Ein Scheitern mit klarer und frühzeitiger Ansage: Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen. Und nicht wenige Integrationskursteilnehmer sind auf der Flucht

In wenigen Tagen werden sie stattfinden, die Bundestagswahlen 2017. Und „die“ Flüchtlinge werden ihre Spuren hinterlassen – bei den einen, die ihre generelle und Ablehnung in Stimmen für die AfD verwandeln werden, bei vielen anderen in Form eines schwer fassbaren, gestaltlosen, aber wirkkräftigen Gefühls, dass da was „aus dem Ruder“ gelaufen ist. Und natürlich gibt es auch die anderen, die sich engagiert haben und die, die sich noch engagieren. Die haben es aber seit Monaten schwer, ist doch insgesamt der Pegel der Verunsicherung und der Zweifel in diesem Land angestiegen. Dass das der Bundeskanzlerin nicht vollends um die Ohren fliegt, verdankt sich zu großen Teilen des Rückgangs der Flüchtlingszahlen in den vergangenen Monaten (und einer weit verbreiteten Nicht-Berichterstattung über das Themen in vielen Medien, nachdem die in der Anfangsphase gleichsam nur um dieses eine Thema herumgeeiert sind. Nicht, weil es keine geflüchteten Menschen mehr gibt, sondern die Asyl- und Schutzsuchenden haben es deutlich schwerer, bis nach Deutschland vorzudringen. Aber man sollte sich keinen Illusionen hingeben – einige schaffen das dann doch noch jeden Tag, denn die Schleuser haben ihre Routen umgestellt und auf Restriktionen an der einen Stelle durch entsprechende Ausweichmanöver reagiert.

Und zuweilen kommt das dann an die Oberfläche in einer Form, die sicherlich auch Gutmeinende irritiert, um das mal vorsichtig auszudrücken. Ein Beispiel aus diesen Tagen – das sich eignet, als Steilvorlage für die AfD zu wirken:

»Am Samstag stoppte die Polizei auf der A12 nahe Frankfurt (Oder) an der polnischen Grenze einen Lastwagen mit türkischer Zulassung. Im Laderaum befanden sich 50 illegal eingereiste Menschen. Die Flüchtlinge, darunter 17 Kinder, hatten keine Pässe und stammten laut eigenen Angaben aus dem Irak. Der türkische Lkw-Fahrer und sein aus Syrien stammender mutmaßlicher Helfer wurden unter Schleuserverdacht festgenommen.«

Selbstverständlich wurde den Menschen sofort geholfen, sie wurden versorgt und in eine Erstaufnahmeeinrichtung gebracht.

Und nun das: »Jetzt berichtet der Leiter einer Erstaufnahmestelle in Eisenhüttenstadt, 48 der Migranten seien nicht mehr auffindbar. Bei einer Zimmerkontrolle seien nur ein Erwachsener und ein Minderjähriger angetroffen worden … Der Leiter der Zentralen Ausländerbehörde in Eisenhüttenstadt geht davon aus, dass die Menschen auf eigene Faust zu Verwandten und Bekannten in anderen Orten Deutschlands weiterreisen, um dort Asyl zu beantragen.«

Und damit nicht nicht genug: »Einer Überprüfung zufolge hatte ein Großteil der Migranten Wochen zuvor in Rumänien und Bulgarien Asylanträge gestellt. Laut Dublin-Abkommen, das die Migrationspolitik der EU regelt, sind diejenigen Länder für Asylanträge zuständig, in denen die Antragsteller erstmals registriert werden.«

Das wird sicher das Grundverständnis ganz vieler Menschen stören oder bis zur Weißglut treiben. Ein weiterer Fall eklatanten Staatsversagens, das man ja schon in der Vergangenheit beobachten müsste auf höchster Ebene. Das alles findet man in diesem Artikel: Flüchtlinge aus Lastwagen verschwinden aus Erstaufnahme.

Aber darum soll es in diesem Beitrag gar nicht gehen. Sondern um ein Mosaikstein aus dem, was man so Flüchtlingspolitik nennt und der sich bezieht auf die Beschäftigung der betroffenen Menschen. Gerade hier hätte nach allem, was wir seit langem aus der Forschung und vor allem aus der Praxis wissen, enorm investiert und darauf geachtet werden müssen. Arbeit ist sicher ein nicht zu unterschätzender Faktor für eine (nicht) gelingende Integration in unsere Gesellschaft. Und vereinfacht gesagt – je länger die Menschen auf Beschäftigung warten (müssen), desto schwieriger wird es werden, sie sukzessive in den Arbeitsmarkt integrieren zu können. Vgl. dazu beispielsweise diesen Artikel: Jung, geflüchtet, auf der Suche nach Arbeit, in dem auch die Hindernisse angesprochen werden, dass durch zu langsam mahlende behördliche Mühlen der eine oder andere auf dem Weg in eine Ausbildung oder Beschäftigung aufgehalten wird. Dazu gehört auch die oft beklagte Tatsache, dass immer noch zu viele Flüchtlinge keinen Sprach- und Integrationskurs absolvieren konnten. Nicht angesprochen, dazu später aber mehr wird auch die Kehrseite der Medaille, dass es auch Flüchtlinge gibt, die sich den Angeboten aus ganz unterschiedlichen Gründen entziehen.

Vor diesem Hintergrund wird sich der eine oder andere erinnern, dass es doch vor einiger Zeit einen auf den ersten Blick lobenswerten Vorstoß der Bundesarbeitsministerin gegeben hat, dass Flüchtlinge möglichst frühzeitig und gerade vor dem Hintergrund langer Verfahrensdauern in Beschäftigung gebracht werden sollen. Sie hatte sich dazu ein eigenes Programm ausgedacht – „Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen“ (FIM). Es handelt sich um Ein-Euro-Jobs, besser genauer: um 80-Cent-Jobs, also spezielle Arbeitsgelegenheiten.

Und nun muss man das hier zur Kenntnis nehmen: „Geht an Realität vorbei“: Städte- und Gemeindebund kritisiert Job-Programm für Flüchtlinge: »Der Deutsche Städte- und Gemeindebund hat das millionenschwere Arbeitsmarktprogramm „Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen“ (FIM) scharf kritisiert … Geschäftsführer Gerd Landsberg: „Das Arbeitsmarktprogramm geht in seiner jetzigen Form an der Realität und dem tatsächlichen Bedarf in den Kommunen vorbei.“ Die Grünen forderten das Bundesarbeitsministerium auf, das Programm schnellstmöglich zu beenden.«

Was ist das Problem? »Ursprünglich wollte Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) mit dem im August 2016 gestarteten Programm 100.000 Ein-Euro-Jobs für Flüchtlinge schaffen. 2016 wurden von den eingeplanten Mitteln in Höhe von 75 Millionen Euro aber bislang nur rund 255 000 Euro abgerechnet. Für 2017 sind 200 Millionen Euro vorgesehen, von denen bis Ende Juli erst rund zehn Millionen Euro abgerufen wurden. Flüchtlinge sollten mit Jobs in und außerhalb von Aufnahmeeinrichtungen in den Kommunen zum Gemeinwohl beitragen, beispielsweise Hilfstätigkeiten wie Putzen, Kochen, Gärtnern, Hausmeisterhilfen übernehmen und dafür 80 Cent pro Stunde bekommen. Der Bund sollte den Kommunen das Geld erstatten.«

Von der anderen Seite wird gegengehalten: »Das Bundesarbeitsministerium verteidigte das Programm. Wie ein Sprecher mitteilte, sei es „erfolgreich angelaufen“: Ende Juli 2017 seien gut 30.000 Plätze für FIM beantragt und hiervon rund 27.000 bewilligt worden. Allerdings benötige jedes Arbeitsmarktprogramm zu Beginn eine gewisse Anlaufzeit, so der Sprecher.«

Aber: ‪Viele Kommunen hatten FIM-Stellen angemeldet, aber oftmals nicht besetzen können. Und wahrlich – die Zahlen sind ernüchternd:

»Beispielsweise wurden in Hannover von 101 bewilligten Stellen nur 25 besetzt, in Osnabrück wurden von 67 Stellen 0 besetzt. In der Hansestadt Hamburg wurden bisher weder Plätze angemeldet noch besetzt.«

Die Grünen haben auf diese Befunde reagiert und die zu ziehende politische Konsequenz so formuliert:

Für die Grünen ist das Programm gescheitert und sollte nicht wie vom BMAS angedacht bis 2020 weiterlaufen (ab 2018 mit 60 Millionen Euro Budget). „Dort, wo einzelne Plätze geschaffen wurden, sollten sie unter der Regie der Kommunen weitergeführt werden“, sagte Brigitte Pothmer, arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Grünen. Vor Einführung der FIM habe es längst die Möglichkeit gegeben, in den Kommunen Arbeitsgelegenheiten für Asylbewerber anzubieten. „Das Programm des BMAS ist daher überflüssig und hat lediglich teure Doppelstrukturen geschaffen.“

Aber wie konnte es zu diesem desaströsen Ergebnis kommen? „Viele zu uns gekommene Flüchtlinge haben Interesse an Beschäftigungen, bei denen sie ein höheres Einkommen erzielen, als es bei den Ein-Euro-Jobs der Fall ist“, wird Gerd Landsberg vom Städte- und Gemeindebund zitiert.

In der Region Osnabrück wurde einmal genauer hingeschaut – denn auch  in Stadt und Landkreis Osnabrück sollten Ein-Euro-Jobs für Asylbewerber geschaffen werden. Doch von 67 bewilligten Plätzen wurde bisher keiner mit Flüchtlingen besetzt. Herausgekommen ist dieser Bericht: Warum Integrationsmaßnahmen scheitern: Ein-Euro-Jobs für Flüchtlinge in der Region ein Riesenflop.
Bislang 67 Plätze wurden angemeldet und auch genehmigt, in Osnabrück 53 Plätze für Arbeiten wie Putzen, Reparieren, Instandsetzen, Gärtnern, Renovieren in den Flüchtlingsunterkünften. Im Landkreis sollten 14 Plätze bei gemeinnützigen Einrichtungen, in Kliniken, der Tagespflege sowie in Vereinen besetzt werden. Bisher wurde kein einziger der sogenannten Ein-Euro-Jobs weder besetzt noch abgerechnet.

Dabei standen dem Kreisgebiet im letzten Jahr 200.000 Euro für die FIM-Maßnahmen vom Bund zur Verfügung, und dieses Jahr sind 500.000 Euro im Budget. Diese Gelder verfallen bei Nichtnutzung.

Wie also kommt es aus der kommunalen Sicht zu dem miesen Ergebnis. Beispiel Stadt Osnabrück:

»In Osnabrück könnten theoretisch 438 Flüchtlinge in FIMs arbeiten, doch laut Stadt fallen hundert Frauen von ihnen weg, weil die Arbeiten entweder Handwerkstätigkeiten und daher ungeeignet sind oder weil Putz- oder Kochtätigkeiten in den vor allem von Männern bewohnten Unterkünften zu Problemen führen könnten. Rund 200 weitere Personen befinden sich in Sprachkursen, und die hätten Vorrang.

