Erzwingungshaft gegen einen wohnungslosen, drogenabhängigen und im Rollstuhl sitzenden Obdachlosen? Nein, sagt das Amtsgericht in Dortmund

Dortmund ist eine große und bunte Stadt mit vielen tollen Menschen und interessanten Entwicklungen gerade vor dem Hintergrund des montanindustriellen Erbes, mit dem sich diese Stadt des Ruhrgebiets auch in den 2020er Jahren noch herumschlagen muss. Und so, wie man diese Stadt keinesfalls auf den Bundesligisten Borussia Dortmund reduzieren darf, sollte man nicht von dem eigenartigen Verhalten eines Teils der Dortmunder Bürokratie auf alle schließen. Soweit die einschränkende Vorbemerkung, wenn es im Folgenden um ein neues Urteil des Amtsgerichts Dortmund geht.

Mit Beschluss vom 8. Dezember 2021 hat der Dortmunder Richter am Amtsgericht Dröge unmissverständlich festgestellt: »Der Antrag auf Anordnung der Erzwingungshaft wird zurückgewiesen, weil der Betroffene zahlungsunfähig ist.«

Um wen und was geht es hier? »Der betroffene ist drogenabhängiger und obdachloser Rollstuhlfahrer. Die Stadt Dortmund hat in verschiedenen Verfahren gegen den Betroffenen Bußgelder in Höhe von insgesamt 7.325,00 Euro zzgl. Verfahrenskosten festgesetzt.«

Auf den Fall aufmerksam gemacht hat Harald Thomé, einer der Gründungsmitglieder des Erwerbslosen- und Sozialhilfevereins Tacheles e.V. in Wuppertal. Auf seiner Webseite findet man auch den Beschluss des Amtsgerichts Dortmund vom 08.12.2021 im Original. Thematisiert wurde das auch schon in diesem Beitrag des Straßenmagazins bodo: Kein Knast für Knöllchen: »Mehr als 7.300 Euro Bußgeld sollte ein Obdachloser in Dortmund wegen Verstößen gegen die Coronaschutzverordnung und wegen Bettelns zahlen. Weil er nicht zahlte, wollte die Stadt sogenannte Erzwingungshaft anordnen. Das hat das Dortmunder Amtsgericht im Dezember in bemerkenswerter Klarheit abgelehnt ‑ und das Ordnungsamt abgewatscht«, berichtet Alexandra Gehrhardt. »Der Mann, obdachlos, drogenabhängig und im Rollstuhl, hatte im vergangenen Jahr vom Dortmunder Ordnungsamt mehrere Ordnungsgelder wegen Verstößen gegen die Coronaschutzverordnung und wegen Bettelns erhalten. Vor Gericht ging es um insgesamt 17 Delikte, mal mit 25 Euro, mal mit 2.200 Euro Bußgeld belegt ‑ insgesamt 7.325 Euro plus Verfahrenskosten. Als der Mann nicht zahlte, wollte die Stadt Dortmund sogenannte Erzwingungshaft anordnen, ihn also ins Gefängnis schicken, um ihn so zur Zahlung zu zwingen.«

Das Amtsgericht Dortmund hat dieses Ansinnen der Stadt Dortmund nun also zurückgewiesen – interessant ist die Begründung seitens des Gerichts. Dazu aus dem Beschluss vom 8. Dezember 2021:

»Die Anträge auf Anordnung von Erzwingungshaft sind überwiegend unbegründet. Denn der Betroffene ist zahlungsunfähig hinsichtlich des festgesetzten Bußgelder, die sich in enormen Höhe bewegen. Erzwingungshaft kann gem. § 96 Abs. 1 Nr. 4 OWiG ausdrücklich dann nicht angeordnet werden, wenn Umstände bekannt sind, die die Zahlungsunfähigkeit des Betroffenen ergeben. Solche Umstände sind hier aktenkundig.«

Und damit es die Verantwortlichen bei der Stadt auch wirklich verstehen, gibt es diese Erläuterung:

