeträge für eigene Kinder, die sich ebenfalls nach der Düsseldorfer Tabelle richten.« Und dann kommt die entscheidende Vorschrift: »Tatsächlich an Unterhalt zahlen müssen Kinder von diesem bereinigten und um den Selbstbehalt verminderten Nettoeinkommen die Hälfte.« Beispiel: »Bei einem bereinigten Nettoeinkommen von 2.000 Euro und einem Selbstbehalt von 1.800 Euro ergibt sich ein Unterhaltsanspruch in Höhe von 50 Prozent von 200 Euro, also 100 Euro im Monat.«

Kathrin Gotthold befürchtet in ihrem Artikel eine „Welle von Pflegeverweigerern“ auf die deutschen Gerichte zurollen. Dabei ist eine grundsätzliche Verweigerung des Elternunterhalts nach der bereits vorliegenden Rechtsprechung nur auf wenige, sehr eng abgegrenzte Fallkonstellationen beschränkt. Dazu Britta Beate Schön in ihrem Beitrag: »Elternunterhalt kann nur durch schwere Verfehlungen gegen das Kind nach § 1611 BGB verwirkt werden. Das ist jedoch auf Ausnahmefälle beschränkt (BGH, Urteil vom 15.09.2010, Az. XII ZR 148/09). Eine schwere Verfehlung liegt selbst dann nicht vor, wenn der Vater den Kontakt zu seinem Kind seit 40 Jahren abgebrochen hat und ihn durch Testament bis auf den gesetzlichen Pflichtteil enterbt hat (BGH, Urteil vom 12.02.2014, Az. XII ZB 607/12). Das Kind musste trotzdem zahlen.«

Wenn man sich vor Augen führt, in welchem Ausmaß in den vor uns liegenden Jahren die Zahl der Pflegebedürftigen ansteigen wird und wie viele Menschen darunter sein werden, bei denen die Lücke zwischen dem, was sie aus der eigenen Rente, geringem bis gar nicht vorhandenen Vermögen und den Leistungen aus der Pflegeversicherung zur Abdeckung der Pflegekosten beitragen könnten, und den erwartbar weiter stark ansteigenden Pflegekosten erheblich sein wird, dann muss man keine Studie machen, um zu erkennen, dass die Inanspruchnahme der Kinder über den Elternunterhalt erheblich an Bedeutung gewinnen wird. Und damit zwangsläufig auch die Konfliktintensität, die hier grundsätzlich begründet liegt. Wenn es auch – wie bereits dargelegt – nur sehr wenige Möglichkeiten gibt, sich dem Elternunterhalt zu entziehen, werden dennoch die Gerichtsverfahren deutlich zunehmen, da die Betroffenen mit den Sozialämtern über die konkrete Festlegung der Unterhaltsverpflichtung streiten werden. Dafür werden alleine die vielen Rechtsanwälte sorgen, die sich auf dieses Themenfeld bereit spezialisiert haben bzw. das tun werden. Allerdings gibt es auch Möglichkeiten, wenn man denn zahlen muss, den Staat an den dann zu übernehmenden Pflegekosten zu beteiligen, in dem man diese steuerlich geltend macht (vgl. hierzu den Beitrag So beteiligen Sie den Staat an den Pflegekosten von Barbara Brandstetter).

Darüber hinaus ist das Thema von einer grundsätzlichen sozialpolitischen Bedeutung, zeigt sich an dieser Stelle doch erneut, was es bedeutet, dass die Pflegeversicherung eine Teilkaskoversicherung ist, also eben gerade nicht die gesamten Kosten der Pflegebedürftigkeit, sondern diese nur anteilig abdeckt.