Bleiben rund 138 übrig. Zudem würden die beschleunigten Asylverfahren dazu führen, dass es weniger Asylbewerber gebe, die man in FIMs stecken könnte.«

Und dann gibt es noch einen weiteren Hinweis:

»Wie der Landkreis mitteilte, mache die Aufwandsentschädigung von 80 Cent pro Stunde die FIM für den Kreis der infrage kommenden Personen uninteressant. „Viele Flüchtlinge wollen direkt ein Beschäftigungsverhältnis aufnehmen, um einen Verdienst zu generieren. Unmotivierte Teilnehmer wiederum sind für die Anbieter von FIM ein Grund, keine weiteren mehr anzubieten. Überdies ist in diesen Fällen auch der Verwaltungsaufwand hoch, wenn Leistungskürzungen wegen verweigerter Teilnahmen durchzusetzen sind“, sagt ein Landkreis-Sprecher. Auch die Stadt bestätigt, dass ein Großteil der potenziellen Bewerber aufgrund der geringen Bezahlung nicht motiviert sei.«

Und auch den folgenden Passus sollte man genau lesen – nicht wegen der angesprochenen Sanktionsfrage, sondern weil hier institutionelle Blockaden beschrieben werden, die es nicht gegen würde, wenn man wie schon vor längerem gefordert, die Betreuung und Zuständigkeit von Anfang an dem SGB II-System zugeschrieben hätte, in dem die meisten sowieso landen werden:

»Vom Sozialamt einer kreisangehörigen Stadt im Landkreis wurde ein Asylbewerber an eine Klinik vermittelt. Aufgrund der aus Sicht des Asylbewerbers geringen Aufwandsentschädigung von nur 80 Cent pro Stunde habe er die Maßnahme wieder aufgegeben, wie der Landkreis schildert. Nach Aufgabe der Tätigkeit erfolgte eine Anerkennung als Asylberechtigter und somit ein Wechsel zum Leistungsbereich Hartz IV. Sanktionen seien daher nicht mehr möglich gewesen. Zwei weitere Asylbewerber hatten Interesse an einer Arbeit bekundet. Auch hier erfolgte zwischenzeitlich eine Anerkennung als Asylberechtigte und somit ein Wechsel in den Leistungsbereich SGB II.«

Nun befinden wir uns im September 2017 und der eine oder andere Leser dieses Blogs wird sich fragen – ist das nicht alles schon seit längerem bekannt und auch vorhergesagt worden?

Richtig, so war das. Ein Blog ist eine Art Tagebuch, in dem man auch zurückblättern kann, um nachzuschauen, wie man etwas in der Vergangenheit eingeschätzt hat und was daraus geworden ist. Und zu den hier interessierenden „Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen“ findet man in diesem Blog mehrere Beiträge.

Bereits am 12. Juni 2016 wurde beispielsweise dieser Artikel veröffentlicht: „Nirwana-Arbeitsgelegenheiten“ zwischen Asylbewerberleistungsgesetz und SGB II. Eine dritte Dimension der „Ein-Euro-Jobs“ und die dann auch noch 20 Cent günstiger? Und der begann mit diesen einführenden Worten: »Immer wenn man denkt, noch kleinteiliger, gesetzestechnisch hypertrophierter und inhaltlich korinthenkackerhafter geht es nicht in der Sozialpolitik, wird man eines Besseren belehrt …  nun hat man sich die „Arbeitsgelegenheiten“ – umgangssprachlich als „Ein-Euro-Jobs“ bezeichnet – vorgenommen. Und offensichtlich ist man bestrebt, hinsichtlich des Komplexitätsgrades wie auch mit Blick auf die inhaltliche Fragwürdigkeit einen veritablen Quantensprung hinzulegen.«
Und dort findet man diese Einschätzung des damals geplanten Programms, die sich vor dem Hintergrund der aktuellen Medienberichte als ziemlich gute Prognose herausgestellt hat:

»Das grundlegende Problem der neuen, geplanten 100.000 „Bundes-AGH-Teilnehmer“ ist nun, dass die
a) für eine Klientel geplant werden, die es eigentlich nicht oder zumindest immer weniger geben wird und
b) dass mit der Durchführung nicht die Kommunen bzw. die Jobcenter (also die zuständigen Institutionen für die heute schon bestehenden AGHs) beauftragt werden sollen, sondern die Bundesagentur für Arbeit (BA) soll das machen.«

Das, was jetzt vor Ort in Form fehlender Teilnehmer beklagt wird, tauchte damals bereits auf:

»Und mit Blick auf die (potenziellen) Teilnehmer an diesen „Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen“: Es dürfen ausschließlich Asylantragsteller sein, aber unter Ausschluss derjenigen, die aus „sicheren Herkunftsstaaten“ kommen und derjenigen, die zur Ausreise aufgefordert sind. Das nun wiederum hat fast schon den Charakter eines Schildbürgerstreichs, denn diese Gruppe müsste nach allem, was angekündigt wurde und wird, immer kleiner werden, hat das BAMF doch die Devise ausgegeben, die Anträge immer schneller abzuarbeiten und zu bescheiden, so dass auch der Rechtskreiswechsel vom AsylbLG in das SGB II immer schneller erfolgen wird/müsste.
Man plant also Maßnahmen für eine Gruppe, die angeblich derzeit abgeschafft wird.«

Mein Fazit im vergangenen Jahr: »Unterm Strich werden hier eklatante Vermögensschäden seitens der öffentlichen Hand durch den enormen und sinnlosen Bürokratieschub produziert.« Sage also keiner, dass das Desaster nicht vorausgesehen wurde.

Und nur der Vollständigkeit halber sei auf die ersten Artikel in diesem Blog hingewiesen, in denen der ganze Ansatz mit den speziellen Arbeitsgelegenheiten als das skizziert wurden, was dann auch herausgekommen ist: Unsinn. Beispielsweise am 13. Februar 2016 (!) Die Bundesarbeitsministerin fordert „Ein-Euro-Jobs“ für Flüchtlinge. Aber welche? Und warum eigentlich sie? Fragen, die man stellen sollte. Dann schon genervter am 23. März 2016: Die Bundesarbeitsministerin macht es schon wieder: „Ein-Euro-Jobs“ für Flüchtlinge ankündigen, die noch nicht im Hartz IV-System sind. Was soll das? sowie am 24. Juni 2016 Kopfschütteln über 80-Cent-Jobs für Flüchtlinge. Was muss man denn noch mehr schreiben?

Und abschließend zu der in diesem Beitrag erwähnten politischen Forderung der Grünen, das Programm einzustellen – das ist eigentlich schon längst passiert, was man diesem Beitrag vom 17. April 2017 entnehmen kann: Die „Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen“ werden still beerdigt und in den klammen Jobcentern ein wenig materialisiert. Und auch sonst hakt es vorne und hinten.

Das alles sei hier nur deshalb aufgerufen, damit sich die Verantwortlichen nicht dadurch zu exkulpieren versuchen, man hatte ja eine gute Absicht und konnte doch nicht wissen, dass es nicht klappt mit dem Ansatz. Doch, konnte man, wenn man denn gewollt hätte. Aber wieder einmal gehen die Verantwortlichen schadlos aus dem Gefecht, dem sie sich verweigert haben.

Abschließend aber auch noch der Blick auf ein anderes, wenn nicht das zentrale Feld der Integrationspolitik: Die Sprach- und Integrationskurse. Auch von dort werden teilweise höchst bedenkliche Nachrichten übermittelt.

»Nur etwa die Hälfte der Flüchtlinge, die an einem Integrationskurs des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf) teilnehmen, schließen diesen auch erfolgreich ab« – wobei Thomas Öchsner in seinem Artikel Sprachkurse zur Integration werden häufig abgebrochen zugleich darauf hinweist, dass die statistische Abbildung ungenau sei. »So werden beispielsweise auch Abmeldungen wegen Schwangerschaft, Krankheit oder eines Umzugs dort erfasst.« Aber auch: »Kritiker halten die Prüfungsbilanzen dennoch für aufgehübscht – speziell, was die Sprachkenntnisse betrifft.«

Zu den harten Zahlen kann man dem Artikel entnehmen:

»So nahmen nach Angaben des Bamf 2016 fast 340.000 Menschen erstmals an einem Integrationskurs teil. In diesem Zeitraum hätten aber nur „133.050 Teilnehmer den Integrationskurs erfolgreich absolviert“, teilte das Amt … mit. Große Unterschiede zwischen den Zahlen der Teilnehmer und der erfolgreichen Absolventen gab es auch schon 2014, als noch deutlich weniger Flüchtlinge nach Deutschland kamen. Hier berichtet das Bamf von mehr als 142.000 Teilnehmern und knapp 85.000 Absolventen mit Abschluss.«

Wie kann es zu diesen Diskrepanzen kommen? Öchsner zitiert in seinem Artikel Christoph Schroeder, der den Arbeitsbereich Deutsch als Zweitsprache an der Universität Potsdam leitet und der bei aller Ungenauigkeit der statistischen „Nicht-)Erfassung zu dieser Bewertung kommt:

»Grob geschätzt, so der Universitätsprofessor, „dürfte aber etwa die Hälfte der Teilnehmer zum Sprachtest erst gar nicht antreten. Hier dürfen die Bundesregierung und das Bundesamt nicht länger wegschauen“, sagt Schroeder, der Mitglied im Rat für Migration ist.«

Und er legt den Finger auf eine weitere Wunde, die sich bei dem, was bei den Kursen rauskommt, auftut: »Von denjenigen, die am Sprachtest zum Kursende teilnehmen, schafften 2016 laut Bamf 35 Prozent nur das Sprachniveau A2. 56 Prozent schlossen mit dem eigentlich angestrebten höheren Level B1 ab.«

Fazit: »Schroeder hält die Prüfungsbilanzen mit Erfolgsquoten von gut 90 Prozent deshalb für „statistisch aufgehübscht“ – nicht nur, weil ein großer Teil der Kursteilnehmer zur Prüfung erst gar nicht angetreten sei. Er weist daraufhin, dass im Aufenthaltsgesetz als Maßstab das Sprachniveau B1 verwendet wird. Nur wer das erreiche, hätte ausreichende deutsche Sprachkenntnisse.«

Für Christoph Schroeder sind die Kurse „bislang leider wirklich kein Erfolgsmodell“. Eine mehr als ernüchternde Bilanz, wenn man um die zentrale Bedeutung ausreichender Sprachkenntnisse für eine irgendwann einmal gelingende Integration weiß. Hier brauchen wir offene und an der Wirklichkeit orientierte Diskussionen, bei denen auch die Flüchtlinge selbst nicht immer nur als Objekte des Handelns auftauchen, sondern auch deren Bereitschaft angesprochen werden muss, was für die Integration zu tun. Nicht immer ist irgendein abstraktes System schuld, das etwas nicht so funktioniert, wie es sein sollte. Wenn beispielsweise Frauen zurückgehalten werden oder sich selbst verweigern, an den Kursen teilzunehmen (was immer wieder vor Ort berichtet wird), dann muss darüber offen gestritten werden, ob man das so laufen lassen will.

Jetzt doch morgens jagen und abends Viehzucht betreiben? Die Debatte über ein bedingungslose Grundeinkommen 150 Jahre nach der Zangengeburt des ersten Bandes des „Kapital“

Gerade in diesen Tagen geht ein Karl Marx-Rauschen durch die Medien, wie so oft angeregt durch ein Jubiläum: Das „Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel“ meldet am 14.09.1867 das Erscheinen des „Kapitals“ in 1.000 Exemplaren.

Der Deutschlandfunk hat im Vorfeld eine sechsteilige Serie mit ganz unterschiedlichen Autoren über „Das Kapital“ ausgestrahlt, mit tieferen Einsichten und Meinungen zu diesem historischen Werk. Bezeichnend für diese Tage ist auch so eine Diskussionssendung des SWR: Der Mehrwert von „Das Kapital“: Wie aktuell sind die Thesen von Karl Marx?

Auch die Wirtschaftsblätter lassen sich da nicht lumpen: 800 Seiten, die die Welt veränderten, so hat Nikolaus Piper seinen Artikel überschrieben. Der Philosoph Christoph Henning meldet sich in der Neuen Zürcher Zeitung mit diesem Beitrag zu Wort: «Das Kapital» ist ein Klassiker mit trauriger Aktualität. Und selbst in der WirtschaftsWoche wird man mit so einer den einen oder anderen Leser dieser Zeitschrift sicher irritierenden Headline:  Leute, lest Karl Marx! So ist eine „Hommage“ von Dieter Schnaas überschrieben: »Als Prophet ein Versager, als Soziologe ein Riese«, so lautet die Kurzformel seines Blicks auf den Mann aus Trier. Als Prophet ein Versager? Das mag so sein, wenn man sich den Gang der Dinge anschaut, aber der eine oder andere würde zum Ausdruck bringen, dass das doch sehr schade wäre, wenn man sich an so eine Ausmalung der ferneren Zukunft erinnert: Die Gesellschaft werde es dem einzelnen Menschen ermöglichen, „heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, mittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirte oder Kritiker zu werden“.

