Die Debatte über die Zukunft der Rente ist voll entbrannt und die Töne werden schriller, offensichtlich auch, weil bei einigen Akteuren die Nerven blank liegen. Anders sind solche Meldungen nicht zu interpretieren: Merkel warnt Gewerkschaften vor ungewollter AfD-Hilfe: Bei »einem Treffen des CDU-Präsidiums mit dem DGB-Bundesvorstand (übte sie) scharfe Kritik an der Rentenkampagne der Gewerkschaften. Diese beförderten ohne Not die Angst vor Altersarmut, beklagte Merkel. Nach Angaben von Teilnehmern fragte sie, ob die Gewerkschaften der AfD „in die Hände spielen“ wollten.« Der DGB will mit einer Kampagne einen Kurswechsel in der Sozialpolitik erzwingen, dazu gehören Slogans wie: „Rente muss auch morgen reichen!“ Die Gewerkschaften fordern, dass das Rentenniveau mindestens auf dem heutigen Stand bleiben müsse. Zur Rentenkampagne des DGB: www.rente-muss-reichen.de. Das hätte natürlich Folgen auf der Beitragsseite, denn wenn das Rentenniveau nicht mehr weiter absinkt, dann müssen im gegebenen System die Beitragseinnahmen erhöht werden, um in der Zukunft ein höheres Niveau finanzieren zu können. Rente: Verdi-Chef Bsirske will Beitragssatz von 26 Prozent, sind dann Meldungen, die in einem solchen Umfeld herauskommen. Man kann sich vorstellen, wie das von den Gegnern einer solchen Rentenpolitik herausgegriffen und skandalisiert wird.
Die Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) und ihr Ministerium haben diese Tage selbst die Debatte mit Zahlen befeuert. Rentenniveau droht drastisch zu sinken, so und ähnlich wurden die Berichte über die Berechnungen des BMAS überschrieben.
»Ohne eine Reform droht das gesetzliche Rentenniveau in den nächsten 30 Jahren um gut sechs Prozentpunkte zu sinken. Das geht aus vorläufigen Berechnungen des Arbeitsministeriums hervor. Danach wird das Niveau von derzeit 47,8 auf 41,6 Prozent im Jahr 2045 sinken.« Und Cordula Eubel berichtet in ihrem Artikel, dass das „fortlaufende Abrutschen“ des Sicherungsniveaus das Vertrauen in die gesetzliche Rentenversicherung untergrabe, hieß es in Ministeriumskreisen. Es brauche deswegen eine „Haltelinie beim Rentenniveau“.
»Ein Festschreiben des Rentenniveaus auf dem heutigen Stand wäre demnach mit erheblichen Kosten verbunden: Die Mehrausgaben für die Beitrags- und Steuerzahler lägen bei jährlich 40 Milliarden Euro. Der Beitragssatz müsste von heute 18,7 Prozent auf 26,4 Prozent im Jahr 2045 steigen.« Man kann davon ausgehen, dass die Ministerin mit der Vorlage solcher Zahlen – zu deren Berechnung und Veröffentlichung sie übrigens nicht verpflichtet wäre, denn der Vorhersagezeitraum ist gesetzlich derzeit auf das Jahr 2030 begrenzt – zwei unterschiedliche Ziele verfolgt: Zum einen will sie den „eigenen Kreisen“ in der SPD und in den Gewerkschaften einen Dämpfer verpassen hinsichtlich der Beitragssatzfolgen der geforderten Abkehr vom Kurs eines weiter absinkenden Rentenniveaus, zum anderen aber sieht sie natürlich auch die enormen Verwüstungen, die das hinsichtlich der Leistungen für einen Teil der Rentenempfänger auslösen wird.
Die FAZ schreckt nicht davor zurück, in ihrem Artikel So tief fällt das Rentenniveau Bernd Raffelhüschen, dessen einseitige Verwobenheit mit der Versicherungswirtschaft nun wirklich mehr als bekannt ist, als „Rentenexperten“ zu zitieren und passenderweise über eine Veranstaltung der von der Arbeitgeberseite mit einem umfangreichen Budget ausgestatteten Lobbyorganisation Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) zu berichten, die natürlich ganz massiv Stimmung macht gegen jeden Versuch, den eingeschlagenen Weg einer Demontage der gesetzlichen Rentenversicherung.
