Ein klassisches Tauschgeschäft: Der eine bekommt einen höheren Mindestlohn, der andere eine Verfestigung und Ausweitung der Minijobs. Trotz vieler Gegenargumente

Habemus Koalitionsvertrag. Das wird überall und voller Erwartung gemeldet und heute Nachmittag um 15 Uhr sollen wir dann erfahren, auf was sich die Ampel-Koalition für die kommenden vier Jahre verständigt hat.

Dabei sind schon einige sozialpolitisch relevante und wesentliche Vorfestlegungen im Sondierungspapier vom 15.10.2021 vor der förmlichen Aufnahme von Koalitionsverhandlungen verankert worden (vgl. dazu den Beitrag Sozialpolitische Vorhaben in dem Sondierungspapier einer möglichen Ampel-Koalition. Eine erste kritische Einordnung der Absichtserklärungen vom 17. Oktober 2021). An denen – deshalb auch Vorfestlegungen – wird man in dem mit Spannung erwarteten Koalitionsvertrag nicht vorbei kommen können – gleichsam rote Linien, die nicht (mehr) überschritten werden können/sollen.

Im Sondierungspapier findet man eine Verneigung vor einer der Wahlkampfforderungen der SPD (und der Grünen): die Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns auf 12 Euro pro Stunde. Auf alle Fälle wird die klare „Vorfestlegung“ auf eine einmalige Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns auf die genannte Höhe Folgewirkungen entfalten. Enorme Auswirkungen wird dieser Schritt auf die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse haben, also auf die Minijobs. Das hat man bei den „450-Euro-Jobs“ – der Betrag markiert die (bisherige) maximale und in den vergangenen Jahren nicht-dynamisierte Verdienstgrenze in einem geringfügigen Beschäftigungsverhältnis – bereits in der Vergangenheit nach der Installierung eines gesetzlichen Mindestlohns und den bisher erfolgten Anhebungen der Lohnuntergrenze sehen können: Denn wenn die maximale Einkommensgrenze stabil gehalten, gleichzeitig aber der Mindestlohn angehoben wird (der auch für die geringfügig Beschäftigten als Stundenlohn gilt), dann können die Minijobber schlichtweg nur ihre Arbeitszeit reduzieren, sie stehen dem Arbeitgeber also weniger Stunden zur Verfügung. Diese Beschäftigungsform wird also teurer für die Arbeitgeber und ihr Flexibilitätspotenzial verringert sich entsprechend.

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Die Sicherung des Existenzminimums durch einen zeitnahen Inflationsausgleich in der Grundsicherung? Vom Bundesverfassungsgericht auf die Antragsebene im Bundestag

Der Gesetzgeber hat … Vorkehrungen zu treffen, auf Änderungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, wie zum Beispiel Preissteigerungen oder Erhöhungen von Verbrauchsteuern, zeitnah zu reagieren, um zu jeder Zeit die Erfüllung des aktuellen Bedarfs sicherzustellen, insbesondere wenn er wie in § 20 Abs. 2 SGB II einen Festbetrag vorsieht.
(BVerfG 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 ua, Rn. 140)

Ist eine existenzgefährdende Unterdeckung durch unvermittelt auftretende, extreme Preissteigerungen nicht auszuschließen, darf der Gesetzgeber dabei nicht auf die reguläre Fortschreibung der Regelbedarfsstufen warten.
(BVerfG 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 ua, Rn. 144)

Haben wir mittlerweile eine Preissteigerung erreicht, die dem entspricht, was das Bundesverfassungsgericht bewogen hat, in seinen Entscheidungen über die Frage einer möglichen Verfassungswidrigkeit des Verfahrens zur Anpassung der Regelbedarfe in der Grundsicherung (nach SGB II und XII) einen expliziten Handlungsauftrag an den Gesetzgeber zu verankern, der verhindern soll, dass eine Anpassung der Leistungen zur Sicherstellung des Existenzminimums auf die lange Bank geschoben wird? Das werden sicher einige bejahen (andere hingegen werden in eine semantische Exegese der Begrifflichkeit „extreme Preissteigerungen“ einsteigen).

Hinweis: In der Abbildung dargestellt ist die Entwicklung des VPI insgesamt, also der alle Haushalte umfassende Indikator für die Preissteigerungsrate. Der basiert auf einem umfangreichen Warenkorb. Man kann und muss davon ausgehen, dass die tatsächliche Preisentwicklung nach sozialen Gruppen unterschiedlich ausfällt, weil beispielsweise Hartz IV- oder Grundsicherung im Alter-Empfänger ein anderes Konsummuster haben als die oberen Einkommensgruppen. So ist beispielsweise der Anteil der Ausgaben für Lebensmittel – die von weit überdurchschnittlichen Preissteigerungsraten betroffen sind – bei den unteren Einkommensgruppen deutlich größer. Zugleich profitieren die weniger bis gar nicht von den die Durchschnittswerte senkenden Preisreduktionen, die es auch im Warenkorb für alle gibt.

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Kein Auslaufmodell auf dem Arbeitsmarkt: Helfertätigkeiten. Eine Studie beleuchtet die regional unterschiedliche Beschäftigungsentwicklung in Deutschland

Wer kennt sie nicht, die Vorhersagen, dass die Un- und Angelernten auf dem Arbeitsmarkt in schwere See geraten, dass sie durch die Digitalisierung – von der die Hochqualifizierten profitieren (sollen) – überflüssig, wegautomatisiert und eingespart werden. Dabei werden ältere Semester darauf hinweisen, dass das nun wahrlich keine neue Perspektive darstellt, man denke nur an die zahlreichen Rationalisierungswellen, die wir seit den 1970er Jahren vor allem in der Industrie gesehen haben. So viele Jobs für Un- und Angelernte sind seitdem weggefallen, also hier bei uns in Deutschland, sie wurden tatsächlich Opfer des technischen Fortschritts oder aber die sogenannte Einfacharbeit wurde verlagert in andere, in Billiglohnländer. Und auch die Verlagerung dieser Jobs vor allem in den asiatischen Raum ist nun wahrlich kein neues Phänomen, es seit hier nur an die in den 1970er Jahren geführte sozialwissenschaftliche Forschung über eine „Neue internationale Arbeitsteilung“ erinnert, die sehr genau beobachtet hat, was mit den damals hunderttausenden Jobs in der deutschen Textil- und Bekleidungsindustrie passiert ist. Für die historisch Interessierten und für die, denen bewusst ist, dass viele Debatten schon einmal geführt wurden, vgl. beispielsweise Folker Fröbel, Jürgen Heinrichs und Otto Kreye (1978): Die neue internationale Arbeitsteilung: Ursachen, Erscheinungsformen, Auswirkungen. Darin beispielsweise dieser Satz – wohlgemerkt aus dem Jahr 1978: »Im Mittelpunkt stehen … gegenwärtig die Auswirkungen der
Einführung elektronischer Geräte und Verfahren in zahlreichen Sektoren von Wirtschaft und Verwaltung.« Das damalige Anliegen der Autoren aus dem Max-Planck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt in Starnberg war es, die Auswirkungen von Produktionsverlagerungen ins Ausland unter die Lupe zu nehmen und deren Wechselwirkungen mit der vor über 40 Jahren bereits geführten aufgeregten Debatte über massive Arbeitsplatzverluste durch die technische Entwicklung zu untersuchen. .

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