Unbeirrt die Fahne hoch im eigenen sozialpolitischen Schützengraben. Die „fünf Wirtschaftsweisen“ machen auch in Sozialpolitik und das wie gewohnt. Also extrem einseitig

Sie haben es wieder getan. Wie jedes Jahr im oftmals trüben November haben sie ihr Jahresgutachten der Bundesregierung in Gestalt der Bundeskanzlerin höchstpersönlich übergeben. Gemeint sind die umgangssprachlich als „fünf Wirtschaftsweise“ titulierten derzeit vier Herren und eine Dame, die den Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung bilden. Es handelt sich um ein Gremium der wirtschaftswissenschaftlichen Politikberatung. Der Rat wurde durch ein Gesetz im Jahre 1963 installiert mit dem Ziel einer periodischen Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland. In der eigenen Aufgabenbeschreibung des Rates findet man neben der durchaus nachvollziehbaren Aufforderung, sich mit Wirtschaftsthemen zu befassen, u.a. diesen Hinweis: »Aufzeigen von Fehlentwicklungen und Möglichkeiten zu deren Vermeidung oder Beseitigung, jedoch ohne Empfehlungen für bestimmte wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahmen.« Das sollten wir uns mal merken.

Das Jahresgutachten 2016/17 steht unter der wie auf einem Wahlplakat gedruckten Überschrift „Zeit für Reformen“. Und gleich im Vorwort, noch vor dem Dank an alle, die irgendwas beigetragen haben, statuieren die Wirtschaftsweisen ihren Anspruch mit energisch daherkommenden Formulierungen: »Im vorliegenden Jahresgutachten skizziert der Rat Reformen für Europa und Deutschland, um die politische Handlungsfähigkeit und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu stärken. Jetzt ist die Zeit, diese Reformen umzusetzen.« Wie war das noch mal mit der Formulierung aus der Aufgabenbeschreibung?

Man ist das aus den vielen Jahren zuvor ja schon gewohnt – erneut handeln die Herren und derzeit eine Dame auch weite Teile der Sozialpolitik ab und sie machen genau das, was sie eigentlich nicht sollen: Bestimmte sozialpolitische Maßnahmen nicht nur empfehlen, sondern deren – natürlich baldigste – Umsetzung durch die Politik auch noch mit einer nicht mehr diskussionsbedürftigen Eindeutigkeit zu versehen. Trotz des Gewöhnungseffekts wird man immer wieder in Erstaunen versetzt, dass man sich offensichtlich in unseren komplexen Sozialsystemen mit einer derart schlafwandlerischen Sicherheit bewegen kann, völlig unbeeindruckt von den Widrigkeiten der Tiefen und Untiefen der Sozialpolitik, die von den Betroffenen und den wirklichen sozialpolitischen Experten wahrgenommen und diskutiert werden.

Auch im diesjährigen Jahresgutachten widmen sie ganze Kapitel der Sozialpolitik. Da gibt es beispielsweise das Kapitel 7: Altersvorsorge: Drei-Säulen-Modell stärken. Das folgende Kapitel 8 befasst sich mit Flüchtlingsmigration: Integration als zentrale Herausforderung. Und dann setzen sie noch einen drauf mit dem Kapitel 9: Keine Kapitulation vor der verfestigten Arbeitslosigkeit. Und natürlich mussten auch sie zur Kenntnis nehmen, dass es eine intensive und sehr kritische Diskussion in unserem Land gibt hinsichtlich der Ungleichheit in der Gesellschaft. Was sie dann in diesem Kapitel verarbeitet haben: Starke Umverteilung, geringe Mobilität. Wen man es bis hierher geschafft hat, dann kommt Entlastung, denn die Weisen verlassen das sozialpolitische Terrain und sie arbeiten sich zum Ausklang an der Energiewende und der Transformation in China ab.

Nun gibt es im Jahresgutachten im ersten Kapitel eine Zusammenfassung, was man sich unter den angeblich notwendigen Reformen so vorstellt. Hier einige der sozialpolitisch besonders relevanten Leckerbissen, die man im Gutachten finden kann (S. 26 ff.):

Das Beschäftigungswachstum sollte in den Mittelpunkt der Bemühungen gestellt werden. »Ein flexibler Arbeitsmarkt mit einer hohen Qualifikation der Arbeitnehmer und entsprechenden Anreizen, produktive Leistung zu erbringen, ist langfristig am besten geeignet, um Beschäftigung sicherzustellen und wirtschaftliche Teilhabe zu gewährleisten.« Und mit welchem Beispiel will der Rat das illustrieren?

»Ein gutes Beispiel dafür sind die Reformen der Agenda 2010, die in Wechselwirkung mit einer allgemeinen Lohnzurückhaltung dazu beigetragen haben, die Arbeitslosigkeit zu drosseln und damit einen weiteren Anstieg der Einkommensungleichheit zu verhindern. Eine höhere Umverteilung der Einkommen ist somit immer gegen die Schwächung des Anreizes abzuwägen, durch Qualifikationserwerb und Leistungsbereitschaft hohe Markteinkommen zu erzielen.«

An dieser Stelle werden nicht nur diejenigen aufstöhnen, die tagtäglich erfahren müssen, dass die Kombination aus Qualifikationserwerb und Leistungsbereitschaft eben oftmals nicht zu hohen Markteinkommen führen. Es werden sich auch Stimmen zur Wort melden, die zaghaft anfragen, ob nicht mit der Agenda 2010 der Auf- und Ausbau des größten Niedriglohnsektors in Europa einhergegangen ist, worauf Gerhard Schröder noch heute stolz ist.