»Sinn und Zweck der Erzwingungshaft ist es, einen Zahlungsunwilligen – nicht Unfähigen – zur Zahlung der Geldbuße zu zwingen. Demzufolge setzt deren Anordnung voraus, dass es den Betroffenen nach seinen wirtschaftlichen Verhältnissen zumutbar sein muss, die Geldbuße zu zahlen. In diesem Zusammenhang sind die Einkommens – und Vermögensverhältnisse des Betroffenen, seine Verbindlichkeiten, seine Arbeitsfähigkeit und die Höhe der Geldbuße zu berücksichtigen.
Von Zahlungsunfähigkeit ist insbesondere bei Betroffenen auszugehen, die nur über das Existenzminimum verfügen, kein verwertbares Vermögen besitzen und im Blick auf Alter, Ausbildung, Gesundheitszustand oder Arbeitsmarktlage kein oder kein höheres Einkommen erzielen können … Dementsprechend ist allgemein anerkannt, dass Sozialhilfeempfänger, die in absehbarer Zeit nicht mit der Erlangung einer Arbeitsstelle rechnen können, als zahlungsunfähig anzusehen sind … Der Betroffene verfügt nach den aktenkundigen Feststellungen über keinerlei Einkommen – auch nicht ALG II – oder Vermögen. Zudem liegen auch noch vorrangige Pfändungen gegen den Betroffenen vor. Die Bußgelder resultieren zum größten Teil daher, dass sich der Betroffene im Trinkermilieu zum Biertrinken in der Öffentlichkeit getroffen hat und die Stadt Dortmund insoweit wiederholt wegen Verstoßes gegen die Corona Schutz vor Ordnung Bußgelder verhängt hat. Dabei ist das Bußgeld in schematischer Anwendung teilweise enorm erhöht worden, was sogar zur Festsetzung eines einzelnen Bußgeldes in Höhe von 2.200,00 € geführt hat. Die offensichtlichen wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen sind dabei nicht berücksichtigt worden. Wie der Betroffene bei Zahlung der festgesetzten Geldbußen auch nur noch annähernd seinen Lebensunterhalt bestreiten können bzw. wie er überhaupt nur ansatzweise in der Lage sein soll die, die festgesetzten Geldbußen zu zahlen, ist nicht ersichtlich. Da er obdachlos und drogenabhängig ist und im Rollstuhl sitzt, ist auch unerfindlich, wie sich an dieser Situation etwas ändern soll. Der Betroffene lebt von „der Hand in den Mund“ – teilweise wurden Bußgelder wegen „Bettelns“ festgesetzt – so dass er selbst die geringeren Geldbuße nicht bezahlen können wird, ohne seinen Lebensunterhalt zu gefährden.«

Und schlussendlich dieser Satz:

»Die Erzwingungshaft soll lediglich den Willen eines zahlungsunwilligen Betroffenen beugen, aber ausdrücklich gerade nicht den Zahlungsunfähigen treffen. Im Gegensatz zu Ersatzfreiheitsstrafe im Strafrecht ist die Erzwingungshaft gerade nicht ersatzweises Übel für die begangene Ordnungswidrigkeit.«

Man könnte meinen, dass das eigentlich Selbstverständlichkeiten sein sollten, auf die man eine Ordnungsbehörde nicht noch ausdrücklich per Gerichtsbeschluss hinweisen muss.

Alexandra Gehrhardt berichtet in ihrem Artikel Kein Knast für Knöllchen: »Schon 2020, im und nach dem ersten Corona-Lockdown, hatten Wohnungslose in Dortmund berichtet, für Verstöße gegen das damals geltende Ansammlungsverbot für mehr als zwei Personen Ordnungsstrafen in zum Teil vierstelliger Höhe erhalten zu haben. Damals hatte die Stadt die Option eingeräumt, dass Betroffene auf Antrag die Geldbußen auf 20 Euro reduzieren könnten. An der grundsätzlichen Sanktionspraxis hatte die Ordnungsbehörde aber festgehalten. Mittellose treffen solche Bußgelder ungleich härter. Zahlt man nicht, erhöht sich die Strafe, wird ein Einspruch abgelehnt, wird aus der Ordnungswidrigkeit eine Strafsache. Am Ende droht eine Ersatzfreiheitsstrafe, also Gefängnis.«

Vor diesem Hintergrund ist auch dieser Hinweis des Amtsgerichts bedeutsam:

»Insoweit wäre es Sache der Bußgeldbehörde schon bei Ahndung der Ordnungswidrigkeit nur solche Geldbußen festzusetzen, die unter Berücksichtigung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse noch einen angemessenen Sanktionscharakter haben.«

Der eine oder andere wird sich möglicherweise dunkel daran erinnern, dass der spezielle Umgang mit Obdachlosen in Dortmund in diesem Blog schon mal Thema war. Dazu dieser Beitrag:

Kafka in Dortmund? Wenn’s nur das wäre. Aus den bürokratischen Eingeweiden des Hartz IV-Systems (20.11.2017)