Zuweilen ist es interessant, sich das Originalzitat genauer anzuschauen, in diesem Fall findet man einen interessanten Hinweis, der erschließen kann, warum der alte Marx hier im Kontext der Debatte über ein bedingungsloses Grundeinkommen angeführt wird:

»Sowie nämlich die Arbeit verteilt zu werden anfängt, hat Jeder einen bestimmten ausschließlichen Kreis der Tätigkeit, der ihm aufgedrängt wird, aus dem er nicht heraus kann; er ist Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker und muss es bleiben, wenn er nicht die Mittel zum Leben verlieren will – während in der kommunistischen Gesellschaft, wo Jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden.« So zu finden in Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, S. 33, 1846/1932

Er spricht hier neben der Vision eines anderen Lebens den Tatbestand der auch heute gegebenen gesellschaftlichen Arbeitsteilung an, der zu Tätigkeiten führt, die man ausschließlich ausübt bzw. ausüben muss, in die man teilweise hineingedrängt wurde und aus die man auch nicht mehr herauskommt, weil man auf den Verkauf der eigenen Arbeitskraft angewiesen ist, weil man eben nicht über andere Quellen des Einkommens verfügt, die einem etwas anderes überhaupt ermöglichen können.

Und die Ermöglichung eines solchen Lebens ist sicher eines der attraktivsten Argumente der Apologeten eines bedingungslosen Grundeinkommens, in dem darüber die Menschen aus dem unmittelbaren Zwang, die eigene Arbeitskraft und das nicht selten bedingungslos zu Markte tragen zu müssen, herausgenommen werden sollen.

Selbst wenn man das aus welchen Gründen auch immer für idealistische und weltfremde Spinnerei hält – hier liegt sicher eine visionäre Kraftquelle für das im übrigen überaus heterogene Lager der Befürworter eines bedingungslosen Grundeinkommens (vgl. auch schon die Beiträge Zwischen Heilserwartung und sozialpolitischen Widerständen. Einige Anmerkungen zum bedingungslosen Grundeinkommen vom 14. Februar 2017 sowie Mit dem Herz dafür, aber mit dem Kopf dagegen? Oder mit dem Verstand dafür, aber ohne Herz? Das „bedingungslose Grundeinkommen“ ist (nicht) krachend gescheitert vom 7. Juni 2016).

Das Thema wird in der aktuellen Medienberichterstattung immer wieder aufgegriffen. Die Sendereihe ZDFzoom hat das in einem neuen Beitrag zu verarbeiteten versucht: Grundeinkommen für alle – Fair oder ungerecht? »Brauchen wir das „Bedingungslose Grundeinkommen“ für alle? Wäre das fair oder ungerecht? Würde es die Menschen anspornen zu arbeiten oder eher dafür sorgen, in der Hängematte zu bleiben?« So die Fragestellung der Filmemacher.

»Das deutsche Sozialsystem ist seit der Einführung der Hartz-IV-Reformen 2005 zu einem gigantischen Verwaltungs- und Kontrollapparat geworden, der große Summen verschlingt. Demografischer Wandel und die zunehmende Automatisierung und Digitalisierung der Arbeitswelt bringen neue Herausforderungen mit sich. Experten bezweifeln, dass der Sozialstaat in seiner jetzigen Form den Belastungen der Zukunft gewachsen ist. Manche halten das „Bedingungslose Grundeinkommen“ (BGE) für die Lösung.

Die „ZDFzoom“ Reporter Ulrike Brödermann und Halim Hosny sprechen mit Befürwortern und Gegnern aus der Wissenschaft und zeigen Menschen in Deutschland, die probeweise ein „Bedingungsloses Grundeinkommen“ beziehen und wie sich ihr Leben seitdem verändert hat. Sie besuchen auch Familien, die von Hartz IV leben. Der alleinerziehende Vater Perry, der mit seinen drei Kindern in Leipzig lebt, erzählt von seinen Erfahrungen bei der Arbeitssuche, mit dem Jobcenter und dem bürokratischen Hürdenlauf.

Die Autoren fahren nach Finnland, wo in einer Testphase 2000 Menschen ein „Bedingungsloses Grundeinkommen“ bekommen und sprechen mit den Beziehern und der Regierung über erste Erfahrungen.

Für die einen wäre die Einführung eines „Bedingungslosen Grundeinkommens“ die Antwort auf die Krise des deutschen Sozialstaats, für die anderen der Anfang vom Ende der Solidargemeinschaft.«
Selbst die BILD-Zeitung hat das Thema in einem längeren Artikel – Wie gerecht ist das Grundeinkommen?–  über die ZDF-Doku aufgegriffen.

Während die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens bei einer bunten Gruppe, die den heutigen Zwängen schlecht bezahlter, unsicherer Erwerbsarbeit (gerade im Bereich der sogenannten Kreativwirtschaft) ausgeliefert ist oder die unter dem teilweise kafkaesk daherkommenden, von vielen als entwürdigend empfundenen Regime der eben nicht-bedingungslosen Grundsicherung mit ihren Sanktionen und ihrem auf Dauer gestellten Mangelstatus zu leiden haben, auf große Sympathie stößt, weil man sich davon eine im wahrsten Sinne des Wortes Befreiung verspricht, wird ein gewichtiger Teil der aktuelleren Debatte über das bedingungslose Grundeinkommen aus einer spezifisch ökonomischen Perspektive geführt – manche würde das auch als eine ökonomistische Verengung charakterisieren. Wie dem auch sei, diese „ökonomische Aufladung“ des Themas hat dem bedingungslosen Grundeinkommen (scheinbar) neue Unterstützer von großer gesellschaftlicher Bedeutung erschlossen – denn immer öfter wird berichtet, dass sich namhafte Vertreter der Kapitalseite, neuerdings besonders prominent Vertreter der Tech-Unternehmen aus dem Silicon Valley ein solches Instrument vorstellen können, ja sogar für absolut notwendig halten angesichts der beobachtbaren und erwartbaren gesellschaftlichen Entwicklung.

Das überall herumgetragene Stichwort dazu lautet: Digitalisierung. Das, was man damit verbindet und zu verbinden scheint, führe unausweichlich dazu, dass man sich dem Ansatz eines Grundeinkommens nicht verweigern kann.

Als ein Beispiel von vielen aus dieser Diskussionslinie sei auf den Artikel Ist das Grundeinkommen die Antwort auf den digitalen Arbeitsmarkt? von Philipp Depiereux verwiesen. Das immer mitlaufende Motiv bei dieser Diskussionslinie ist die (übrigens gerade unter Ökonomen heftig umstrittene) These, dass „uns“ diesmal aber wirklich ein nennenswerter Anteil der (Erwerbs-)Arbeit ausgehen wird, mithin die traditionelle Form der Existenzsicherung für die große Mehrheit der Menschen, die auf den marktüblichen Verkauf ihrer Arbeitskraft existenziell angewiesen sind, wegzubrechen droht.

Eine Möglichkeit, diese Unwucht abzufangen, sei das bedingungslose Grundeinkommen – »ein sicherlich überlegenswerter Lösungsansatz, mit dem wir uns in Deutschland intensiv auseinandersetzen sollten«, so der Verfasser des Artikels.

Angesichts neuerer Veröffentlichungen zu diesem Thema hier nur abschließend der Hinweis auf eine zentrale Frage, die immer wieder nicht nur von den Gegnern, sondern auch von grundsätzlich mit dem Ansatz sympathisierenden Diskussionsteilnehmern aufgerufen wird. Wie soll das finanziert werden? Kann das überhaupt gelingen?

Da stößt man dann beispielsweise auf so einen Beitrag: Bedingungsloses Grundeinkommen: US-Wirtschaft könnte deutlich wachsen, versehen mit dem Hinweis: Überraschung.

»In einer Studie des Roosevelt Institutes kommt ein Team von Wirtschaftswissenschaftlern zum Schluss, dass die Implementierung eines bedingungslosen Grundeinkommens für alle erwachsenen Amerikaner in Höhe von 1.000 Dollar monatlich zu einem extra Wirtschaftswachstum von 12,56 Prozent innerhalb der nächsten acht Jahre führen könnte.«

Offensichtlich handelt es sich um diese Studie: Michalis Nikiforos, Marshall Steinbaum and Gennaro Zezza (2017): Modeling the Macroenomic Effects of a Universal Basic Income, Roosevelt Institute, August 2017

In dem Artikel kommt dann aber ein weiterer Hinweis, den man nicht überlesen sollte angesichts der sehr positiv daherkommenden Botschaft der ersten Zeilen: »Vorausgesetzt es wird durch eine Erhöhung der Staatsschulden finanziert.«

»Denn wenn das gleiche Sozialprogramm durch eine Erhöhung von umverteilenden Steuern finanziert wird, würde das Bruttoinlandsprodukt lediglich um zusätzlich 2,62 Prozent innerhalb von acht Jahren steigen, so die Studie. Jedoch würde es dann auch zu einem Abbau der US-Staatsschulden von 1,39 Prozent kommen. Beide Szenarien haben dabei einen positiven Einfluss auf die Arbeitslosigkeit.«

Wie kommen die zu so einem positiven Ergebnis? Letztendlich stützen sich die Ökonomen bei ihren Berechnungen auf das Konzept der „marginalen Konsumquote“. Danach werden Geringverdiener verglichen mit Besserverdienern mit einer höheren Wahrscheinlichkeit zusätzliches Einkommen ausgeben. Deshalb würde ein bedingungsloses Grundeinkommen zu einer Erhöhung der sich im Umlauf befindenden Geldmenge führen.

Auch aus Deutschland kann zu diesem Themenfeld eine neue Arbeit beigesteuert werden: Makroökonomische Effekte eines bedingungslosen Grundeinkommens, so ist der Beitrag von Thieß Petersen, der bei der Bertelsmann-Stiftung arbeitet, im „Wirtschaftsdienst“ (Heft 9/2017) überschrieben:

»Über das bedingungslose Grundeinkommen wird schon seit langem diskutiert. Zwar gibt es Modellversuche, aber in einer gesamten Volkswirtschaft wurde es bisher noch nicht eingeführt. Interessant ist, wie sich dieses Konzept auf die wichtigen gesamtwirtschaftlichen Faktoren wie den Lohn, den Arbeits- und Kapitaleinsatz, die Produktivität, die Inflation, das Wachstum und die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes auswirkt. Der Autor stellt Überlegungen zu den möglichen Zusammenhängen und Wirkungen an. Er kommt aber angesichts der Unsicherheiten und Gefahren zu dem Ergebnis, dass die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens ein großes ökonomisches Wagnis wäre«, so die einleitenden Anmerkungen der Redaktion.

Weitere Hinweise zur Argumentation von Petersen finden wir in diesem Blog-Beitrag: Bedingungsloses Grundeinkommen: Wie wirkt es auf die gesamte Volkswirtschaft? Petersen konzentriert sich bei seiner Analyse der gesamtwirtschaftlichen Effekte auf drei Aspekte dieses Einkommens, nämlich: seine Unbedingtheit, seine Höhe und seine Finanzierung. Und ist mit einem Haufen erwartbarer Unsicherheit konfrontiert, die vor allem aus nicht eindeutig vorrausehbaren Reaktionen von Bürgern und Unternehmen bezüglich ihres Arbeitsangebotes oder ihrer Arbeitsnachfrage resultiert.

Vor diesem Hintergrund überrascht es dann nicht, wenn Petersen zu dem Ergebnis kommt, »bei der Einschätzung der Effekte (sei) eine Menge Spekulation im Spiel. „Angesichts dieser großen Unsicherheit über die Reaktion des Arbeits- und Kapitalangebots sind keine eindeutigen Aussagen über die makroökonomischen Konsequenzen eines BGE möglich“, schreibt Petersen. Problematisch seien dabei insbesondere die Verhaltensänderungen der privaten Haushalte und Unternehmen. „Deren Reaktionen ’sind bei großen strukturellen Veränderungen schwer vorauszusehen’“. Von daher “ wäre die flächendeckende Einführung eines BGE ein großes ökonomisches Wagnis.“
Irgendwie unbefriedigend, werden viele an dieser Stelle denken und das man das auch ohne Berechnungen hätte festhalten können.