Aber einfach vom Tisch wissen können die Wirtschaftsweisen natürlich nicht, dass wir ein echtes Ungleichheitsproblem haben. Sonst müsste man zu viele Ökonomen, die darauf hinweisen, für total bescheuert erklären und die Datenlage gibt denen ja auch noch an vielen Stellen recht. Also wählt man die Strategie der Vorwärtsverteidigung. Zuerst hau man so eine Diagnose raus:

»Allerdings ist die Vermögensungleichheit in Deutschland hoch, und die Einkommens- und Vermögenspositionen sind verfestigt.«

Fast schon ist man bereit, Gefühle zu entwickeln, da schlägt die argumentative Guillotine zu:

»Der geringe Aufbau von privaten Nettovermögen hat verschiedene Gründe. So reduziert beispielsweise das bereits umfangreiche Steuer- und Sozialversicherungssystem gerade für einkommenschwächere Haushalte die Anreize und Möglichkeiten zur privaten Vermögensbildung.«

So ist das, wenn man die einkommensschwächeren Haushalte „zu gut“ absichert über den Sozialstaat, sie haben dann einfach keinen Anreiz mehr, privates Vermögen zu bilden. Darauf muss man erst einmal kommen und das sollte man den Betroffenen aber ganz schnell sagen.

Überhaupt kann man an diesem sensiblen Punkt exemplarisch verdeutlichen, wie gespalten der Sachverständigenrat zugleich ist, worauf Markus Sievers in seinem Artikel Wer hört noch auf die Weisen? hinweist. Anders ausgedrückt: Vier gegen einen:

»Grundlegende Differenzen zeigen sich auch in der Debatte über die Gerechtigkeit in Deutschland. Diese Diskussion werde hierzulande intensiv geführt, konstatieren die vier Mehrheitsökonomen. Das aber stößt auf ihr Unverständnis. „Allerdings ist die Ungleichheit im vergangenen Jahrzehnt weitgehend unverändert geblieben.“ Dagegen heißt es in einem Minderheitsvotum von Bofinger: „Bei der Entwicklung der Nettoeinkommen von Personen in Haushalten mit mindestens einem erwerbsfähigen Haushaltsmitglied hat sich seit dem Jahr 1999 eine deutliche Schere herausgebildet.“ Für die zehn Prozent am oberen Rand seien die Einkommen seitdem um zehn Prozent gestiegen, für die am unteren um zehn Prozent gefallen.«

Dass der Sachverständigenrat sogleich der immer wieder geforderten Wiederbelebung der Vermögenssteuer eine Absage erteilt, wird viele nicht wirklich verwundern. Aber was dann tun gegen die Ungleichheit, die sich zudem verfestigt hat?

Man ahnt es schon, da muss dann mal wieder die frühkindliche Bildung ran: »Dazu zählen Maßnahmen, die das Bildungssystem durchlässiger machen, sowie ein verpflichtendes, kostenfreies Vorschuljahr.«

Ja Wahnsinn. Für mehr Durchlässigkeit sind irgendwie alle und der konkrete Vorschlag mit einem „verpflichtenden, kostenfreien Vorschuljahr“ offenbart nicht nur hinsichtlich der Semantik das totale Zurückbleiben der sachverständigen Räte hinter einer jahrelangen Diskussion und Forschung im Bereich der frühkindlichen Bildung und Betreuung. Dass man im November 2016 eine Forderung in den Raum stellt, die man vielleicht um die Jahrtausendwende hätte aufstellen können, spricht für die totale Leerstelle, die man hier identifizieren muss.

Und der Arbeitsmarkt? Auch hier bleibt man in der eigenen Blase gefangen. Es wird dann zum einen darauf hingewiesen, dass wir mit Blick auf die Erwerbstätigen die bislang höchste Beschäftigtenzahl erreicht haben, zugleich aber ist bis zu den Wirtschaftsweisen das vorgedrungen, was Arbeitsmarktexperten seit vielen Jahren unter Begriffen wie verfestigte und verhärtete Langzeitarbeitslosigkeit diskutieren. Dafür hat man natürlich ein Rezept aus der alten Hausapotheke: »Der Niedriglohnsektor ist für die Bewältigung dieser Herausforderungen der Dreh- und Angelpunkt.« Na klar, das war erwartbar:

»Aufgrund des zu erwartenden Anstiegs des Arbeitsangebots im niedrigproduktiven Bereich, beispielsweise durch den Arbeitsmarkteintritt von anerkannten Asylbewerbern, muss die Aufnahmefähigkeit des Niedriglohnsektors weiter gestärkt werden … Zusätzlichen Maßnahmen, die Neueintritte behindern und Schutzwälle um die bereits Beschäftigen errichten, sollte eine Absage erteilt werden. Um die Arbeitnehmer von übermäßigen Anpassungserfordernissen abzuschirmen, dürften die bestehenden Mechanismen am Arbeitsmarkt wie Kündigungsschutz und Tarifbindung bereits hoch genug sein.«

Bitte? Ist die ganze Diskussion über die seit Jahren abnehmende Tarifbindung etwa an den Wirtschaftsweisen vorbeigegangen? Oder wollen sie das einfach nicht aufrufen?
Ja, natürlich, die Drängler unter den Lesern werden es wissen – jetzt ist der Mindestlohn nicht mehr weit weg.

»Der Mindestlohn stellt dabei eine Hürde für die Aufnahmefähigkeit des Niedriglohnsektors dar, weil er die Entstehung von Arbeitsplätzen für Niedrigproduktive behindert. Diese Hürde ist im derzeitigen Konjunkturaufschwung mit Rekordbeschäftigungsstand und steigenden Löhnen geringer als bei einem Konjunkturabschwung.«

Sie werden sich nie abfinden mit dem Mindestlohn, was auch alles nicht passiert.

Zu den Arbeitsmarkt-Vorschlägen vgl. auch der Beitrag Wirtschaftsweise zur Langzeitarbeitslosigkeit: Deregulierung des Arbeitsmarktes soll helfen von O-Ton Arbeitsmarkt – mit dieser Anmerkung: »Im Übrigen interessant: Die bei fast allen Kapiteln des Gutachtens enthaltene „andere Meinung“ gibt es zum  Thema „verfestigte Arbeitslosigkeit“ nicht.«

Und das nur als Fußnote: Dass man offensichtlich in einem „weisen“ Gutachten am Ende des Jahrs 2016 das hier schreiben kann, zeigt die unauslöschliche Liebe zu völlig altbackenen Positionen:

»Ein erleichterter Zugang in geschützte Dienstleistungsbereiche, etwa durch Abschaffung des Meisterzwangs bei nicht gefahrgeneigten Berufen, könnte die Selbstständigkeit fördern.«

Auch hier hat man entweder die zahlreichen ernüchternden Erkenntnisse hinsichtlich der Nicht-Beschäftigungswirkungen der Deregulierung im Handwerk nicht zur Kenntnis genommen oder man ignoriert die geflissentlich, weil man nicht das kindliche Gottvertrauen in die Deregulierung an sich aufzugeben bereit ist. Dass ist aber selbst für Ökonomen ein trauriges Stück.