Auch damals ging es um Bettelei. Ausgangspunkt war diese Meldung: Meldung: »Weil eine Mitarbeiterin des Jobcenters einen Hartz-IV-Empfänger beim Betteln beobachtet hatte, wurde dem Mann ein großer Teil seiner Bezüge gestrichen. Das Betteln ist laut Jobcenter als Beruf oder Selbstständigkeit zu bewerten.« Da kommt man schon ins Grübeln: Betteln als Beruf oder Selbständigkeit? Gibt es da auch Ausbildungsgänge? Kann man eine geförderte Umschulung machen? Kann man – natürlich nach Vorlage eines Businessplans – eine Existenzgründungsförderung beantragen? Kurz zum damaligen Sachverhalt: »Weil sein Arbeitslosengeld nur knapp zum Leben reicht, bettelt ein 50-jähriger Dortmunder regelmäßig in der Innenstadt. Doch dass er für kleine Spenden stundenlang in den Einkaufsstraßen ausharrt, kommt dem Mann nun teuer zu stehen.« Doch der Mann hatte Pech dergestalt, dass das Jobcenter Dortmund mit Akribie verfolgte, wie viele Euro und Cent in seinem Pappbecher an seinem Stammplatz in der Fußgängerzone gelandet sind. Das Prüfergebnis des Jobcenters führte dann dazu, von der Hartz-IV-Zahlung ein Jahr lang monatlich 300 Euro, abzüglich einer Pauschale von 30 Euro einzubehalten. Wie kommen die jetzt auf 300 abzuziehende Euro abzüglich einer Pauschale von 30 Euro? Haben die eine Betriebsprüfung beim Bettler Hansen gemacht? Ja, so ungefähr muss man sich das vorstellen.

Und dann wurde in dem Beitrag aus dem Jahr 2017 auf Kafka rekurriert: »Wir erfahren jetzt Dinge, die für Kafka überaus inspirierend gewesen wären in ihrer ganz eigenen Gestalthaftigkeit, die sich irgendwo zwischen Komik, Absurdität und bodenlosen Zynismus bewegt.
Auftritt: Der zuständige Sachbearbeiter, der offensichtlich Zeit und endlich mal einen Fall bekommen hat, an dem er seine Rechenkünste demonstrieren konnte und durfte.
Der Herr Sachbearbeiter rechnete Herrn Hansen »in seinem Schreiben penibel vor: „Sie halten sich regelmäßig in der Dortmunder Innenstadt auf und erzielen dort Einnahmen aus Ihrer privaten Spendensammlung. Da die monatliche Höhe dieser Einkünfte variiert, werden hier zunächst 300 Euro monatlich (im Durchschnitt 10 Euro täglich) als Einkommen berücksichtigt.“

Es kam aber noch besser uns sprengt als Realität wahrscheinlich die Vorstellungswelt von Kafka und seinen Nachfolgern: »In weiteren Schreiben forderte die Behörde Hansen auf, „ein Einnahmebuch zu führen und dort die jeweiligen Tageseinnahmen zu dokumentieren“. Und weiter stand in dem Brief: „Ich weise Sie darauf hin, dass geltend gemachte Ausgaben nur noch Vorlage entsprechender Nachweise berücksichtigt werden können (Quittungen)“. Kauft sich Hansen also vom erbettelten Geld einen Kaffee, soll er sich dafür einen Beleg geben lassen, um von den Einnahmen Ausgaben abziehen zu können. Außerdem forderte das Jobcenter den Hartz-IV-Empfänger dazu auf, sich von der Gewerbemeldestelle einen Nachweis geben zu lassen, „ob es sich bei der von Ihnen ausgeübten Tätigkeit um eine meldepflichtige Tätigkeit handelt“. Dann könne er nämlich Fahrten in die Innenstadt und Verpflegungskosten absetzen, sagt der Sprecher des Jobcenters.«

Und man sollte das wahrlich nicht als Schnapsidee eines irgendwie durchgeknallten Sachbearbeiters interpretieren, der oder die schlichtweg zu viel Zeit hatte, denn das mit dem Einnahmenbuch wurde sogar mit der härtesten Waffe der Jobcenter in damaligen Zeiten verknüpft: dem vollständigen Entzug der Grundsicherungsleistungen. So wurde 2017 berichtet: »Das Jobcenter Dortmund nimmt den Fall Hansen jedenfalls so ernst, dass es ihm bereits mitgeteilt hat: Falls er nicht reagiere und die Unterlagen, also ein Buch über seine Einnahmen und Nachweise über Ausgaben, nicht vorlege, „können die Geldleistungen ganz entzogen werden“.«

Nun aber wieder zurück zu dem aktuellen Fall. Auch dem hätte Kafka sicher eine Menge Material entnehmen können, aber eines unterscheidet sich hier von dem, was Kafka in seinen so bedeutsamen Werken „Der Prozess“ und „Das Schloss“ der Nachwelt hinterlassen hat: Im aktuellen Fall mit der kafkaesken Erzwingungshaft für einen wohnungslosen, drogenabhängigen und im Rollstuhl sitzenden Obdachlosen hat sich ein Richter am Amtsgericht gefunden, der unmissverständlich der Ordnungsbürokratie zuruft: Lasst das sein. Sein Name ist Dröge.