Auch vor diesem Hintergrund, der bereits anzudeuten vermag, auf was für eine Schlammschlacht wir uns in den kommenden Monaten einstellen müssen, ist es notwendig, die Stimmen zu hören und zu verbreiten, die von Leuten kommen, die sich wirklich auskennen in den Tiefen der Mechanik der Rentenversicherung. Johannes Steffen gehört sicher absolut dazu und er legt immer wieder höchst differenzierter Analysen und Berechnungen vor, die einen echten Erkenntnisgewinn mit sich bringen.
Und das hat Steffen, der für das Portal Sozialpolitik verantwortlich zeichnet, jetzt wieder getan mit dieser kurzen, präzisen und überaus wichtigen Veröffentlichung, aus der auch die Abbildung stammt, die am Anfang dieses Beitrags eingefügt wurde:
➔ Johannes Steffen: Fürsorgebedarf und Rentenniveau. Akzeptanz der Pflichtversicherung steht auf dem Spiel, 07.102.2016
Ihm geht es in seinem Beitrag um die grundsätzliche Frage, welche Bedeutung einem sinkenden Rentenniveau für die Sicherung im Alter überhaupt zukommt.
Bevor wir uns seine Argumentation anschauen, hier noch der Hinweis auf eine frühere Veröffentlichung von Johannes Steffen, in dem er unter der Überschrift „Das Niveau der Renten hat wenig gemeinsam mit dem Rentenniveau“ eine Unterscheidung ausgeführt hat, die auch in der aktuellen Debatte von den wenigsten gesehen (und verstanden) wird:
»Vom Niveau der (einzelnen) Renten streng zu unterscheiden ist das Rentenniveau und dessen Entwicklung. Es ist keineswegs so, »dass auch der gesetzliche Mindestlohn und die Stärkung der Tarifparteien einen Beitrag zur Sicherung eines guten Rentenniveaus in Deutschland leisten und damit die Alterssicherung in unserem Land stärken«. Denn beim Rentenniveau … geht es nicht um den Umfang der Anwartschaften, also die Summe der (persönlichen) Entgeltpunkte, sondern um deren Wert oder Bewertung. Ausschlaggebend für den Wert der Anwartschaften ist die Höhe des aktuellen Rentenwerts (AR). Infolge der politisch vorgegebenen Abkoppelung der Renten von der Lohnentwicklung verlieren die Rentenanwartschaften (Entgeltpunkte) aber kontinuierlich an Wert – immer verglichen mit dem jeweiligen Stand der Löhne.« Er spricht von einem Prozess der Entwertung von Anwartschaften. (Johannes Steffen: Für eine Rente mit Niveau. Zum Diskurs um das Niveau der Renten und das Rentenniveau, Berlin, August 2015, S. 4-5).
Steffen weist in seiner neuen Veröffentlichung darauf hin, dass immer wieder mit Blick auf den aktuellen Rentenwert darauf hingewiesen wird, dass es sich die Schutzklausel nach § 68 a SGB VI gebe (dessen Absatz 1 statuiert: »Abweichend von § 68 vermindert sich der bisherige aktuelle Rentenwert nicht, wenn der nach § 68 berechnete aktuelle Rentenwert geringer ist als der bisherige aktuelle Rentenwert. Die unterbliebene Minderungswirkung (Ausgleichsbedarf) wird mit Erhöhungen des aktuellen Rentenwerts verrechnet. Die Verrechnung darf nicht zu einer Minderung des bisherigen aktuellen Rentenwerts führen.«). Und diese Schutzklausel wird selbst von Rentenfachleuten ins Feld geführt und verquickt mit Schlussfolgerungen, die sich bei genauerem Hinsehen als grobe Fehleinschätzung erweisen. Steffen zitiert als Beispiel den ehemaligen Vorsitzenden des Sozialbeirats der Bundesregierung, Franz Ruland, der mal Geschäftsführer des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger bis zu dessen Umwandlung als Teil der Deutschen Rentenversicherung Bund war:
»Ein sinkendes Rentenniveau bedeutet nicht, dass die Renten gekürzt werden, sie steigen »nur« weniger stark an als die Löhne. Trotzdem wird auch künftig ihr Abstand zu den Leistungen der Grundsicherung größer, weil sie stärker als diese steigen.« (Franz Ruland: Ruland: Plädoyer für eine nachhaltige Rentenpolitik auch über 2030 hinaus, Neue Zeitschrift für Sozialrecht, 2016, S. 725).