Wünschenswert sei eine stärkere Förderung der Qualifikation am unteren Ende der Qualifikationsskala. Und auch hier wird eine offensichtlich seit mehreren Jahrzehnte lebende Leiche ins Feld geführt: »Dies könnte zum Beispiel durch eine stärkere Modularisierung von Ausbildungswegen erreicht werden.« Wann endlich begreift man auch im Rat, dass gerade die breite und auch länger dauernde Ausbildung ein richtiges Pfund ist, das wir (noch) haben in unserem Land und dass die bestehenden Ausbildungen ein sicher wichtiger Faktor für die (noch) guten Rahmenbedingungen darstellen.

Beim Thema Flüchtlinge finden sich die üblichen salbungsvollen Worte hinsichtlich der besonderen Bedeutung einer Integration in Bildungseinrichtungen und/oder in Jobs. Konkreter:

»Fördermaßnahmen, wie Arbeitsgelegenheiten oder Lohnzuschüsse könnten sich für anerkannte Asylbewerber eher als für andere Arbeitslose als geeignet erweisen, um sie an den Arbeitsmarkt heranzuführen … Die Einstiegshürden in den Arbeitsmarkt sollten niedrig gehalten werden. Denn flexible Beschäftigungsmöglichkeiten, beispielsweise Zeitarbeit und Werkverträge, sowie selbstständige Arbeit bieten Chancen für den Einstieg in den Arbeitsmarkt.«

Und was ist mit dem so wichtigen Feld der Gesundheitspolitik? Auch hier nur altes Gebäck und konsequenterweise zitieren die Wirtschaftsweisen einfach nur noch aus ihren alten Gutachten, wenn es um das von ihnen erneut aufgerufen Ziel geht, „Ineffizienzen“ im Haifischbecken Gesundheitspolitik zu beseitigen:

»Dazu zählen die Stärkung der Vertragsfreiheit durch Ausweitung der Nutzung von Selektivverträgen (JG 2012 Ziffern 629 ff.), der Übergang zur monistischen Krankenhausfinanzierung (JG 2012 Ziffer 635), die Wiedereinführung und ziel- führende Weiterentwicklung der Praxisgebühr (JG 2012 Ziffer 594), die Aufhe- bung des Fremd- und Mehrbesitzverbots von Apotheken (JG 2010 Ziffer 425) und die Ausdehnung von Kosten-Nutzen-Analysen im Arzneimittelbereich auf den Bereich der alternativen Medizin … Das jüngste Urteil des EuGH, das die Preisbindung für verschreibungspflichtige Medikamente in Deutschland im Widerspruch zu EU-Recht sieht, könnte mehr Wettbewerb unter Apotheken ermöglichen.«

Und mehr als schmunzeln muss man im Jahr 2016, wenn der Rat schreibt: »Außerdem hält der Sachverständigenrat die einkommensunabhängige Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) durch die Einführung einer Bürgerpauschale mit integriertem Sozialausgleich nach wie vor für die beste Finanzierungsform.« Warum soll man auch seine Meinung ändern, selbst wenn diese Diskussion nun schon seit Jahren beerdigt ist.

Ja, natürlich sagen sie auch was zur Rentenpolitik, die in diesen Tagen so im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit steht. Aber auch hier gilt – man sollte nichts erwarten, was einen irgendwie überraschen könnte und vor allem keine Auseinandersetzung mit dem nun mal komplexen Diskurs über das vielschichtige Alterssicherungssystem. Einige Empfehlung geben sie uns mit auf den Weg:

»Die Folgen des demografischen Wandels in der GRV lassen sich nicht beseitigen, aber abmildern. Dazu ist aus Sicht des Sachverständigenrates eine weitere Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsalters nach 2030 notwendig. Angesichts der steigenden ferneren Lebenserwartung bietet sich eine Kopplung an diese an, damit die relative Rentenbezugsdauer über die Zeit nicht weiter ansteigt. Dies würde bis zum Jahr 2080 bei einer Lebenserwartung von 88 Jahren für Männer und 91 Jahren für Frauen zu einem gesetzlichen Renteneintrittsalter von 71 Jahren führen.«

Und wie ist das mit den Selbständigen und deren oftmals nur rudimentär vorhandene Alterssicherung?

»Eine Ausweitung des Versichertenkreises durch eine Pflichtversicherung von Selbstständigen in der GRV ist keine Lösung des Nachhaltigkeitsproblems. Sie dürfte zu einer Leistungsausweitung für die heutige Rentnergeneration führen, während sich das Nachhaltigkeitsproblem für zukünftige Generationen verschärft. Der Sachverständigenrat plädiert hingegen für eine Vorsorgepflicht für Selbstständige, wobei Wahlfreiheit darin bestehen sollte, diese über die gesetzliche oder private Altersvorsorge zu erfüllen.«

Und auch das ist nicht überraschend – der Sachverständigenrat plädiert für eine Stärkung der zweiten und dritten Säule der Alterssicherung in Deutschland, also für einen weiteren Ausbau der kapitalgedeckten Systeme. »Mit einem stärkeren Gewicht auf die betriebliche und private, Riester-geförderte Altersvorsorge wird das System insgesamt krisenfester und federt gleichzeitig verschiedene Risiken ab«, wird einfach mal so behauptet, ohne auch nur zu zucken angesichts der vielfältigen Kritik an so einer Behauptung.

Besonders dreist ist die Bewertung der von vielen als gescheitert eingestuften Riester-Rente:

»In der privaten Altersvorsorge muss es darum gehen, den Verbreitungsgrad der Riester-Rente vor allem bei Geringverdienern zu erhöhen. Dabei dürften die Unkenntnis der Förderberechtigung, die (falsche) Annahme, später auf die Grundsicherung im Alter angewiesen zu sein, Marktintransparenz und fehlende finanzielle Bildung für den unzureichenden Verbreitungsgrad verantwortlich sein. Eine Verbesserung des Finanzwissens, eine allgemeine Förderberechtigung und mehr Transparenz wären daher sinnvoll.«

Die Leute, vor allem die in den unteren Einkommensbereichen, sind einfach zu blöd, die Ästhetik der Riester-Rente in all ihrer Pracht zu verstehen.