In Vorahnung dieser Frustration wird dann noch dieser Happen in die Menge geworfen:

»Ließe sich das ökonomische Risiko reduzieren? Man könnte ein BGE auf niedrigem Niveau einführen, was aber bedeutet, dass „die wesentlichen Vorteile eines BGE nicht zum Tragen“ kämen. Oder man wartet, bis die Kapitalintensität der Produktion hinreichend hoch ist.«

Es sieht so aus, dass wird uns noch länger gedulden müssen, bis »die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun.« Das wäre ja auch Kommunismus – und ob Apple, Google & Co. das wirklich anstreben?

Aber gut, wenn das Thema weiter in der öffentlichen und wissenschaftlichen Debatte vorangetrieben wird. Denn auch „im Kleinen“ (in dem allerdings bei uns mehr als sechs Millionen Menschen von den dort ausgedeichten – oder eben nicht – Leistungen abhängig sind) stellt sich ganz handfest eine Frage, die den Kernbereich des bedingungslosen Grundeinkommens berührt: Gemeint ist hier neben der Frage nach der Höhe der Grundsicherung vor allem das noch in diesem Jahr zur Entscheidung beim Bundesverfassungsgericht anstehende Verfahren der Sanktionierung von Hartz IV-Empfängern, über das derzeit das an sich unbedingte Grundrecht der Gewährung eines Existenzminimums bis auf Null abgesenkt werden kann. Die Grundfrage auch bei den höchst umstrittenen Sanktionen im SGB II ist die Frage nach der Nicht-Bedingungslosigkeit des gewährten Existenzminimums und dem Einwand, dass man ein eigentlich unbedingtes Grundrecht auf ein Existenzminimum nicht auch noch absenken darf. Wir werden sehen, wie Karlsruhe entscheidet in dieser Angelegenheit.

Aber die Vision eines „bedingungslosen Grundeinkommens“ reicht deutlich über diese Frage hinaus, deshalb die Verknüpfung mit der Vision von Karl Marx – denn hier geht es um die Ermöglichung eines ganz anderen Lebens, nicht „nur“ um die Frage einer aus finanziellen und disziplinarischen Motiven möglichst niedrig zu haltenden Grundsicherung, deren Inanspruchnahme dann auch noch mit zahlreichen, voraussetzungsvollen Restriktionen gespickt ist.

An dieser Scheidelinie ist auch eine große und nicht zu unterschätzende Gefahr zu identifizieren, gerade wenn man dem grundlegenden Ansatz eines bedingungslosen Grundeinkommens positiv gegenübersteht: Das am Ende eines wie immer widersprüchlichen und kontroversen politischen Prozesses eine Grundeinkommenslösung herauskommt, bei der man sich auf eine sehr niedriges bedingungsloses Grundeinkommen verständigt, das dann auch Hartz IV (und andere Leistungen?) ersetzt, zugleich aber die Kürzung höhenwertiger Sozialleistungen ermöglicht, und das alles immer begleitet von der Ansage, man gewähre ja eine „unkomplizierte“ Basissicherung. Der schon seit längerem beobachtbare Trend, die „da unten“ sich selbst zu überlassen, bekäme dann sogar noch eine „philosophisch“ aufgehübschte Legitimationsfolie verpasst.

Foto: © Stefan Sell

Die Krankenkassen auf dem wahren Schlachtfeld. Wo es um das ganz große Geld geht. Der „Morbi-RSA“ als höchst umstrittene Verteilungsformel im Gesundheitswesen

An solchen Meldungen aus einem Ministerium kurz vor einer Bundestagswahl merkt man die Absicht, frohe Kunde über die Bürger auszuschütten: »Krankenkassen haben nach Ansicht von Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) ausreichend Spielräume, um ihren Versicherten „hochwertige Leistungen bei attraktiven Beiträgen“ zu gewähren. Die Kassen haben im ersten Halbjahr einen Überschuss von 1,41 Milliarden Euro erzielt – im gleichen Vorjahreszeitraum sind es nur knapp 600 Millionen Euro gewesen«, so das Bundesgesundheitsministerium laut dem Artikel Kassen „surfen“ im Geld. Das die gute Beschäftigungslage den Kassen viel Geld ins Portemonnaie spült, mag für den einen oder anderen dann auch ein Erklärungsansatz sein für solche irritierende Meldungen: »6,8 Milliarden Euro: Diesen Schuldenberg schieben die gesetzlichen Krankenkassen vor sich her. Und die Politik schaut zu. 6,8 Milliarden Euro, für die alle Versicherten am Ende geradestehen.« So das Wirtschaftsmagazin Plusminus (ARD) in dem Beitrag Milliarden Schulden: Wer bei der Krankenkasse in der Kreide steht vom 6. September 2017. Wobei diese Beitragsschulden offensichtlich eine überaus bewegliche Größe sind, denn Timot Szent-Ivanyi berichtet in seinem Artikel Deutsche schulden den Krankenkassen mehr als sieben Milliarden Euro: »Im Sommer  haben sie erstmals die Marke von sieben Milliarden Euro überschritten. Ende Juli verzeichneten die 113 Kassen Rückstände von exakt 7,045 Milliarden Euro. Das ist fast eine Milliarde Euro mehr als noch am Jahresanfang.  In der abgelaufenen Wahlperiode hat sich der Schuldenstand damit  in etwa  verdreifacht.«

Nun sollte man meinen, die Kassen und ihre Verbände schlagen angesichts der horrenden Summe an ausstehenden Beitragseinnahmen Alarm und fordern von der Politik Abhilfe. Aber weit gefehlt. In dem Plusminus-Beitrag wird die Sprecherin des Spitzenverbandes der Krankenkassen, Ann Marini, dahingehend befragt, wer für diese Beitragsausfälle verantwortlich ist. Die erstaunliche Erkenntnis – man wisse es nicht wirklich: »Sie vermutet, es seien hauptsächlich die Selbstständigen.« Aber der enorme Anstieg? »Wir haben leider keine belastbaren Daten. Insofern müssen wir immer sagen: Wir vermuten.«

Sollte es vielleicht neben den mit der Beitragslast überforderten Selbständigen (vgl. dazu bereits den Beitrag Explodierende Beitragsschulden in der Krankenversicherung, Solo-Selbständige, die unterhalb des Mindesteinkommens jonglieren und warum Bismarck wirklich tot ist vom 11. Februar 2017) noch andere Ursachen geben für das Beitragsloch?

In dem Plusminus-Beitrag bekommen wir zumindest einen Hinweis, der zugleich anschlussfähig ist an das hier interessierende Thema mit dem Risikostrukturausgleich, denn auch der ist Teil der großen Geldverteilungsmaschinerie namens „Gesundheitsfonds“. Und um den geht es auch bei den Mitverursachern der Beitragsschulden:

»Die Betriebskrankenkassen „vermuten“ es seien die „obligatorisch Anschlussversicherten“. Der AOK Bundesverband nennt beispielhaft „Saisonarbeiter“ oder „ins Ausland unbekannt verzogene Personen“ … Die Erntehelfer, zumeist aus Osteuropa, arbeiten im Sommer und Herbst für wenige Wochen in Deutschland. Leiharbeiter helfen bei Amazon im Weihnachtsgeschäft aus. Für alle gilt: Sie bleiben obligatorisch in der gesetzlichen Krankenversicherung, auch wenn sie Deutschland längst wieder verlassen haben. Die Saisonarbeiter werden sogar mit dem Höchstbeitrag eingestuft. Zurück in ihrer Heimat zahlen sie selbstverständlich keine Beiträge in die Krankenversicherung. 2014 wurde die Gruppe der obligatorisch Anschlussversicherten per Gesetz eingeführt. Just seitdem explodieren die Schulden der Kassen.«

Dann wären die Schulden ja eine Art Luftbuchung, handelt es sich doch bei den Beitragsschuldnern um Karteileichen. Aber warum werden die nicht schnellstens bereinigt? Ganz einfach, weil sie nicht nur Auswirkungen haben auf die – nicht gezahlten – Beitragseinnahmen, sondern auch für die Zuwendungen aus dem Gesundheitsfonds. Offensichtlich haben wir es hier mit einem System zu tun. Man kann das so formulieren:

»Die Versicherten zahlen Beiträge an die gesetzlichen Krankenkassen. Diese leiten die Beiträge sofort weiter an den Gesundheitsfonds. Ein riesiges Konto, das jedes Jahr über 200 Milliarden Euro Versichertenbeiträge verwaltet. Aus diesem Topf wird den Kassen das Geld zugeteilt. Und da gilt: Je mehr Mitglieder eine Kasse hat, umso mehr bekommt sie aus dem Topf. Das bedeutet: Jede Karteileiche bringt der Kasse zusätzliches Geld.«

Und die Sprecherin des Krankenkassenverbandes wird mit diesen Worten zitiert – falls jemand auf die Frage kommen sollte, warum denn Kassen solche Karteileichen in Kauf nehmen: „Solange die Krankenkasse keine Information hat, dass derjenige, der bei ihr gemeldet ist, nicht mehr in Deutschland ist, also quasi nicht mehr existiert, ist sie verpflichtet diesen Menschen weiterzuführen“. Und das tun sie, weil sie es müssen: 2014 wurde die Gruppe der obligatorisch Anschlussversicherten per Gesetz eingeführt.

Das Fazit im Plusminus-Beirag: »Das Milliardenloch von 6,8 Milliarden Euro sind ausstehende Zahlungen von Selbständigen, die mit Höchstbeiträgen geschröpft werden und Schulden von Zwangsversicherten, die nur als Karteileichen existieren. Ein Irrsinn.«

Und wir können jetzt nahtlos weitermachen. Denn mit dem Gesundheitsfonds verknüpft ist der „morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich“, auch „Morbi-RSA“ genannt. Dieser wurde – ursprünglich als Weiterentwicklung des alten, seit 1995 geltenden Ausgleichssystems seit 2001 für 2007 geplant – im Jahr 2009 mit dem Gesundheitsfonds tatsächlich auch eingeführt.

»Die Mittel des Gesundheitsfonds sollen so an die Krankenkassen verteilt werden, dass sie da ankommen, wo sie zur Versorgung der Versicherten am dringendsten benötigt werden. Zunächst erhält jede Krankenkasse für jeden Versicherten eine Grundpauschale in Höhe der durchschnittlichen Pro-Kopf-Ausgaben in der GKV. Für eine Krankenkasse mit vielen alten und kranken Versicherten reicht dieser Betrag naturgemäß nicht aus, während eine Krankenkasse mit vielen jungen und gesunden Versicherten zuviel Geld erhielte. Daher wird diese Grundpauschale durch ein System von Zu- und Abschlägen angepasst. Neben den bisherigen Merkmalen des Risikostrukturausgleichs – Alter, Geschlecht und Bezug einer Erwerbsminderungsrente – soll dabei auch die anhand von 80 ausgewählten Krankheiten gemessene Krankheitslast der Krankenkassen berücksichtigt werden«, so das Bundesversicherungsamt in einer Darstellung des Risikostrukturausgleichs. Zu dem Mechanismus vgl. auch die Abbildung am Anfang dieses Beitrags.

Nun hört sich das mit dem Ausgleich der besonders hohen Ausgaben, die mit bestimmten Krankheiten verbunden sind, einfacher an als es dann in der Praxis ist. Am Anfang steht wie meistens eine gute Idee: Stellen wir uns eine vielleicht sogar kleine Krankenkasse vor, die zwei oder drei Versicherte hat, die wegen einer bestimmten Erkrankung monatlich Behandlungskosten verursachen, die im sechsstelligen Bereich liegen (können). Wenn die vereinfacht gesagt die gleiche Kopfpauschale für jeden Versicherten bekommen, wie andere Kassen auch, die aber nicht eine derart extremen Belastung auf der Kostenseite haben, dann ist das ein Problem. Das nun kann man tatsächlich ausgleichen durch eine Berücksichtigung dieser Fälle in einem Finanzausgleich zwischen den Kassen.