Die scheinbar einfachste Möglichkeit des Umgangs mit dem erwartbar ansteigenden Problemdruck wäre eine Dynamisierung der Leistungen aus der beitragsfinanzierten Pflegeversicherung an die Entwicklung der Pflegekosten, vor allem der Heimkosten. Eine solche Regelung ist nicht nur aus Gründen der Budgetbegrenzung relativ unwahrscheinlich. Sie würde auch zu nicht-trivialen Verteilungseffekten führen, denn von einer Anhebung der Leistungen der Pflegeversicherung würden eben auch und gerade diejenigen profitieren, die über höhere Einkommen und Vermögen verfügen, die sie dann nicht mehr zur Gegenfinanzierung der Pflegekosten einbringen müssten.
Wieder einmal zeigt sich an diesem Beispiel die gleichsam doppelte Bedeutung der Kinder: Zum einen stellen sie die Beitragszahler in der umlagefinanzierten Pflegeversicherung und sorgen damit auch für die Aufbringung der Mittel für die Kinderlosen. Und dann werden sie im Bedarfsfall und bei Erfüllung der Voraussetzungen auch noch ergänzend zum Unterhalt der eigenen Eltern in Anspruch genommen.

Abbildung: Verband der Privaten Krankenversicherung (PKV): Lücken der Pflegepflichtversicherung (25.04.2015)

Aus der Hauptstadt. Der Hauptstadt der Wohnungsnot. Von Jobcentern, die Gentrifizierung fördern und von einer „Ökonomisierung des Hilfesystems“

Es geht um Berlin und um eine Fallstudie aus der Hauptstadt der Wohnungsnot. Mit fast 10.000 Räumungsklagen pro Jahr sei Berlin die Hauptstadt der Wohnungsnotlagen, kann man einer neuen Untersuchung entnehmen. Zwangsräumungen und die Krise des Hilfesystems, so ist die Studie von Andrej Holm, Laura Berner und Inga Jensen betitelt worden. Die Arbeit untersucht die wohnungswirtschaftlichen Kontexte von Zwangsräumungen und die Funktionsweise des institutionellen Hilfesystems in Berlin. Sie eröffnet einen umfassenden Einblick in die Berliner Situation von Zwangsräumungen und erzwungenen Umzügen. Eine bedeutsame Rolle bei der Arbeit der Stadtsoziologen spielt der Begriff der „Gentrifizierung“. »Der Begriff Gentrifizierung wurde in den 1960er Jahren von der britischen Soziologin Ruth Glass geprägt, die Veränderungen im Londoner Stadtteil Islington untersuchte. Abgeleitet vom englischen Ausdruck „gentry“ (= niederer Adel) wird er seither zur Charakterisierung von Veränderungsprozessen in Stadtvierteln verwendet und beschreibt den Wechsel von einer statusniedrigeren zu einer statushöheren (finanzkräftigeren) Bewohnerschaft, der oft mit einer baulichen Aufwertung, Veränderungen der Eigentümerstruktur und steigenden Mietpreisen einhergeht … Im Zusammenhang mit dem Aufwertungsprozess erfolgt oft die Verdrängung sowohl der alteingesessenen, gering verdienenden Bevölkerung als auch von langansässigen Geschäften, die dem Zuzug der neuen kaufkräftigeren Bevölkerung und deren entsprechend veränderten Nachfrage weichen müssen«, so das Deutsche Institut für Urbanistik (DIFU) in dem Beitrag Was ist eigentlich Gentrifizierung?

In diesem Zusammenhang wird es dann auch verständlich, warum in der Berichterstattung von „schweren Vorwürfen“ gesprochen wird, die von den Wissenschaftlern erhoben werden: »Es sind schwere Vorwürfe, die ein Team von Berliner Soziologen gegen die Jobcenter erhebt: Nach ihren Forschungen gehören die Jobcenter zu den „Motoren von Verdrängung und Zwangsräumung“. Und die Wissenschaftler haben noch einen zweiten Aktivisten der Gentrifizierung ausgemacht«, kann man dem Beitrag Studie: Jobcenter beschleunigen Gentrifizierung entnehmen. Was nun haben die Jobcenter damit zu tun?

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