Aber auch hier muss wieder auf den Riss hingewiesen werden, der durch den Sachverständigenrat geht. Mit Peter Bofinger stellt ein Wirtschaftsweiser der Mehrheit bei fast allen wichtigen Punkten eine andere Position entgegen. Sieben Minderheitsvoten belegen die tiefen Meinungsverschiedenheiten. Dazu Markus Sievers in seinem Artikel am Beispiel der Riester-Rente:

»Das Mehrheits-Quartett lobt die Einführung der Riester-Rente als wichtigen und richtigen Schritt. Auch diese Einschätzung provoziert Widerspruch. Diese private Vorsorge mit staatlicher Unterstützung habe gerade bei den Menschen mit niedrigen Einkommen nicht zu einem erhöhten Sparaufkommen geführt, so Bofinger. Weil gleichzeitig aber die Leistungen der gesetzlichen Rente gekürzt wurden, drohe verstärkt Altersarmut.«

In Ordnung, alles muss ein Ende haben, so auch der kurze Ausflug in das sozialpolitische Niemandsland des Sachverständigenrats. Das ist insgesamt eine Nullnummer. Und erneut zeigt sich, dass es gut wäre, wenn man ein wirklich kompetentes Gremium zur Begleitung der Sozialpolitik hätte – wenn man ein überhaupt diesen Gremien noch irgendeinen Sinn zuschreiben möchte. Inhaltlich ist das, was man sozialpolitisch aus dem Gutachten serviert bekommt, ein extrem einseitiges und an vielen Stellen völlig von den Forschungsbefunden und den praktischen Erfahrungen in den Sozialsystemen entkoppeltes Gebräu aus angebotsorientierter Ökonomen-Denke, die uns in keinerlei Hinsicht weiterhilft.

Das Rentenreformdiskussionskarussell dreht sich. Die Umrisse der Folgen einer hilflos-konfusen Rentenpolitik werden erkennbar

Die Diskussion über die Zukunft der Alterssicherung hat in den vergangenen Monaten ordentlich Fahrt aufgenommen. Und der noch amtierenden Bundesregierung ist klar, dass sie vor Beginn des Wahlkampfs irgendwas machen muss, um die Wogen geglättet zu bekommen – auch unabhängig davon, dass sich die Großkoalitionäre selbst unter noch offenen rentenpolitischen Handlungszwang gesetzt haben durch den eigenen Koalitionsvertrag aus dem Dezember 2013. Darin heißt es neben den bereits abgearbeiteten Punkte, man werde die betriebliche Altersvorsorge stärken: »Sie muss auch für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Klein- und Mittelbetrieben selbstverständlich werden. Daher wollen wir die Voraussetzungen schaffen, damit Betriebsrenten auch in kleinen Unternehmen hohe Verbreitung finden.« Und für die armen Schlucker in der Rentenversicherung hatte man sich auch was vorgenommen: »Wir wollen, dass sich Lebensleistung und langjährige Beitragszahlung in der Sozialversicherung auszahlen. Wir werden daher eine solidarische Lebensleistungsrente einführen. Die Einführung wird voraussichtlich bis 2017 erfolgen.« Und mit Blick auf die noch ausstehende Renteneinheit zwischen West und Ost: »Der Fahrplan zur vollständigen Angleichung, gegebenenfalls mit einem Zwischenschritt, wird in einem Rentenüberleitungsabschlussgesetz festgeschrieben« (vgl. zu allen Zitaten Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, Berlin, 14.12.2013, S. 52 f.). Offensichtlich sind da noch einige Baustellen offen. 

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Das große Durcheinander um Rentenniveau, Niveau der Renten, Rente als Wahlkampfthema. Und eine rechnerische Gewissheit mit fatalen Folgen

Die Debatte über die Zukunft der Rente ist voll entbrannt und die Töne werden schriller, offensichtlich auch, weil bei einigen Akteuren die Nerven blank liegen. Anders sind solche Meldungen nicht zu interpretieren: Merkel warnt Gewerkschaften vor ungewollter AfD-Hilfe: Bei »einem Treffen des CDU-Präsidiums mit dem DGB-Bundesvorstand (übte sie) scharfe Kritik an der Rentenkampagne der Gewerkschaften. Diese beförderten ohne Not die Angst vor Altersarmut, beklagte Merkel. Nach Angaben von Teilnehmern fragte sie, ob die Gewerkschaften der AfD „in die Hände spielen“ wollten.« Der DGB will mit einer Kampagne einen Kurswechsel in der Sozialpolitik erzwingen, dazu gehören Slogans wie: „Rente muss auch morgen reichen!“ Die Gewerkschaften fordern, dass das Rentenniveau mindestens auf dem heutigen Stand bleiben müsse. Zur Rentenkampagne des DGB: www.rente-muss-reichen.de. Das hätte natürlich Folgen auf der Beitragsseite, denn wenn das Rentenniveau nicht mehr weiter absinkt, dann müssen im gegebenen System die Beitragseinnahmen erhöht werden, um in der Zukunft ein höheres Niveau finanzieren zu können. Rente: Verdi-Chef Bsirske will Beitragssatz von 26 Prozent, sind dann Meldungen, die in einem solchen Umfeld herauskommen. Man kann sich vorstellen, wie das von den Gegnern einer solchen Rentenpolitik herausgegriffen und skandalisiert wird.
Die Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) und ihr Ministerium haben diese Tage selbst die Debatte mit Zahlen befeuert. Rentenniveau droht drastisch zu sinken, so und ähnlich wurden die Berichte über die Berechnungen des BMAS überschrieben. 

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Flexi-Rente: Entschärfung des Renteneintrittsfallbeils oder doch nur ein Nirwana von (sinkender) Rente plus Zuverdienstnotwendigkeit?

