»Die tatsächliche Durchführung von Kleinstaufträgen („Mikrojobs“) durch Nutzer einer Online-Plattform („Crowdworker“) auf der Grundlage einer mit deren Betreiber („Croudsourcer“) getroffenen Rahmenvereinbarung kann ergeben, dass die rechtliche Beziehung als Arbeitsverhältnis zu qualifizieren ist.«
So beginnt eine Mitteilung des Bundesarbeitsgerichts (BAG), die unter der trockenen Überschrift Arbeitnehmereigenschaft von „Crowdworkern“ veröffentlicht wurde. Es geht um das Urteil vom 1. Dezember 2020 – 9 AZR 102/20 des BAG. Und diese Entscheidung hat durchaus Tiefen (manche würden sagen Untiefen), über die hier am 1. Dezember 2020 in den Beitrag Frei oder abhängig (oder beides gleichzeitig)? Crowdworker zwischen Selbstständigkeit oder Arbeitnehmereigenschaft. Das Bundesarbeitsgericht hat dazu geurteilt berichtet wurde. Eine „Kracherentscheidung“ des BAG sei das gewesen, so beispielsweise Michael Fuhlrott in seinem Beitrag Ein Crowdworker war Arbeitnehmer: »Die Entscheidung – ergangen zu einem Einzelfall – bringt jedenfalls nicht gleich ihr Ende. Sie werden aber ihr Geschäftsmodell prüfen und ggf. umstellen müssen.« An die Plattformen gerichtet unterstreicht er den Ernst der Lage: »Enge Bindungen und Vorgaben an Crowdworker zur Gestaltung der Abläufe werden … nicht mehr möglich sein und bergen – aus Unternehmersicht – die „Gefahr“, dass der Crowdworker ungewollt als Arbeitnehmer zu qualifizieren ist. Damit einher gehen entsprechende Rechte: Urlaub, Kündigungsschutz, Entgeltfortzahlung und betriebliche Mitbestimmung. Als Arbeitgeber werden die Plattformen dann zudem Sozialversicherungsabgaben leisten müssen.«
Und nun geht der „Stress“ für manche Plattformbetreiber weiter: Neue EU-Richtlinie soll Arbeitsbedingungen von Online-Plattform-Beschäftigten verbessern, so haben beispielsweise Martin Gruber-Risak, Christian Berger und Frank Ey ihren Beitrag überschrieben. Sie weisen darauf hin, dass die EU-Kommission einen mit Spannung erwarteten Richtlinienentwurf zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen für Beschäftigte bei Online-Plattformunternehmen vorgelegt hat. Dieser widmet sich insbesondere drei Regulierungsbereichen: der Bekämpfung von Scheinselbstständigkeit, der Schaffung von mehr Transparenz und Fairness sowie der Einführung von umfassenden Informationspflichten.
Seit Jahren wird aus dem gewerkschaftlichen Lager ein EU-Rechtsrahmen für die Beschäftigten von Online-Plattformen gefordert (vgl. dazu beispielsweise den Beitrag Plattformarbeit – die Zeit ist reif für den nächsten Schritt: warum es eine EU-Plattformarbeits-Richtlinie braucht und was diese enthalten sollte von Martin Gruber-Risak und Christian Berger, der am 2. Februar 2021 veröffentlicht wurde). Dabei wurde immer wieder auf die prekäre Situation der dort Beschäftigten aufmerksam gemacht.
➔ Um was geht es hier eigentlich? Arbeit, die über Plattformen vermittelt wird, hat sich in den letzten Jahren stark verändert und umfasst nun sehr unterschiedliche Dienstleistungen. Unterschieden werden kann vor allem zwischen Arbeiten, die online (Crowdsourcing, Clickwork) erbracht werden, und solchen, die – online vermittelt – vor Ort und persönlich erbracht werden. Die Wirtschaftsform, die auf kurzfristigen, plattformbasierten Aufträgen basiert und in der Personen oft durch eine Vielzahl kleinteiliger Vertragsverhältnisse ihren Lebensunterhalt bestreiten, wird auch als Gig Economy bezeichnet. Plattformarbeit funktioniert als digitales Modell der Arbeitsorganisation und Leistungserbringung unabhängig von stationären Arbeits-, Güter- und Dienstleistungsmärkten. Eine Besonderheit dabei ist, dass überwiegend (vermeintlich) Selbstständige einzelne Leistungen für wechselnde Vertragspartnern auf Abruf (on demand) und im Rahmen eines dezentral und bedarfssynchron gesteuerten (Just-in-time-)Systems erbringen.
Die Arbeit dahinter kann, so das dominante Narrativ, flexibel gestaltet und von der Lage und dem Volumen her an die Bedürfnisse der Plattformbeschäftigten angepasst werden. Jene, die via Plattformen tätig sind, zum Beispiel Datenbanken bereinigen und ordnen, Übersetzungsleistungen oder kreative Dienste erbringen, Reinigungsaufträge zugeteilt bekommen oder Pakete, Grundnahrungsmittel oder frisch Gekochtes zustellen sowie Personen durch die Stadt fahren, leisten ihre Arbeit unter rechtlich unklaren und sozial unsicheren Umständen.