Man ahnt schon, wo das methodische Grundproblem liegt: Wenn man (lediglich) klar abgrenzbare Hochkosten-Fälle berücksichtigt, ist das nachvollziehbar und auch kaum manipulationsanfällig – denn eine relativ seltene, aber extrem kostenintensive Autoimmunerkrankung lässt sich gut abgrenzen.
Problematisch wird es dann, wenn man das Spektrum der berücksichtigungsfähigen Krankheiten seht weit aufmacht und die Frage der (Nicht-)Diagnose einem gewissen „Gestaltungsspielraum“ unterliegt. Dann werden Anreize in die Welt gesetzt, die man nutzen kann. Was offensichtlich, so die Kritiker, auch passiert (ist).

An dieser Stelle wird sich der eine oder andere daran erinnern, dass bereits im vergangenen Jahr aus den Reihen der Krankenkassen selbst der Finger auf die „Manipulationsvorwurfwunde“ gelegt wurde (vgl. zu der damaligen Berichterstattung den Beitrag Wenn der „mordbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich“ Anreize setzt, Patienten morbider zu machen als sie sind und denen das dann schmerzhaft auf die Füße fallen kann vom 7. November 2016):
Je kränker ein Patient auf dem Papier, desto mehr Geld erhält die Krankenkasse. Die gesetzlichen Kassen sollen deshalb Diagnosen manipuliert haben. Und das schlug im vergangenen Jahr so richtig große Wellen, vgl. dazu die Artikel Wettbewerb mit falschen Kranken oder Wie krank ist unser Gesundheitssystem? Für den Vorwurf gab es einen gewichtigen Zeugen der Anklage, berichtete die FAZ in dem Artikel „Krankenkassen verpulvern Geld für Drückerkolonnen“. Es geht um Jens Baas, dem Chef der Techniker Krankenkasse:

»Im Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung bezichtigte er seine eigene und andere gesetzliche Krankenkassen, aus diesem Grund sogar Diagnosen von Patienten zu manipulieren. Die Kassen versuchten die Ärzte dazu zu bringen, für die Patienten möglichst viele Diagnosen zu dokumentieren, sagte Baas. „Aus einem leichten Bluthochdruck wird ein schwerer. Aus einer depressiven Stimmung eine echte Depression, das bringt 1000 Euro mehr im Jahr pro Fall.“«

Die Krankenkassen haben im bestehenden System des Risikostrukturausgleichs einen Anreiz, dass möglichst viele Patienten als lukrative Chroniker eingestuft werden, schließlich bekommen sie dann besonders viel Geld aus dem Risikostrukturausgleich. Daher halten sie die Ärzte an, eine möglichst vollständige und präzise Diagnose zu stellen, entweder über Briefe oder indem sie ihnen Berater in die Praxis schicken. Und der Kassen-Chef hat sich ziemlich deutlich geäußert:

»Der Vorwurf des Techniker-Chefs Baas lautet …, dass die Kassen die Ärzte sogar dazu drängen, entweder einen Code für eine schwerwiegendere Krankheit zu vergeben oder für einen anderen Schweregrad – dass sie also bei der Leistungsabrechnung betrügen. Für die Ärzte macht das finanziell oft keinen Unterschied, für die Kassen aber schon. Die bezahlten „Prämien von zehn Euro je Fall für Ärzte, wenn sie den Patienten auf dem Papier kränker machen“, sagte Baas. „Sie bitten dabei um ,Optimierung‘ der Codierung. Manche Kassen besuchen die Ärzte dazu persönlich, manche rufen an.“ Besonders häufig sei das der Fall bei den Volkskrankheiten, also Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und auch psychischen Krankheiten.«

Auch das Bundesversicherungsamt, das für die Aufsicht aller bundesweit aktiven Kassen zuständig ist, hatte immer wieder auf Unregelmäßigkeiten hingewiesen. Mittlerweile ist auch der Gesetzgeber aktiv geworden. Inzwischen hat der Gesetzgeber mit Wirkung ab 11. April jede Form der Einflussnahme der Krankenkassen auf die Diagnosestellung gesetzlich verboten.

Auch die Forschung hat zwischenzeitlich Hinweise geliefert, dass das nicht aus der Luft gegriffen ist, wie Florian Staeck in seinem Artikel Forscher vermuten Manipulation aus dem Juni 2017 berichtet. Er bezieht sich auf diese Studie :

Sebastian Bauhoff, Lisa Fischer, Dirk Göpffarth and Amelie C. Wuppermann (2017): Plan Responses to Diagnosis-Based Payment: Evidence from Germany’s Morbidity-Based Risk Adjustment. CESifo Working Papers 65017, Munich, May 2017

Die Wissenschaftler konnten Daten von rund 1,2 Milliarden Diagnosen aus den Jahren 2008 bis 2013 untersuchen, die fast 44 Millionen Personen betrafen. »Den Daten zufolge ist der Anteil der validierten und damit ausgleichsfähigen Diagnosen im Zeitraum von 78 Prozent (2008) auf 83,7 Prozent (2013) gestiegen. Den Trend belegen die Wissenschaftler an den Beispielen akuter Myokardinfarkt und Schlaganfall. In den sechs Jahren sank die Prävalenz der Verdachtsdiagnosen, die der gesicherten Diagnosen nahm zu. „Unser Studiendesign lässt den Schluss zu, dass dies eine Folge der vermehrten Aufzeichnung dieser Diagnosen durch Ärzte ist und dass nicht etwa die Verbreitung dieser Krankheiten gestiegen ist“, kommentiert Wuppermann, die in München Ökonometrie lehrt.«

Und dann kommt dieser wichtige Passus:

»Augenfällig ist, dass dieser Effekt ab 2010 sichtbar wird: Ende 2008 ist die Liste mit den 80 finanziell besonders „wertvollen“ Erkrankungen im neuen Morbi-RSA bekannt geworden, anschließend schickten Kassen Heerscharen von „Beratern“ in die Praxen der Vertragsärzte. Brisant in der Studie ist, dass die Autoren bei den AOKen besonders starke Veränderungen im Kodierverhalten festgestellt haben.«

An dieser Stelle können wir zur aktuellen Berichterstattung überleiten, die zugleich verdeutlicht, mit welchen harten Bandagen hier gekämpft wird. Unter der Überschrift Vermögen der AOK wächst weiter hat Peter Thelen einen längeren Beitrag im Handelsblatt veröffentlicht. Er fährt schweres Geschütz auf: »Das Vermögen der AOK wächst, obwohl ihre Versicherten absolut weniger Beiträge als bei der Konkurrenz zahlen. Gründe liegen im Finanzausgleich der Krankenkassen – und an Befangenheit im Gesundheitssystem.«

Auch sein Ausgangspunkt sind die schwarzen Zahlen der Krankenkassen, von den am Anfang dieses Beitrags schon berichtet wurde – allerdings schaut er genauer hin:

»Vom bisherigen Gesamtüberschuss in Höhe von 1,4 Milliarden Euro verbuchten die Ortskrankenkassen allein 650 Millionen Euro – das sind 47 Prozent. Der Überschuss der Ortskrankenkassen je Mitglied lag mit 32 Euro deutlich über dem der Betriebskrankenkassen (13,80 Euro) und knapp ein Drittel über dem Überschuss der Ersatz- und Innungskrankenkassen (21 und 23 Euro). Dabei sind nur 37 Prozent der 55,8 Millionen Beitragszahler bei einer AOK versichert und zahlen absolut bei den Ortskrankenkassen deutlich geringere Zusatzbeiträge. Die Mitglieder der Ortskrankenkassen zahlten einen Zusatzbeitrag von durchschnittlich nur 118 Euro. Bei Betriebskrankenkassen mussten die Mitglieder im ersten Halbjahr durchschnittlich 137 Euro von ihrem Nettoeinkommen zusätzlich zum allgemeinen Beitragssatz überweisen, die Mitglieder der Ersatzkassen wie Barmer und DAK zahlten 139 Euro zusätzlich und die der Innungskrankenkassen sogar 150 Euro.«

Das hat Folgen: »Mit über acht Milliarden Euro entfällt fast die Hälfte der 17,2 Milliarden Euro Rücklagen im gesetzlichen Krankenversicherungssystem auf die Ortskrankenkassen.«

Der AOK-Verband »führt die überdurchschnittlich gute Finanzlage darauf zurück, dass die Kassen in jüngster Zeit vor allem viele junge Mitglieder neu gewonnen hätten. Auch die Leistungsausgaben entwickelten sich günstiger als bei anderen Krankenkassen.«

Daran zweifeln allerdings viele Kritiker. Sie argumentieren, dass es der „Morbi-RSA“ in seiner gegenwärtigen Ausgestaltung sei, der das Ungleichgewicht verursacht – und dabei vor allem die 80 Krankheiten, deren Kosten ausgeglichen werden (vgl. die Übersicht des Bundesversicherungsamtes, welche Krankheiten im Morbi-RSA berücksichtigt werden).

Die Musik für Krankenkassen wie der AOK spielt bei den Zuweisungen vor allem im krankheitsorientierten Teil des Finanzausgleichs – denn Alter, Geschlecht oder der Bezug von Erwerbsminderungsrenten, was auch berücksichtigt wird im RSA, lassen sich nun kaum bis gar nicht „gestalten“.

Peter Thelen zitiert in seinem Artikel den Bremer Gesundheitsökonomen Gerd Glaeske, der nach 2001 Vorsitzender des Beirats war, der seinerzeit die Entwicklung des neuen Finanzausgleichs wissenschaftlich begleitet hat.

„Die Gretchenfrage lautete damals: Welche 80 Krankheiten nehmen wir, um einen neuen stärkeren Finanzausgleich zu erreichen, der für die Kassen möglichst faire Wettbewerbsbedingungen schafft und nicht manipulationsanfällig ist?“

»Der Beirat war dafür, vor allem besonders teure Krankheiten auszugleichen. Der entsprechende Gesetzentwurf sah vor, dass diese Krankheiten „eng abgrenzbar, schwerwiegend und chronisch“ sein und eine „besonders Bedeutung für das Versorgungsgeschehen“ haben müssten. Vor allem aber sollten die durchschnittlichen Behandlungskosten je Patient die durchschnittlichen Leistungsausgaben für alle Versicherten um mindestens 50 Prozent übersteigen … Der Beirat hatte bewusst Erkrankungen wie Rheuma, einfache Diabetes, Asthma oder Depressionen ohne schweres Krankheitsbild nicht in die Liste aufgenommen, weil sie zwar häufig vorkommen, aber keine hohen Behandlungskosten auslösen und oft auch schwer abgrenzbar und zu diagnostizieren sind.«

Aber es kam anders. Das Bundesgesundheitsministerium folgte dem Vorschlag des Beirats hinsichtlich einer engen Abgrenzung der Krankheiten nicht. Warum nicht, lässt sich, so die These von Thelen, nur politisch verstehen:

»Es stellte sich schnell heraus, dass die strenge Krankheitsauswahl den damals eindeutig benachteiligten Ortskrankenkassen nicht die Zusatzeinnahmen bringen würde, die politisch erwünscht waren. Das unausgesprochene Hauptziel der Reform war, den chronisch notleidenden Ortskrankenkassen durch den verstärkten Finanzausgleich finanziell wieder auf die Beine zu helfen.«

Glaeske warnte damals vor der Manipulationsanfälligkeit einer zu weiten Berücksichtigung und sah sogar die Gefahr einer Morbidisierung der Gesellschaft am Horizont. Der Beirat, vor vollendete Tatsachen gestellt, trat geschlossen zurück.

Im weiteren Verlauf des Artikels von Thelen wird es sehr persönlich – hinsichtlich einer zentralen Figur der gesundheitspolitischen Beratung in Deutschland: Prof. Dr. Jürgen Wasem, denn der  Inhaber des Lehrstuhls für Medizinmanagement an der Universität Duisburg Essen wurde Glaeskes Nachfolger im neuen Beirat.