Wer erinnert sich noch an die Einführung der Altersteilzeit in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre, mit der die bis dahin geltenden Vorruhestandsregelungen abgelöst wurden? Wie so oft in der Sozialpolitik gab es überzeugend klingende gute Absichten, die man damit verwirklichen wollte: Älteren Mitarbeitern einen gleitenden und frühzeitigen Übergang in den Ruhestand ermöglichen und gleichzeitig sollten Anreize geschaffen werden, die freiwerdenden Arbeitsplätze mit jüngeren Arbeitskräften neu zu besetzen. Ganz offensichtlich eine win-win-Situation, sowohl für die Älteren, die vorzeitig in den Ruhestand wechseln konnten, wie auch für die vielen Jüngeren, die damals mit hoher Arbeitslosigkeit konfrontiert waren. Grundsätzlich wurden zwei unterschiedliche Ausgestaltungen der Altersteilzeit eröffnet: Zum einen das – vor dem Hintergrund der beschriebenen Hoffnungen idealtypische – Gleichverteilungsmodell (kontinuierliche Altersteilzeit). Hier reduziert der Mitarbeiter über den ganzen Zeitraum der Altersteilzeit seine Arbeitszeit auf die Hälfte seiner ursprünglichen Arbeitszeit. Dahinter stand die doppelt positive Erwartung, dass zum einen der ältere Arbeitnehmer seine Arbeitszeit reduziert und gleitend in den Ruhestand wechselt, eben nicht so abrupt von heute auf morgen, mit einem Schlag, was nicht selten dazu führt, dass der von einem Moment auf den anderen von Hundert auf Null gesetzte Arbeitnehmer aus den Gleisen geworfen wird und nicht mehr viel von seiner Rente hat. Zum anderen hatte man die Vorstellung, dass dieses Modell eine längere Übergangsphase an die jüngeren Mitarbeiter ermöglichen würde, also eine Art gestreckte Staffelübergabe. Soweit die Theorie.

Aber es gab ja auch noch eine andere Variante, die nachgeschoben wurde: Die dann fast ausschließlich genutzte Form der Altersteilzeit – das Blockmodell. In der ersten, sogenannten Arbeitsphase bleibt die wöchentliche Arbeitszeit ungekürzt. In der zweiten Phase, der Freistellungsphase, wird der Arbeitnehmer von vollständig von der Arbeit freigestellt. Über die Gesamtdauer ergibt sich also auch hier eine Reduzierung der Arbeitszeit. Man arbeitet also das frühere volle Ausscheiden aus dem Betrieb vor. Damit wurde im Ergebnis allerdings nur eine Vorverlegung des „normalen“, also abrupten Ausscheidens aus dem Erwerbsleben erreicht. 

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USA: Gefängnisse als lukrative Profitquelle, Reformimpulse des Bundes und das Aufbegehren einiger Insassen. Und bei uns?

Die USA sind ein in jeder Hinsicht großes Land. Groß, sehr groß, ist auch die Zahl der Menschen, die sich hinter Gittern befinden. Insgesamt sitzen mit 2,2 Millionen Menschen in den USA mehr Bürger im Gefängnis als in Russland und China zusammen. Verglichen mit Deutschland liegt die Quote neunmal höher pro Kopf der Bevölkerung.  Die USA stellen fünf Prozent der Weltbevölkerung, aber 25 Prozent der Gefängnisinsassen. Seit 1980 hat sich die Zahl der Einsitzenden von 500.000 auf 2,2 Millionen mehr als vervierfacht. Und die meisten wird es auch nicht überraschen, dass es vor allem Schwarze und Latinos sind, die einsitzen. Beide Gruppen stellen 30 Prozent der Bevölkerung, aber mehr als 60 Prozent der Gefängnisinsassen. Einer von 35 männlichen Schwarzen und einer von 88 Latinos sitzt derzeit im Gefängnis. Dagegen sitzt nur einer von 214 weißen Männern in einer Haftanstalt. Das Thema Knast fasziniert und polarisiert in den Vereinigten Staaten. Auf der einen Seite: Die Netflix-Serie „Orange is the New Black“ ist Kult, sie spielt hinter Gittern. Davor gab es andere Serien wie „Prison Break“. Auf der anderen Seite war Barack Obama der erste Präsident überhaupt, der ein Gefängnis besucht hat. Dazu der Beitrag Obama verlangt Reform des US-Strafrechts von Marcus Pindur aus dem Juli 2015: »Die Visite in der Bundeshaftanstalt El Reno ist Teil seiner Bemühungen, eine Strafrechtsreform zu erreichen. Amerikas Gefängnisse sind nach Ansicht vieler Demokraten und Republikaner zu voll, die harten Strafen treffen Angehörige ethnischer Minderheiten überproportional. Das El-Reno-Gefängnis in Oklahoma ist in vieler Hinsicht durchschnittlich. 1.300 Gefangene, mittlere Sicherheitsstufe, zu fast 50 Prozent überbelegt. Die meisten Insassen sitzen wegen kleinerer Drogenvergehen ein, müssen aber teilweise drakonische Strafen verbüßen.«

„Hier sind junge Leute, die Fehler gemacht haben. Fehler, die sich nicht viel von denen unterscheiden, die ich gemacht habe, und die viele von Ihnen gemacht haben“, so Barack Obama beim Besuch des Gefängnisses.

Man muss sich das mal vorstellen: »In den 90er-Jahren, während der Crack-Kokain-Epidemie, führten viele Bundesstaaten drakonische Strafen selbst für kleinere Drogenvergehen ein. Wer in Kalifornien beispielsweise dreimal bei einem Drogendelikt erwischt wird, und seien es nur wenige Gramm Marihuana, den muss der Richter qua Gesetz lebenslang ins Gefängnis schicken.«

Selbst auf der republikanischen Seite gibt es Unterstützung für Obamas Anliegen einer Strafrechtsreform, beispielsweise vom Gouverneur Chris Christie, der so zitiert wird:

„Wenn wir schon Leute ins Gefängnis stecken, dann müssen wir ihnen etwas Sinnvolles zu tun geben, sie sollten nicht nur den ganzen Tag fernsehen. Wir sollten zum Beispiel darauf dringen, dass sie einen Highschool-Abschluss nachholen, damit ihre Chancen nach der Freilassung besser sind.“

Das war vor einem Jahr. Wie sieht es aktuell aus? Warum hat sich bislang so wenig getan? Man liegt nicht falsch mit der Annahme, dass es Interessen, mächtige Interessen geben muss, die einer solchen Reform entgegenstehen. Darüber berichtet Frank Wiebe in seinem Artikel Das lukrative Geschäft mit dem Knast.  Er weist darauf hin, dass viele Gefangene in privaten Haftanstalten einsitzen, und die bringen das große Geld. Die Politik will das ändern – zum Ärger der Aktienbesitzer.