Gerade die Plattformwirtschaft reizt die Grauzonen zwischen rechtlich abhängiger und selbstständiger Beschäftigung aus. Damit fällt eine wachsende Gruppe von wirtschaftlich abhängigen Erwerbstätigen aus dem Geltungsbereich des Arbeitsrechts. Gewerkschaften äußern schon seit Jahren massive Bedenken hinsichtlich der Umgehung des Sozialschutzes, der Steuergesetze und vor allem des Arbeits- und Sozialrechts. Plattformen gehen undifferenziert davon aus, dass es sich bei den von ihnen „Beauftragten“ um Selbstständige handle. So kommen keine Mindestentgeltbestimmungen und Kollektiv- bzw. Tarifverträge zur Anwendung, die Entgelte sind niedrig, und es liegen massive Diskriminierungspotenziale durch den Einsatz algorithmischer (Rating-)Systeme vor. Zudem ist die Rechtsdurchsetzung aufgrund der grenzüberschreitenden Geschäftskonstruktionen sehr schwierig: Plattformen operieren zumeist in vielen Ländern gleichzeitig, die Zuständigkeit für Rechtsstreitigkeiten liegt jedoch beim Herkunftsland. (Quelle: Gruber-Risak/Berger 2021).
Mit Beginn der neuen Legislaturperiode hat die Europäische Kommission nun eingelenkt und mit Überlegungen zur Verbesserung der Situation der Arbeitskräfte auf Online-Plattformen begonnen. Das Europäische Parlament hat am 16. September 2021 eine Entschließung angenommen, in der die Kommission aufgefordert wurde, einen „Vorschlag für eine Richtlinie zu Plattformbeschäftigten vorzulegen, um die Rechte aller Plattformbeschäftigten sicherzustellen und die Besonderheiten von Plattformarbeit anzugehen, um für faire und transparente Arbeitsbedingungen zu sorgen“.
Der Richtlinienvorschlag (COM(2021) 762 vom 9.12.2021) liegt nunmehr vor. Dazu auch die Pressemitteilung der Kommission vom 09.12.2021: Vorschläge der Kommission zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Menschen, die über digitale Arbeitsplattformen arbeiten.
Die EU-Kommission schätzt, dass EU-weit über 28 Millionen Menschen über digitale Arbeitsplattformen tätig sind. 90 Prozent der Plattformarbeitenden haben bisher den Status von Selbstständigen, so Tatjana Ellerbrock in ihrem Beitrag EU-Kommission will Plattformarbeit regulieren. Die EU-Kommission will durch das Setzen von europäischen Mindeststandards die Arbeitsbedingungen von Plattformbeschäftigten verbessern. »Denn für die Bestimmung des arbeitsrechtlichen Status von Plattformarbeitenden hält das geltende Recht bisher keine klare Antwort bereit. Diskussionsthema ist insbesondere die Frage, ob diese Personen Arbeitnehmende oder Selbstständige sind.«
Die Einordnung ist sowohl für die Betreiber von Plattformen, als auch für Plattformbeschäftigte von erheblicher Relevanz: Für Arbeitnehmer gelten im Gegensatz zu Selbstständigen arbeitsrechtliche Schutzvorschriften wie beispielsweise ein gesetzlicher Mindestlohn, Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, Urlaubsansprüche und Kündigungsschutz. Ellerbrock weist darauf hin, dass die Betreiber von Plattformen bei einer fälschlich vorgenommenen Einstufung der Plattformbeschäftigten als Selbständige insbesondere sozialversicherungsrechtliche Konsequenzen riskieren: Sie haften rückwirkend für den vollständigen Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteil zur Sozialversicherung und können sich unter Umständen sogar strafbar machen wegen der Nichtabführung von Sozialversicherungsbeiträgen (§ 266a Abs. 1 StGB).
Nach Schätzungen der EU-Kommission könnten 5,5 Millionen über Plattformen Beschäftigte derzeit falsch, nämlich als Selbstständige, eingestuft sein. Von der EU-Kommission wurde ein Kriterienkatalog entwickelt, nach dem beurteilt werden soll, ob eine abhängige oder selbstständige Tätigkeit vorliegt. Da wird es gerade vor dem Hintergrund, dass diese Frage seit langem in Deutschland immer wieder strittig ist, besonders interessant. Dazu aus dem Bericht von Ellerbrock:
➔ Der von der EU-Kommission entwickelte Kriterienkatalog sieht folgende fünf Kriterien vor:
➞ Festlegung der Höhe der Vergütung bzw. von Obergrenzen der Vergütung,
➞ die Überwachung der Ausführung der Arbeit auf elektronischem Wege,
➞ die Einschränkung der Möglichkeiten, Arbeits- oder Abwesenheitszeiten frei zu wählen, Aufgaben anzunehmen oder abzulehnen oder Unterauftragnehmer oder Ersatzkräfte in Anspruch zu nehmen,
➞ die Festlegung bestimmter verbindlicher Regeln in Bezug auf Erscheinungsbild und Verhalten gegenüber dem Empfänger der Dienstleistung bzw. in Bezug auf die Arbeitsleistung sowie
➞ die Einschränkung der Möglichkeit, einen Kundenstamm aufzubauen oder Arbeiten für Dritte auszuführen.