Wasem »hatte sich für die neue Position in besonderer Weise empfohlen: Er hatte die sogenannte „Essener Liste“ verfasst.* Eine Zusammenstellung, auf der die meisten Krankheiten schon vermerkt waren, die die AOK sich wünschte.«

Aber hat der Gesetzgeber nicht zwischenzeitlich reagiert, was die mögliche Gestaltung der Diagnosen im Sinne der Anreize aus dem Morbi-RSA angeht? Und haben nicht auch die Kassen selbst erklärt, von einer direkten Beeinflussung der Ärzte abzulesen? Inzwischen haben sich beispielsweise die Ortskrankenkassen in einer gemeinsamen Erklärung verpflichtet, Ärzten nur noch besondere Leistungen, nicht aber das Stellen bestimmter Diagnosen zu vergüten. Aber auch hier muss man wieder genauer hinschauen:

»Betreuungsstrukturverträge und Hausarztverträge gibt es immer noch – und sie sind völlig legal. Formal versprechen sie den Ärzten nämlich nur Zusatzentgelte, wenn sie bestimmte Patientengruppen intensiver betreuen. Aber auch heute fließt das Geld nur für Patienten mit einer „gesicherten Diagnose“. Und dabei gilt häufig nach wie vor: Je kränker der Patient, umso höher das Zusatzhonorar.«

Und das bereits angesprochene Grunddilemma hinsichtlich der Breite des Spektrums an Finanzströme generierenden Krankheiten bleibt ja weiterhin bestehen.

Bundesgesundheitsminister Hermann Größe (CDU) hat bereits Ende 2016 reagiert – und ein Gutachten in Auftrag gegeben. Unter anderem soll auch evaluiert werden, wie eine Manipulationsanfälligkeit des Finanzausgleichs in Zukunft verhindert werden kann. Braucht man dazu wirklich ein Gutachten? Gerd Glaeske, so Thelen in seinem Artikel, hätte da natürlich einen Vorschlag: »Die Krankheitsauswahl müsste von den Volkskrankheiten wie Diabetes und Bluthochdruck wieder in Richtung teurer und schwerer, und daher auch diagnostisch viel leichter abgrenzbarer Krankheiten verändert werden. Manipulationen würden so schwerer und der Finanzausgleich fairer werden.«

Aber der Gutachtenauftrag war und ist in der Welt. Und wer macht das? »Der wissenschaftliche Beirat unter Führung von Jürgen Wasem wurde mit der Bewertung des Ausgleichs und seiner Manipulationsanfälligkeit beauftragt. Für die Evaluation wurden ihm zwei Wissenschaftler an die Seite gestellt: Der mit Wasem aus früherer Zusammenarbeit eng verbundene niederländische Finanzausgleichsexperte Wynand van de Ven und der Wettbewerbsökonom und Chef der Monopolkommission Achim Wambach.«

Man kann es schon kritisch sehen – wie das Glaeske tut -, »dass der Erfinder des Finanzausgleichs, der auch für seine Weiterentwicklung seit 2009 die Verantwortung trägt, nun quasi federführend die eigene Arbeit evaluiert.«

Hinzu kommt: »Eigentlich sollten Wasem, van de Ven und Wambach ihre Evaluation bis Ende dieses Monats abgeschlossen haben. Doch daraus wird nichts werden, heißt es in Krankenkassenkreisen. Vor dem Jahresende seien keine Ergebnisse zu erwarten.«

Was das nun vor dem Hintergrund der Bundestagswahl am 24. September 2017 und der anschließenden Koalitionsverhandlungen bedeutet? Na klar: »Das könnte bedeuten, dass das Streitthema Finanzausgleich bei den Koalitionsverhandlungen einfach ausgespart werden wird.«

Absenkung der Leistungen und weniger Rechtsschutz für Asylbewerber? Der Bundesinnenminister schielt politisch nach rechts – und „übersieht“ das Bundesverfassungsgericht?

Mit dem Hinweis darauf, dass wir in zwei Wochen die Bundestagswahl haben und nunmehr in die „heiße“ Phase des Wahlkampfs eingetreten sind, in dem noch mal überall versucht wird, potenzielle Wählerstimmen anzugraben, könnte man sich bei der folgenden Meldung zurücklehnen und diese zu ignorieren versuchen: De Maizière will Leistungen für Asylbewerber kürzen. »Bundesinnenminister de Maizière fordert eine europaweite Angleichung bei Flüchtlingen. Die deutschen Leistungen seien „im EU-Vergleich ziemlich hoch“«, wird da berichtet. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) will eine Angleichung der Leistungen für Asylbewerber in Europa. In Deutschland seien diese Leistungen „im EU-Vergleich ziemlich hoch“, wird der Minister mit Bezug auf diesen Artikel zitiert: De Maizière für niedrigere Asylbewerberleistungen. „Das ist Teil des Sogeffekts nach Deutschland.“ Der Innenminister »räumte ein, dass auch die Lebenshaltungskosten in Deutschland höher seien als in anderen EU-Ländern wie beispielsweise in Rumänien. Im Rahmen einer EU-weiten Angleichung der staatlichen Leistungen für Asylbewerber halte er „entsprechende Kaufkraftzuschläge für einzelne Staaten“ für denkbar.« Aber eben weniger als die heute bekommen. Und noch eine zweite Schneise wird von ihm geschlagen: Er fordert » eine EU-weite Angleichung der Asylverfahren und einen einheitlichen Rechtsschutz.« Die Richtung, die hier eingeschlagen werden soll, ist klar: De Maizière beklagte, dass in Deutschland besonders viele abgelehnte Asylbewerber gegen die Entscheidung Klage vor Gericht einlegten. „Bei uns können abgelehnte Asylbewerber über diverse rechtliche Klagewege ihre Abschiebung hinauszögern, deutlich mehr als anderswo.“

Nun könnte man sich der Einschätzung unterwerfen, dass das alles ein mehr als durchsichtiges Wahlkampfmanöver sei, mit dem der Bundesinnenminister potenzielle Wähler aus der AfD-Ecke ködern will nach dem Motto: Seht ihr, auch die Union wird die Daumenschrauben gegenüber den Asylbewerbern anziehen, ihr müsst nicht die AfD wählen.

Man könnte sich aber auch aufregen und die Frage aufwerfen, was sich ein Bundesinnenminister, der ja der Verfassung und der Verfassungsrechtsprechung verpflichtet ist, erlaubt. Hat er nicht die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu befolgen? Oder hat er die in diesem Fall vielleicht „übersehen“, was allerdings erhebliche Zweifel an seiner Kompetenz aufwerfen würde.

Denn das Bundesverfassungsgericht hat der Politik und damit auch dem Bundesinnenminister bereits im Jahr 2012 eine klare Ansage über das verfassungsrechtlich Gebotene ins Stammbuch geschrieben. Und die treuen Leser dieses Blogs werden sich dunkel erinnern, dass hier schon mal mit Blick auf einen Bundesminister angemahnt wurde, doch bitte die Rechtsprechung zu berücksichtigen, bevor man mit populistischen Forderungen an die Öffentlichkeit geht: Am 13. Oktober 2015 wurde dieser Beitrag veröffentlicht: Schäuble allein zu Haus? Hartz IV für Flüchtlinge absenken, fordert der Bundesfinanzminister. Oder plaudert er nur ein wenig? Darin findet man diesen Passus, den man auch mit dem aktuellen Blick auf den Bundesinnenminister erneut wieder aufrufen muss:

»(Man hätte) von einem Bundesminister schon erwartet, dass er die Rechtsprechung des höchsten deutschen Gerichts kennt und berücksichtigt. Das Bundesverfassungsgericht hat sich in der hier interessierenden Causa mit einem wegweisenden Urteil bereits zu Wort gemeldet und vor allem dieser eine Satz aus der Entscheidung des BVerfG aus dem Jahr 2012 sollte auch dem Bundesfinanzminister bzw. seinen Zuarbeitern bekannt sein und seine Zitation könnte die weitere Auseinandersetzung mit den Gedankenspielereien des Ministers beenden:
»Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.« (BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012 – 1 BvL 10/10, Randziffer 121).«

Und was damals für Schäuble galt, gilt für den Bundesinnenminister heute genau so. Die klare Botschaft der damaligen Entscheidung des BVerfG (vgl. dazu auch Regelungen zu den Grundleistungen in Form der Geldleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz verfassungswidrig): Es gibt die Verpflichtung zur Sicherstellung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Und das Gericht spricht hier von Existenzminimum im Singular, keineswegs im Plural. Die Vorstellung unterschiedlich abgestufter Existenzminima wird von den Verfassungsrichtern verworfen.

Und sie haben bereits damals das, was der Bundesinnenminister als (angeblichen) „Sogeffekt“ nach Deutschland bezeichnet, klar angesprochen – und als mögliche Legitimation einer Absenkung der Leistungen verworfen. In den Leitsätzen des BVerfG-Urteils aus dem Jahr 2012 finden sich diese eindeutigen Ausführungen:

»Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG garantiert ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums … Art. 1 Abs. 1 GG begründet diesen Anspruch als Menschenrecht. Er umfasst sowohl die physische Existenz des Menschen als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Das Grundrecht steht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu.«

Und dann wird in der Entscheidung diese klar Ansage gemacht: »Migrationspolitische Erwägungen, die Leistungen an Asylbewerber und Flüchtlinge niedrig zu halten, um Anreize für Wanderungsbewegungen durch ein im internationalen Vergleich eventuell hohes Leistungsniveau zu vermeiden, können von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen … Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.«

Fazit: Das, was der Bundesinnenminister (wieder und aus durchschaubaren Gründen) von sich gibt, ist durch die Rechtsprechung des BVerfG in keiner Weise gedeckt und auch nicht zulässig.

Und da hilft dann auch nicht der mögliche Hinweis, dass es doch eine neue Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) gibt, über die das Gericht unter so einer eindeutig daherkommenden Überschrift informiert hat: Kürzung von Asylbewerberleistungen auf das „unabweisbar Gebotene“ verfassungsrechtlich unbedenklich. Also doch? Wie immer muss man genau hinschauen (vgl. dazu auch den Beitrag Ein vor Jahren abgelehnter Asylbewerber wird vom Bundessozialgericht auf das „unabweisbar Gebotene“ begrenzt – und was das mit anderen Menschen zu tun haben könnte vom 14. Mai 2017):

»Eine Behörde darf einem Ausländer Leistungen kürzen, wenn er nicht bei seiner Abschiebung mitwirkt: Das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel hat am Freitag eine entsprechende Klage eines 49-Jährigen aus Kamerun abgewiesen. Die einschlägige Regelung im Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) sei verfassungsrechtlich unbedenklich, so das Gericht. Das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum hindere den Gesetzgeber nicht daran, die Leistungen an eine Mitwirkungspflicht zu knüpfen (Urt. v. 12.05.2017, Az. B7 AY 1/16R)«, so der Bericht in dem Artikel Aus­länder muss bei Abschiebung koope­rieren.

Konkret ging es um den folgenden Sachverhalt: Der Asylantrag eines Kameruners war 2004 abgelehnt worden, eine Abschiebung scheiterte allein an seinem fehlenden Pass. Seine Hilfe bei der Beschaffung eines neuen Ausweises verweigerte der 49-Jährige aus dem Landkreis Oberspreewald-Lausitz, obwohl die Ausländerbehörde ihn 19-mal dazu aufforderte. Sie beschränkte ihre Leistungen deswegen auf das Bereitstellen einer Unterkunft sowie Gutscheine für Kleidung und Essen. Eine Bargeld-Zahlung in Höhe von knapp 130 Euro monatlich strich sie aber. Vor dem Sozialgericht (SG) Cottbus war der Mann gescheitert. Das BSG hat dann zur Entscheidung ausgeführt:

»Das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum hindere den Gesetzgeber nicht daran, die Leistungen an eine Mitwirkungspflicht zu knüpfen, so die Kasseler Richter. § 1a Abs. 2 Satz 2 AsylbLG knüpfe die Absenkung der Leistungen an ein Verhalten, das der Betreffende jederzeit ändern könne.