»Sally Yates, stellvertretende Generalstaatsanwältin des Landes, möchte auf Bundesebene den Strafvollzug verbessern und sich von privaten Gefängnisbetreibern verabschieden.«
In einem Memorandum hat die Staatsanwältin ausgeführt:

»„Private Gefängnisse spielten eine wichtige Rolle in einer schwierigen Periode, aber im Lauf der Zeit hat sich gezeigt, dass sie im Vergleich zu den staatlichen Einrichtungen schlechter abschneiden. Sie bieten im Strafvollzug einfach nicht dasselbe Niveau an Service, Programmen und Ressourcen; sie bringen auch keine deutliche Kostenersparnis.“
Noch wichtiger aber ist: „Sie bieten nicht dasselbe Maß an Sicherheit.“ Es habe sich als schwierig erwiesen, Erziehungsprogramme in private Einrichtungen auszulagern – diese Programme seien aber wichtig, um Rückfälle von entlassenen Häftlingen zu vermeiden … Yates will daher bestehende Verträge auslaufen lassen und letztlich die privaten Gefängnisse ganz loswerden.«

Dieses von der Presse veröffentlichte interne Memorandum hat ganz handfeste Auswirkungen gehabt:

»Als Folge dieser Ankündigung brachen die Aktienkurse der privaten Gefängnisbetreiber dramatisch ein. Die Papiere von Corrections Corporation of America etwa rutschten um 35 Prozent ab. Das Unternehmen wurde 1983 gegründet und ist der größte private Gefängnisbetreiber der USA mit über 60 Einrichtungen und 90.000 Betten. Im ersten Halbjahr 2015 erzielte das Unternehmen 911 Millionen Dollar Umsatz und 104 Millionen Gewinn nach Steuern.«

Und das, obwohl die Ankündigung nur einen kleineren Teil der Gefängnisse betrifft, denn: »Die Bundesregierung kann … nur über die Bundesgefängnisse entscheiden. Die weitaus größere Zahl der Insassen befindet sich im Gewahrsam der 50 Bundesstaaten, die in großem Umfang über eigene Gefängnisse verfügen. Ebenfalls unberührt von der neuen Regelung bleiben offenbar auch Verträge der Einwanderungsbehörde mit privaten Anbietern.«

Nicht nur, aber auch vor dem Hintergrund der kommerziellen, profitgetriebenen Interessen wird es nicht einfach werden, die verfehlte Strafvollzugspolitik in den USA zu verändern (vgl. dazu bereits auch meinen Blog-Beitrag Ein sehr spezielles Billiglohnmodell in den USA: Warum man in Kalifornien Gefangene nicht vorzeitig aus dem Knast lassen möchte und was das mit den Waldbränden und ihrer Bekämpfung zu tun hat vom 18. November 2014), obgleich es gute Gründe dafür gibt:

»Bereits seit einigen Jahren gibt es Versuche, die Zahl der Gefangenen zu senken – zum Teil aus humanitären Gründen, zum Teil aber auch, weil die Gefängnisse teuer sind. Zudem setzt sich die Erkenntnis durch, dass gerade in problematischen Stadtteilen häufig Jugendliche schon früh wegen kleiner Delikte hinter Gittern landen und dort erst zu richtigen Verbrechern werden.
Außerdem führen lange Gefängnisstrafen für Väter dazu, dass die Mütter mit allen Finanz- und Erziehungsproblemen alleine klar kommen müssen, was zur Benachteiligung der Kinder und damit oft gleich wieder zum Abrutschen in die Kriminalität führt«, so Frank Wiebe in seinem Artikel.

Auch Andreas Ross beschäftigt sich in seinem Beitrag Wie Amerika seine Gefangenen besser behandeln will mit dem Thema. Er berichtet von einer Gefangenenrevolte im Mai 2012 in einer Justizvollzugsanstalt des Bundes in Mississippi, die von dem privaten Gefängniskonzern Corrections Corporation of America betrieben wird. Die Forderungen der Gefangenen werden so zitiert: „Wir wollen besseres Essen, ärztliche Versorgung, Aktivitäten, Kleidung. Und wir wollen etwas Respekt!“

Aber auch Ross weist darauf hin, dass der Vorstoß für eine Justizreform seitens des Bundes nur eine sehr kleine Minderheit der Gefangenen insgesamt betrifft: Insgesamt haben wir 2,2 Million Gefangene in den USA. Von den knapp 200.000 Häftlingen des Bundes wurde noch nicht einmal jeder Achte in eine von dreizehn privaten Einrichtungen eingewiesen. Und von dem angekündigten Abschied von den privaten Betreibern ist auch nicht die Einwanderungspolizei betroffen, die kaum eigene Gefängnisse besitzt und die Inhaftierung zu deportierender Ausländer fast vollständig externen Dienstleistern überlässt.