Liegen zwei dieser fünf Kriterien (bspw. Festlegung der Höhe der Vergütung bzw. von Obergrenzen der Vergütung und Überwachung der Ausführung der Arbeit auf elektronischem Wege) vor, wird ein widerlegbarer Arbeitnehmerstatus vermutet. Hierbei soll nicht auf den einzelnen Arbeitnehmer, sondern auf die Plattform abgestellt werden. Entscheidend soll sein, ob der Plattformbetreiber ein gewisses Maß an Kontrolle über die Plattformarbeitenden ausübt. Ist dies der Fall, so wird vermutet, dass der Plattformbetreiber Arbeitgeber und der Plattformbeschäftigte Arbeitnehmer ist. Der Vorschlag enthält hierfür eine Beweislastregelung, nach der die Beweislast für das Nichtvorliegen eines Arbeitsverhältnisses beim dem Plattformbetreiber liegen soll.
Offensichtlich ist die Richtlinie der Kommission darauf ausgerichtet, Scheinselbstständigkeit zu verhindern oder wenigstens zu minimieren. Man kann es als einen grundsätzlichen rechtspolitischen Erfolg werten, wenn Ellerbrock ausführt, »dass ein einheitliches Schutzniveau in der Plattformarbeit geschaffen und ausbeuterische Arbeit untersagt werden soll. Ein einheitlicher europäischer Rechtsrahmen verhindert Ausweichreaktionen zulasten der Betroffenen, indem Plattformbetreibende ihre Mitarbeitenden in Mitgliedstaaten mit niedrigerem Schutzniveau rekrutieren.«
Gruber-Risak/Berger/Ey monieren hingegen mit Blick auf die Kriterienlösung zur Abgrenzung: »Die Beschränkung auf fünf Kriterien und die Voraussetzung, dass zwei davon erfüllt sein müssen, erscheint jedoch ziemlich restriktiv.« Dagegen richtet Ellerbrock den kritischen Blick in eine andere Richtung: »Aufgrund der geplanten Vermutung der Arbeitnehmer:inneneigenschaft anhand des Kriterienkatalogs wird es zukünftig zwar einfacher sein, eine Vermutung dieser Eigenschaft zu begründen. Offen bleibt jedoch, wie es Plattformbetreibenden in der Praxis gelingen soll, die vermutete Arbeitnehmer:innenstellung zu widerlegen. Denn dies soll weiterhin nach den national zu treffenden Definitionen passieren. Hier stellen sich eine Vielzahl von Anwendungsfragen, die derzeit noch völlig offen sind.«
Nach Ellerbrock stellen sich aber auch grundsätzliche Fragen: Wie werden Arbeitnehmerschutzrechte wirksam grenzüberschreitend durchgesetzt? Entspricht es überhaupt dem Interesse der meisten auf bzw. über Plattformen arbeitenden Menschen den Arbeitnehmerstatus zu erlangen oder legen sie nicht vielmehr größeren Wert auf den Selbstständigen-Status? Wie können Plattformbetreiber die neuen Verpflichtungen rechtssicher erfüllen, ohne das Geschäftsmodell zu gefährden?
Auch aus einer über die Plattformarbeit hinausreichenden arbeitsrechtlichen Perspektive ist der Richtlinienentwurf und die daraus möglicherweise resultierenden Regelungen von großem Interesse, denn die oftmals ungelöste oder eben nur in aufwändigen Einzelfallbetrachtungen zu beantwortende Abgrenzungsfrage zwischen Selbstständigkeit und Arbeitnehmereigenschaft spielt ja auch in vielen anderen Branchen eine gewichtige Rolle.
Nun sollte man allerdings nicht erwarten, dass es bereits sehr schnell gesetzgeberische Änderungen bei uns in Deutschland oder anderen EU-Mitgliedsstaaten geben wird bzw. geben kann, denn:
»Der Richtlinienvorschlag stellt den Beginn des Gesetzgebungsverfahrens dar. Änderungen können vom Europäischen Parlament und Europäischen Rat oder in weiteren Konsultationen durch dritte Institutionen eingebracht werden. Durchschnittlich dauert es ca. 18 Monate von der Annahme eines Richtlinienvorschlags bis zur Umsetzung im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren. Sollte die Richtlinie beschlossen werden, haben die Mitgliedstaaten regelmäßig zwei Jahre Zeit, um sie in nationales Recht umzusetzen … Die Bundesregierung dürfte vermutlich zunächst das Inkrafttreten der EU-Richtlinie – zumindest die weitere Diskussion darum – abwarten, um dann selbst gesetzgeberisch tätig zu werden.« (Ellerbrock 2022).