Auch dass der Kameruner über Jahre nur abgesenkte Leistungen erhalten hatte, sei verfassungsrechtlich unbedenklich, da er sich sich stets darüber bewusst gewesen sei, wie er die Leistungsabsenkung hätte verhindern beziehungsweise beenden können. Er sei regelmäßig und unter Hinweis auf zumutbare Handlungsmöglichkeiten zur Mitwirkung aufgefordert und auch mehrfach der kamerunischen Botschaft vorgeführt worden.«

Angesichts der Tatsache, dass der Mann bereits 2002 nach Deutschland gekommen ist und sich über Jahre seiner Mitwirkungspflicht entzogen hat, werden viele die Entscheidung des BSG nachvollziehen und begrüßen. Aber wie so oft im Leben ist es eben nicht immer so klar und eindeutig, wie man die Sympathien verteilt. Es kommt eben und er Regel immer auch auf den Einzelfall an – und da kann es Fälle geben, wo man zumindest ins Grübeln kommt, wenn man über die erforderlichen Mitwirkungspflichten nachdenkt. Schauen wir uns beispielsweise diesen aktuellen Fall an, der zugleich ein bezeichnendes Licht wirft auf das asylrechtliche Durcheinander, über das von vor Ort berichtet wird:

»Die Wismarer Bauunion ist stolz auf ihren Lehrling Reza Rezai. Doch der 30-Jährige soll nach Afghanistan abgeschoben werden«, kann man diesem Artikel entnehmen: Einser-Azubi auf der Abschiebeliste. Er wurde in Afghanistan geboren. »Nur einen Monat später gehen seine Eltern mit ihm in den Iran. Dort lebt Reza als Flüchtling, bis er 2014 über die Türkei nach Deutschland kommt. Sein Antrag auf Asyl wird damals abgelehnt. Auch der Gang vors Gericht blieb erfolglos.« Aber der Mann versucht sich zu integrieren – und macht eine Lehre zum Facharbeiter für Hochbau. Zwischenzeitlich hat er sein Facharbeiterzeugnis abgeliefert: sieben Einser und fünf Zweier. In einem Leistungswettbewerb holt er in seinem Ausbildungsjahrgang den ersten Platz. Eigentlich ein Vorzeigebeispiel, wie es laufen sollte und auch laufen kann. Und da gibt es doch die „3+2“-Regelung, wird der eine oder andere anmerken.

Diese Regelung besagt, dass ein Flüchtling, der eine Ausbildung in Deutschland begonnen hat und die rechtlichen Voraussetzungen erfüllt, auch dann die Ausbildung abschließen und eine zweijährige Anschlussbeschäftigung ausüben kann, wenn sein Asylantrag abgelehnt wird. Unabdingbare Voraussetzung dafür ist ein Ausbildungsvertrag, erfahren wir beispielsweise in diesen Erläuterungen. Dort findet man dann auch diesen Hinweis: »Für die Prüfung, ob die 3+2-Regelung zum Tragen kommt, sind die Ausländerbehörden zuständig.« Was aber in der Realität bedeutet, dass das ganz unterschiedlich geprüft und entschieden werden kann, je nach Ausländerbehörde. Was immer wieder beklagt wird.

Der Fall von Reza Rezai gestaltet sich kompliziert, folgt man der zitierten Berichterstattung. Hätte Reza seinen Antrag auf Ausbildungsduldung vor Beginn der Lehre zum Facharbeiter für Hochbau gestellt, sähe Rezas Welt heute anders aus – vielleicht.  Weil man das auch nicht vorhersagen kann. Aber der eigentliche Punkt ist ein Konstrukt, dem wir schon bei der neuen Entscheidung des Bundessozialgerichts begegnet sind im Fall des Kameruners: die (nicht erfüllte) Mitwirkungspflicht. Denn der eigentliche Asylantrag ist ja abgelehnt worden und Reza Rezai müsste zurück nach Afghanistan – und noch gilt das als „sicheres Herkunftsland“. »Die Abschiebungen – sie sind nur ausgesetzt. Denn Attentat folgt derzeit auf Attentat. Allein in der ersten Hälfte dieses Jahres sind bei Anschlägen nach Angaben der Vereinten Nationen mehr als 1.660 Menschen ums Leben gekommen, rund 3.600 wurden verletzt.«

Davon abgesehen, dass derzeit gar nicht abgeschoben wird, argumentiert der Landkreis anders: Reza Rezai sei angeblich seiner Mitwirkungspflicht bei der Beschaffung seiner Papiere nicht nachgekommen.

»In der von der Botschaft erstellten Bescheinigung sei weder zu erkennen, ob Reza Dokumente beantragt habe noch ob für ihn eine Möglichkeit bestehe, einen Pass zu erhalten. Deshalb dürfe eine Ausbildungsduldung nicht erteilt werden – „die aufenthaltsbeendenden Maßnahmen können aus Gründen, die Reza selbst zu vertreten hat, nicht vollzogen werden.“ Übersetzt heißt das: Reza kann nicht abgeschoben werden, weil er keine Papiere hat.«

Auf der anderen Seite: »Wegen seiner Integrationsbemühungen sei indes von der Aussprache eines sonst erforderlichen Beschäftigungsverbotes zunächst abgesehen worden.« Und nun hat er sich nicht nur bemüht, sondern tatsächlich auch nachweisbar geliefert. Sogar mit hervorragenden Ergebnissen.

Was mit diesem Beispiel – und man könnte viele weitere, von denen berichtet wird, hinzufügen – erkennen kann: So einfach ist das gar nicht mit den Regelungen und auch die „Mitwirkungspflicht“ kann mal in dem einen oder anderen Licht erscheinen, wenn man genauer hinschaut. Wie dem auch immer sei – bei der Frage der Abschiebungen hat man es mit einem höchst explosiven Thema zu tun. Auf der einen Seite wird immer wieder berichtet über Fälle, bei denen nicht abgeschoben wird oder werden kann, auch wenn es sich um Kriminelle handelt, auf der anderen Seite werden gefühlt oftmals die wirklich abgeschoben, die man leicht erwischen kann und die dann auch oft noch mittlerweile gut integriert sind, was auch wieder großes Unverständnis bei vielen Bürgern hervorruft.

Man muss also, auch wenn das unangenehm ist, genau und differenziert hinschauen. Zugleich zeigt sich an diesem Beispiel, wie wichtig einfache und klare und eindeutige rechtliche Regelungen sind und vor allem wären, weil es sie derzeit nicht gibt bzw. den Behörden vor Ort sehr weite Auslegungsspielräume eröffnen, die mal so, mal anders genutzt werden.

Abschließend wieder zurück zu dem primär wahlkampfbezogenen Vorstoß des Bundesinnenministers hinsichtlich einer Absenkung der Leistungen (und einer Ausdünnung des Rechtsschutzes) für alle Asylbewerber. Das wird es der bestehenden Rechtsprechung nicht geben können – aber der Minister steht auch international gesehen nicht allein mit dem grundsätzlichen Absicht, die Leistungen für bestimmte Personengruppen gezeigt abzusenken, um darüber Abschreckungseffekte zu erzielen. Man sollte sich aber immer darüber bewusst sein, dass man in der Regel „ganz unten“ anfängt, um sich dann „nach oben“ vorzuarbeiten.

Ein Beispiel für diese Diskussion kann man derzeit in Österreich besichtigen, wo ja auch demnächst gewählt wird und wo mit Sebastian Kurz ein Politiker die ÖVP gekapert und zu einem auf sich bezogenen Wahlverein transformiert hat, der zugleich durch Forderungen auffällt, die in dem hier interessierenden Kontext passen: Kurz will auch EU-Ausländern Sozialleistungen streichen, so ist einer der vielen Artikel überschrieben: »Zuwanderer sollen erst nach fünf Jahren Zugang zum Sozialsystem erhalten, Flüchtlingen soll die Mindestsicherung gekürzt werden«, so kann man das zusammenfassen, was dem noch jungen Mann da vorschwebt.
Er plädiert für eine österreichweit einheitliche Regelung der Mindestsicherung – die bislang übrigens am Widerstand der ÖVP-regierten Bundesländer gescheitert ist, also aus seiner eigenen Partei heraus. »Die Mindestsicherung für eine Bedarfsgemeinschaft soll dabei auf maximal 1.500 Euro begrenzt werden. So weit wie möglich soll der Fokus bei der Mindestsicherung auf Sachleistungen liegen. Bei Arbeitsverweigerung oder Schwarzarbeit sieht das ÖVP-Wahlprogramm erst ein intensives Coaching und dann signifikante Kürzungen der Sozialleistungen vor.«

Und auch die Zuwanderung von EU-Bürgern ist im Visier des Kandidaten: »Radikal ist das Programm in Bezug auf EU-Ausländer: Für Zuwanderer aus der Europäischen Union ist eine Streichung von Sozialleistungen vorgesehen, damit soll die Zuwanderung ins Sozialsystem gestoppt werden. Für Ausländer soll der Zugang zu Sozialleistungen in Österreich grundsätzlich erst nach fünf Jahren Aufenthalt möglich sein.«

Mit Blick auf die Asylbewerber kann man dem Wahlprogramm entnehmen:

»Für Asyl- bzw. subsidiär Schutzberechtigte soll es in den ersten fünf Jahren eine „Mindestsicherung light“ geben, diese beträgt 560 Euro pro Einzelperson und setzt sich aus 365 Euro Grundversorgung, 155 Euro Integrationsbonus und 40 Euro Taschengeld zusammen – geknüpft ist der Bezug allerdings an das Erreichen von Integrationszielen. Einen Übergang in die reguläre Mindestsicherung soll es nur geben, wenn in den ersten fünf Jahren eine reguläre Vollzeitbeschäftigung für mindestens zwölf Monate nachgewiesen werden kann.«

Man kann sich vorstellen, wie man die Sozialleistungen weiter differenzieren und kleinhäckseln könnte, wenn man mit so einem Ansatz wirklich weiterkommt.

Für Deutschland kann man zum jetzigen Zeitpunkt nur festhalten, dass es die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gibt, die einem solchen Ansinnen – noch – Widerstand entgegensetzen würde. Aber was ist schon sicher in den heutigen Zeiten?

Merkel als Spielverderberin für die Anhänger der „Rente mit 70“? Aber die lassen nicht locker

Über das „TV-Duell“ zwischen Bundeskanzlerin Merkel und dem SPD-Herausforderer Martin Schulz, das eher als TV-Duett daherkam, ist in den vergangenen Tagen schon eine Menge geschrieben worden. Immer wieder wurde beklagt, dass sozialpolitische Themen so gut wie gar nicht angesprochen wurden. Armut, Pflege – Fehlanzeige. Auch die Rententhematik wurde nur en passant erwähnt, aber da landete die ansonsten im Ungefähren verweilende Kanzlerin ein Aussage mit Deutlichkeitswert: »Es sei „schlicht und ergreifend falsch“, sagte Merkel beim TV-Duell mit entschlossen klingender Stimme, dass die Union die Rente mit 70 propagiere – wie SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz gerade behauptet hatte. Es gebe keinen Beschluss eines CDU-Gremiums dazu. „Das ist falsch.“ Und es habe nichts zu bedeuten, „wenn irgendeine Untergruppe oder irgendein Flügel“ so etwas fordere.« So die Darstellung bei Kerstin Gammelin, die ihren Artikel so überschrieben hat: Merkel brüskiert Parteifreunde mit Absage zur „Rente mit 70“. Offensichtlich ist das dann noch nicht so eindeutig in der Union.