»Die großen Gefängniskonzerne dürften weiterhin das Ohr maßgeblicher Politiker haben. Vor allem ihre Personalkosten fallen niedriger aus, weil Bundesstaaten als Arbeitgeber oft großzügigere Löhne und Sozialleistungen bieten müssen. Doch nach Ansicht der Kritiker führt gerade das zu einem Mangel an qualifizierten Wärtern und Betreuern, wodurch wiederum Sicherheits- und Gesundheitsrisiken entstünden.« Damit legt Ross den Finger auf eine klaffende Wunde. Er selbst formuliert das so: » In der Lobbymacht des in den vergangenen drei Jahrzehnten geradezu explodierten Wirtschaftszweigs liegt vielleicht das grundlegendste Problem, das die Privatisierung verursacht hat. Mit Wahlkampfspenden, Lobbying und „Formulierungshilfen“ für ehrenamtliche Volksvertreter versuchen sie, ihre Interessen durchzusetzen. Und das ist leicht zu ergründen: Wenn immer mehr Personen immer länger weggesperrt werden, dann locken umso saftigere Profite.«
Und gleichsam als Ausblick, der mehr als nachdenklich stimmen sollte:

»Den gegenläufigen Trend haben die Gefängniskonzerne natürlich nicht erst jetzt erkannt. Längst bieten sie den Staaten ihre Dienste auch auf den Gebieten des Drogenentzugs und der Betreuung geistig Kranker an. Immer mehr Politiker mögen in Rehabilitationsprogrammen die Lösung für ein gesellschaftliches Großproblem sehen. Für manche Unternehmen sind sie die nächste Wachstumsbranche.«

Und was ist mit den Betroffenen selbst? Über eine Entwicklungslinie berichtet Jürgen Heiser in diesem Artikel: Wider das Sklavensystem: US-Gefangene planen am 9. September landesweiten Streik in den Gefängnissen.

»Ab dem 9. September werden sich die Insassen zahlreicher US-Gefängnisse mit Arbeitsstreiks gegen ihre sich dramatisch verschlechternde Lage zur Wehr setzen. Das gab ein Aktionsbündnis bekannt, in dem sich Gruppen zusammengeschlossen haben, die Gefangene in ihrem Kampf um ihre Rechte und gegen den institutionellen Rassismus im Land unterstützen. Nach monatelangen Vorbereitungen gehen die Organisatoren derzeit von einer Beteiligung in wenigstens 20 US-Bundesstaaten aus.«

Der 9. September wurde nicht ohne Grund für die geplante Aktion ausgewählt: Der Tag »markiert den 45. Jahrestag eines Aufstands in der Haftanstalt von Attica im Norden des US-Bundesstaats New York. 1.500 Insassen, vorwiegend Schwarze und Latinos, erhoben sich 1971 gegen die unhaltbaren Zustände in dem berüchtigten Hochsicherheitsgefängnis … Dabei starben 30 Gefangene und neun Wärter.«

Wogegen richten sich die geplanten Proteste?

»Die Kritik richtet sich hauptsächlich gegen den seit Jahren wachsenden Druck auf die Insassen, weil die Haftanstalten überfüllt sind, die medizinische Versorgung miserabel ist und Resozialisierungs- oder Wiedereingliederungsprogramme kaum noch existieren. Den zunehmend höheren Strafurteilen steht die immer seltenere Aussetzung der Strafen zur Bewährung gegenüber. So wächst das Heer rechtloser Zwangsarbeiter in der lukrativen Gefängnisindustrie staatlicher und privater Vollzugsanstalten. Wer dort keinen Willen zu arbeiten zeigt und sich nicht absolut der Anstaltsdisziplin unterwirft, verliert jeden Anspruch auf Hafterleichterungen oder vorzeitige Entlassung, wird statt dessen isoliert oder mit Besuchsverboten und ähnlichem schikaniert.«

Maßgeblicher Akteur ist die „Formerly Incarcerated, Convicted People and Families Movement“ (FICPFM), eine von Exgefangenen und ihren Familien gegründete Bürgerrechtsorganisa­tion im kalifornischen Oakland. Für den 9. und 10. September hat die FICPFM ihre erste nationale Konferenz nach Oakland einberufen.

Es tut sich also einiges, aber so bitter das klingen mag: Wirklich tiefgreifende Reformen sind erst dann zu erwarten, wenn die Kosten des irrsinnigen Strafvollzugssystems entsprechende Maßnahmen auslösen und gleichzeitig sollte man sich darüber bewusst sein, dass es in den USA zahlreiche Widerstände gegen eine Lockerung des Strafvollzugs gibt, die neben den ökonomischen Interessen der Gefängnisindustrie in Rechnung zu stellen sind.

Und bei uns?

Schauen wir zuerst auf die europäische Ebene. Hierzu hat Frieder Dünkel, Professor für Kriminologie und Strafrecht an der Universität Greifswald und Präsident der European Society of Criminology, einen aktuellen Beitrag verfasst unter der Überschrift The rise and fall of prison population rates in Europe:

»Europe in the early 2000s was rather clearly divided in the “good” and the “bad” countries on this basis. On the one hand we had the “good” Scandinavian countries, with very low prison population rates, and on the other hand Eastern European countries of the old Soviet empire, in particular Russia, the Ukraine and the Baltic states. These Eastern “bad guys” were competing with the US, the nation boasting the highest incarceration rates in the world, with more than 700 prisoners per 100.000 of the population.«

Bis in die frühen 2000er Jahre kann man in den Daten einen Anstieg der Zahl der Inhaftieren in Europa erkennen, was als Ausdruck des „punitive turn“ interpretiert wurde. England und Wales standen als Prototypen für das “neo-correctional model”.

Doch das hat sich in den vergangenen Jahren deutlich verändert. Beispiel Niederlande: »Data for some Western European countries … indicate astonishing changes in prison population rates. The Netherlands, with traditionally low levels in the 1980s experienced a quadruplicating prison population by 2006, and then a decrease in the following 10 years by 46% (from 128 to 69).« In Deutschland hat die Zahl der Gefangenen seit 2003 um 22 Prozent abgenommen. Aber dieser Trend einer Abnahme der Gefangenenzahlen wird als nicht gesichert angesehen, denn »there is a great deal of uncertainty about future developments: The refugee problem could lead to a new wave of incarceration and the moderate crime policy development in some countries, such as Germany, could be reversed by terrorist acts and influence the penal climate … New right wing populist parties, although not yet part of the government, demanded tough crime policies, not only for extraditing foreigners and migrants more easily, but also for sentencing “ordinary” offenders.«

Auf der Ebene der Inhaftierten selbst kann berichtet werden, dass im Mai 2014 von mehreren Inhaftierten der JVA Tegel in Berlin die Gefangenen-Gewerkschaft/Bundesweite Organisation (GG/BO) gegründet worden ist. Das Anliegen und die Forderungen verweisen auf sozialpolitische Kernfragen. So kann man dem Selbstporträt der Organisation entnehmen:

»Die GG/BO stellt die soziale Frage hinter Gittern: kein Mindestlohn, keine Rentenversicherung, keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, kein Kündigungsschutz, kein „Hartz IV“ für Beschäftigungslose in der Haft – das ist die Realität des bundesdeutschen Strafvollzugs für Inhaftierte.
Die GG/BO, die vor und hinter den Gefängnismauern existiert, leitet aus dieser sozial- und arbeitsrechtlichen Diskriminierung Kernforderungen ab: Einbeziehung der inhaftierten Beschäftigten in den allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn und in die komplette Sozialversicherungspflicht, Abschaffung der Arbeitspflicht, Aufstockung des Taschengeldsatzes und vor allem volle Gewerkschaftsfreiheit hinter Gittern.«

Zuweilen wird darüber auch in den Medien berichtet (vgl. z.B. Rente und Mindestlohn – auch hinter Gitter), sowie beispielsweise in dem Artikel Mindestlohn hinter Gittern von Janina Brühl aus dem Januar 2015. Zu dem Zeitpunkt ging es vor allem um den gesetzlichen Mindestlohn, der zum 1. Januar 2015 eingeführt worden ist, aber von dem die arbeitenden Gefangenen nicht profitieren:

»Sie kleben Tüten, polstern Sessel oder bauen Faltkartons zusammen. Zehntausende Häftlinge müssen in deutschen Gefängnissen arbeiten. Für die Bundesländer lohnt sich das, 150 Millionen Euro haben sie 2013 so eingenommen, die Häftlinge profitieren weniger: Sie verdienen zwischen sieben und 16 Euro – am Tag. Viele Insassen wollen sich das nicht mehr gefallen lassen, immer mehr schließen sich zu einer Art Knast-Gewerkschaft zusammen. Es begann vergangenen Sommer in Berlin, nun breitet sich die Idee in Nordrhein-Westfalen aus: Von der Justizvollzugsanstalt (JVA) Willich aus koordiniert der Gefangene André Schmitz, der wegen Drogenbesitzes einsitzt, die Arbeit im Westen. 100 Mitglieder hat er in kurzer Zeit gewonnen, bundesweit sind es bereits gut 400 aus 30 Gefängnissen. „Wir kämpfen gegen Ausbeutung“, sagt Schmitz. Zwei Ziele hat die Gruppe: Der neue Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde soll auch für arbeitende Häftlinge gelten. Und der Staat soll für sie in die Rentenversicherung einzahlen. Denn für die Zeit der Knastarbeit fehlt den Gefangenen im Alter die Rente.«

Und schon sind wir mittendrin in den Tiefen und Untiefen des deutschen Sozialrechts. In dem Artikel wird der Strafrechtsexperte Bernd Maelicke zitiert: »Häftlinge seien bereits in der Arbeitslosenversicherung, warum also nicht auch in der Rentenversicherung? „Bei lebenslang sind das schnell mal 15 Jahre, in denen ein Gefangener arbeitet, aber nichts für seine Rentenkasse zusammenkommt. Da ist Altersarmut zwangsläufige Folge“, sagt Maelicke. Das empfänden viele Häftlinge als doppelte Bestrafung.«

Matthias Birkwald, der Rentenexperte der Linken-Fraktion im Bundestag, verweist darauf, dass laut Gesetz nur derjenige einen Rentenanspruch erwirbt, der freiwillig arbeitet. Doch in 13 der 16 Bundesländer herrscht hinter Gittern Arbeitspflicht. Deshalb müssten alle Länder die Arbeitspflicht abschaffen, fordert Birkwald.

Und erneut werden wir Zeugen unterlassenen Tuns in der Vergangenheit und den Folgen einer Föderalisierung in Verbindung mit Bundesländern, die Haushaltsprobleme haben, denn:

»Eigentlich sollte das Problem seit 37 Jahren gelöst sein: Das Strafvollzugsgesetz von 1978 sieht eine Sozialversicherung für Gefangene vor – der Bund hat das nur nie umgesetzt. Seit der Föderalismusreform kümmern sich die Länder um die Gefangenen. Sie müssten den Arbeitgeberanteil zahlen, die meisten wollen das aber nicht.«

An dieser Stelle setzt ein neuer Vorstoß an: Der Deutsche Verein für öffentlich und private Fürsorge hat im Juni 2016 Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Einbeziehung von Strafgefangenen in die gesetzliche Rentenversicherung verabschiedet und veröffentlicht, die sich genau auf diesen vor über dreißig Jahren im Gesetz verankerten Punkt der Einbeziehung in die Rentenversicherung (§§ 190, 198 Abs. 3 StVollzG) beziehen.

Der Deutsche Verein empfiehlt dem Gesetzgeber

  • Strafgefangene in die gesetzliche Rentenversicherung einzubeziehen und hierzu ein entsprechendes Bundesgesetz zu verabschieden,
  • in diesem Gesetz niederzulegen, dass der Anknüpfungspunkt für die Leis- tung von Beiträgen jede im Vollzugsplan festgelegte und gegen Arbeitsentgelt geleistete Arbeit, arbeitstherapeutische oder sonstige Beschäftigung sowie gegen Ausbildungsbeihilfe geleistete Teilnahme an einer Berufsausbildung, beruflichen Weiterbildung oder anderen ausbildenden oder weiterbildenden Maßnahmen ist,
  • mit diesem Gesetz sicherzustellen, dass im Strafvollzug geleistete Arbeit in Anbetracht der zur Bemessung ungeeigneten geringen Verdienste der Gefangenen vollständig – d.h. sowohl der Arbeitgeber- als auch der Arbeitnehmerbeitrag – in einer angemessenen Höhe der Bezugsgröße getragen wird.

»Aufgrund der landesrechtlichen Kompetenz im Strafvollzug bedarf ein solches Gesetz der Zustimmung der Länder. Der Deutsche Verein appelliert an die Länder, einem Bundesgesetz zur Einbeziehung von Strafgefangenen in die gesetzliche Rentenversicherung zuzustimmen.«

Wir werden sehen, dass die damit verbundenen Kosten nicht erwarten lassen, dass der Vorstoß demnächst bzw. überhaupt umgesetzt wird.

Abbildung 1: Dünkel, Frieder (2016): The rise ans fall of prison population rates in Europe