Denn das sind nicht irgendwelche Hinterbänkler der CDU, die sich in der zu Ende gehenden Legislaturperiode für ein späteres Renteneintrittsalter ausgesprochen haben.
Finanzminister Wolfgang Schäuble und der selbsternannte Hoffnungsträger der Union, Jens Spahn, gehören dazu. Und Carsten Linnemann, der Vorsitzende der Mittelstandsvereinigung der CDU/CSU, des Wirtschaftsflügels der Union. Auch der ehemalige baden-württembergische Ministerpräsident und jetzige EU-Kommissar Günther Oettinger vertritt das offensiv. Besonders aktiv in dieser Angelegenheit sind immer wieder Funktionäre der Jungen Union, die offensichtlich ganz scharf sind auf die Anhebung des Renteneintrittsalters.

Wie dem auch sei – Die Bundeskanzlerin ahnt, welche Sprengkraft das Thema hat bzw. bekommen könnte und angesichts ihrer Prämisse, dass in den kommenden Jahren eigentlich nichts zu tun sei an der Rentenfront (frühestens ab 2030 und dazu will sie dann eine Kommission einsetzen, die sich mal Gedanken machen kann), hat sie schlichtweg keine Lust, sich so ein Thema ins Wahlkampfnest legen zu lassen. Später kann man dann ja immer noch die Koordinaten wieder ändern.

In den Medien wurde dieser Punkt hingegen sofort aufgegriffen. Die FAZ stellt die eher rhetorisch gemeinte Frage Keine „Rente mit 70“ – geht das überhaupt? Und Spiegel Online sekundiert weiterführend und die Sache an sich gar nicht infragestellend: Warum die Rente mit 70 kommt – aber anders heißen wird.

Und auf der gleichen Seite konnte man schon einige Stunden vorher diese unmissverständliche Botschaft zur Kenntnis nehmen: Top-Ökonomen kritisieren Merkels Nein zur Rente mit 70: »Hochrangige Experten halten das nicht für tragfähig. Die deutsche Altersvorsorge werde so auf Dauer kaum zu finanzieren sein.« Also wenn „Top-Ökonomen“ das sagen, dann muss die Kanzlerin sich aber warm anziehen. Nur als redaktionelle Fußnote: Als „hochrangige Rentenexperten“ werden uns Michael Hüther, seines Zeichens Chef des arbeitgeberfinanzierten Instituts der deutschen Wirtschaft, sowie Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) und sozialdemokratischer Vorzeige-Ökonom, verkauft. Noch vor kurzem hieß es in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung schon mit der Artikel-Überschrift über Marcel Fratzscher vernichtend: Claqueur der SPD: »DIW-Chef Marcel Fratzscher hat sich ganz der SPD verschrieben. Das beschädigt seine Glaubwürdigkeit als Ökonom, hat aber Methode«, so Rainer Hank in dem Artikel. Aber bei der „Rente mit 70“ kann man ihn natürlich wieder als Top-Ökonom reanimieren.

In diesem Zusammenhang als Nebenasspekt relevant der Hinweis auf eine Debatte, die Norbert Häring in seinem Blog-Beitrag Der DGB sollte den Sachverständigenrat sehr ernst nehmen aufgegriffen hat. Dort geht es um die vor kurzem gegen die abweichenden Meinungen des „schwarzen Schafes“ (bzw. in diesem Fall besser als „rotes Schaf“) der Wirtschaftsweisen, Peter Bofinger, der auf dem „Gewerkschaftsticket“ in das Gremium gekommen ist. Der wird von den vier anderen gerade massiv und unterirdisch angegriffen. Anfang 2019 wird es einen Nachfolger für Bofinger geben müssen und Häring schreibt dem DGB ins Stammbuch: »Wohin die Reise nach Vorstellung des marktliebenden Ökonomenmainstream gehen soll, hat Ifo-Ökonom Niklas Potrafke in seinem Angriff auf Bofinger in der FAS deutlich gezeigt. Er argumentierte ganz explizit, dass gewerkschaftsnominierte Sachverständigenratsmitglieder keine echten Ökonomen seien, und lies dies in dem Vorschlag an den DGB gipfeln, DIW-Chef Marcel Fratzscher als Nachfolger von Bofinger zu nominieren. Fratzscher hat sich als Hofökonom von Sigmar Gabriel redlich bemüht, mit Ungleichheitsrhetorik sozialdemokratischen Stallgeruch anzunehmen. Das sollte aber keinen im DGB darüber hinwegtäuschen können, dass er daraus fast genau die gleichen Folgerungen zieht, wie marktliberale Ökonomen. Das ist vor allem bessere Bildung und frühkindliche Förderung, garniert mit ein klein bisschen Umverteilung. Nach der jüngsten Fernsehdiskussion von Merkel und Schulz rügte Fratzscher ebenso wie IW-Chef Michael Hüther die Kanzlerin dafür, dass sie der Rente mit 70 eine Absage erteilt hatte.«

Womit wir wieder beim hier besonders interessierenden Thema „Rente mit 70“ wären. Und wieder wird von vielen Medien der Eindruck transportiert, „die“ Ökonomen seien für die Rente mit 70. Was natürlich großer Humbug ist, denn erstens gibt es nicht „die“ Ökonomen und zweitens gibt es durchaus welche, die dagegen sind (vgl. dazu nur als Beispiel den Beitrag Rente mit 70: Pro und Contra des WDR5-Wirtschaftsmagazins „Profit“, in der neben Hüther als Anhänger der Idee auch Gustav Horn, Direktor des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung, zu Wort kommt, der das ablehnt).

Aber Spiegel Online berichtet über „die“ Ökonomen:

»Wirtschaftswissenschaftler kritisieren die Festlegungen der Parteien. Von „Wahltaktik“ spricht Michael Hüther vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW). Die Rente mit 70 auszuklammern, schade der deutschen Gesellschaft. Marcel Fratzscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) sieht das genauso: „Die demografische Entwicklung, die verlängerte Lebenszeit, machen ein späteres Renteneintrittsalter notwendig. Anders kann das System nicht finanziert werden.“«

Nun könnte ich an dieser Stelle darauf hinweisen, dass in diesem Blog bereits vor kurzem, am 16. August 2017, dieser Beitrag veröffentlicht wurde: Vorwärts zur „Rente mit 70“? Eine große Koalition von „Top-Ökonomen“ und die Untiefen der Rasenmähermethode.  Oder auf den aufschlussreichen Beitrag Ein großer Teil der Antwort würde viele Arbeitnehmer beunruhigen. Zur Frage nach dem Sinn einer weiteren Erhöhung des Renteneintrittsalters vom 28. Juli 2016. Und um das alles abzurunden sei hier auch noch auf diesen Beitrag verwiesen: Rente mit 70(+)? Warum die scheinbar logische Kopplung des Renteneintrittsalters an die steigende Lebenserwartung unsinnig ist und soziale Schieflagen potenziert. Er wurde am 22. April 2016 veröffentlicht.

Man muss sich klar machen, was das bedeuten würde, wenn das gesetzliche Renteneintrittsalter auf 70 Jahre angehoben werden würde – für viele Menschen eine enorme Rentenkürzung. Das kann man nur verstehen, wenn man sich etwas auskennt in der Mechanik des bestehenden Rentensystems. An das gesetzliche Renteneintrittsalter sind die Abschläge gekoppelt, die man lebenslang bei seiner Rente in Kauf nehmen muss, wenn man vorzeitig in Rente geht oder gehen muss.

Der Abschlag beträgt pro Monat vorzeitiger Inanspruchnahme 0,3 Prozent, pro Jahr 3,6 Prozent. Dies gilt nicht nur für vorzeitig in Anspruch genommene Altersrenten, sondern auch für Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Seit 2012 wird die Altersgrenze von 63 Jahren für diese Renten schrittweise auf das 65. Lebensjahr angehoben. Der maximale Abschlag beträgt hierbei 10,8 Prozent. Denn für die Menschen mit dem Baujahr 1964 wird die „Rente mit 67“ gelten, die ja trotz des temporären Ausflugs in die (unter bestimmten Voraussetzungen) abschlagsfreie „Rente mit 63“ für einige wenige Jahrgänge nicht aufgehoben wurde.

Eine weitere Anhebung wird nun immer wieder mit dieser Argumentation begründet: Die steigende Lebenserwartung mache das Unterfangen einer Anhebung des Renteneintrittsalters unabdingbar: »In den Sechzigerjahren hatte ein 65-jähriger Mann im Schnitt noch rund zwölf Jahre zu leben, heute sind es 18 Jahre. Prognosen gehen davon aus, dass sich diese Entwicklung fortsetzen wird, auch dank des medizinischen Fortschritts. Bisher führte diese Entwicklung dazu, dass die Zeit des Rentenbezugs steigt, auf zuletzt durchschnittlich rund 20 Jahre (1957 waren es neun Jahre).«

Eine schematische Erhöhung des Renteneintrittsalters wäre für bestimmte Menschen ein doppelter Schlag ins Gesicht. Zum einen haben wir eine erhebliche Spannweite der Lebenserwartung dergestalt, dass die unteren Einkommensgruppen (also die mit den in der Regel eben auch niedrigen Renten) um Jahre kürzer leben als die oberen Einkommensgruppen, die nicht nur höhere Renten bekommen, sondern diese auch länger in Anspruch nehmen können. Und hinzu kommt, dass eine weitere Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters gerade für die unteren Einkommensgruppen eine weitere Rentenkürzung bedeuten würde, denn viele von den Menschen hier arbeiten in Berufen, die man definitiv nicht bis in diese hohen Altersgruppen ausüben kann bzw. man wird vorher von den Arbeitgebern entsorgt und durch andere, jüngere Arbeitskräfte ersetzt und findet dann keine andere Beschäftigung mehr.

Warum ist das eigentlich so schwer zu verstehen – alles ist ungleich verteilt, das sollten Ökonomen eigentlich wissen.

Und wer sich wissenschaftlich fundiert mit dem Thema auseinandersetzen möchte, dem sei an dieser Stelle diese Studie empfohlen:

Gerhard Bäcker, Andreas Jansen und Jutta Schmitz (2017): Rente erst ab 70? Probleme und Perspektiven des Altersübergangs. Gutachten für den DGB Bundesvorstand. IAQ-Forschung 2017-02, Duisburg 2017

Darin heißt es – neben einer detaillierten Darstellung der tatsächlichen Verhältnisse – hinsichtlich der als Automatismus an „die“ steigende Lebenserwartung ausgestalteten Forderung nach einer weiteren Anhebung des Renteneintrittsalters, dass das »an der Frage vorbei (geht), ob die Arbeitnehmer/-innen hinsichtlich ihrer gesundheitlichen Konstitution und ihrer beruflichen Leistungsfähigkeit auch tatsächlich in der Lage sind, länger zu arbeiten. Zudem ist es ungewiss, wie sich der Arbeitsmarkt über 2030 hinaus entwickelt. Auf einen Automatismus, der sicherstellt, dass die Unternehmen immer Arbeitsplätze in ausreichender Zahl für die (weiterarbeitenden) Älteren bereitstellen, kann nicht gesetzt werden. Zu berücksichtigen sind nicht nur die Unwägbarkeiten auf der Angebotsseite hinsichtlich der Größenordnung von Zuwanderung und Erwerbsbevölkerung, sondern auch auf der Nachfrageseite des Arbeitsmarktes hinsichtlich der Entwicklung von Zahl und Struktur der Arbeitsplätze. Von maßgebender Bedeutung für die Arbeitsnachfrage in den nächsten Jahren und Jahrzehnten ist die gesamtwirtschaftliche Entwicklung: Welches Wachstum ist zu erwarten, in welche Richtung weisen die Digitalisierung der Arbeitswelt und die Arbeitsproduktivität?

Diese Ungewissheiten verbieten es, die Regelaltersgrenze an die Entwicklung der Lebenserwartung automatisch anzukoppeln. Die Anhebung des Rentenalters wäre dann nicht mehr das Ergebnis eines konkreten politischen Willensbildungsprozesses, sondern würde wie ein Mechanismus funktionieren. Die Politik hat sich jedoch laufend mit den Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt zu befassen und muss entsprechend reagieren. Durch eine vorgegebene automatische Anpassung könnte den Besonderheiten der Alterssicherung und der jeweiligen demografischen und ökonomischen Entwicklung nicht mehr Rechnung getragen werden.«