Das kann und lässt Steffen so nicht stehen, weil es nicht stimmt. Und nennt Zahlen. Und die sollte man aufmerksam zur Kenntnis nehmen:
Während der durchschnittliche Bruttobedarf älterer Bezieherinnen und Bezieher von Fürsorgeleistungen – nach Bundessozialhilfegesetz, Grundsicherungsgesetz beziehungsweise Kapitel 4 SGB XII – im Zeitraum von 2000 bis 2016 um 45 Prozent gestiegen ist, legte der Zahlbetrag des aktuellen Rentenwerts um lediglich 16,3 Prozent zu.
Der Abstand zwischen Fürsorge und Netto-Standardrente (Rente aus 45 Entgeltpunkten nach Abzug der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung) verringerte sich von monatlich 474 Euro auf 391 Euro; lag der Ermittlung der Altersrente im Schnitt der 45 Beitragsjahre nur ein Verdienst von 75 Prozent des Durchschnittsentgelts zugrunde, so sank die Differenz von 216 Euro auf gerade noch 92 Euro.
Zwischenfazit: Der Abstand der Rente zur Grundsicherung wird nicht größer, er schrumpft – und das in einem bedenklichen Ausmaß und Tempo.
Und für die Zukunft gibt es keine Hinweise, dass sich das ändert, ganz im Gegenteil, wie er an drei Punkten belegen kann.
Man kann es drehen und wenden, wie man will: Das Nachhinken der Entwicklung des aktuellen Rentenwerts (Zahlbetrag) hinter der Entwicklung des Bruttobedarfs der vorleistungsunabhängigen Fürsorge hat erhebliche systematische Folgen – auch das illustriert Steffen an Zahlen, die einem zu denken geben:
Reichten im Jahr 2000 noch 24,3 Entgeltpunkte aus, um alleine mit der Rente den statistischen Durchschnittsbedarf decken zu können, so sind aktuell bereits 30,3 Entgeltpunkte erforderlich.
Aus einem anderen Blickwinkel: Um nach 45 Beitragsjahren eine Netto-Rente in Höhe des Durchschnittsbedarfs erzielen zu können, war im Jahr 2000 eine erwerbslebensdurchschnittliche Entgeltposition von 54 Prozent nötig. Wer dieses Ziel heute erreichen will, muss bereits eine Entgeltposition von 67,3 Prozent des Durchschnittsentgelts … vorweisen können.
Die Ergebnisse der gewaltigen Entwertung der gesetzlichen Rente kann man auch an dieser tektonischen Verschiebung erkennen:
»Seit der Jahrhundertwende hat sich der Abstand der Rente zur Grundsicherung deutlich verringert. Lag der Zahlbetrag einer Standardrente im Jahr 2000 noch 85 Prozent oberhalb des durchschnittlichen Fürsorgebedarfs, so sind es heute nur noch gut 48 Prozent.«
Oder anders gerechnet, wenn man die Perspektive eines Arbeitnehmers einnimmt, der sein Leben lang gearbeitet und Beiträge gezahlt hat, allerdings immer unter dem Durchschnitt verdient hat, was bei Millionen Beschäftigten der Fall ist:
»Wer über 45 Jahre (Standarderwerbsbiografie) mit seinem Verdienst unterm Strich nur auf 75 Prozent des Durchschnitts (das sind derzeit rund 2.270 Euro monatlich) kommt, lag mit seiner Rente im Jahr 2000 noch 39 Prozent über dem Durchschnittsbedarf; aktuell beträgt der Abstand gerade einmal gut 11 Prozent – trotz erwerbslebenslanger Zahlung von Pflichtbeiträgen in Höhe von knapp einem Fünftel des Bruttoverdienstes.«
Die Schlussfolgerung für Steffen aus dieser enormen Absenkung: »Es ist kaum noch zu übersehen: Mit der drastischen Senkung des Rentenniveaus stehen nicht mehr und nicht weniger als die Legitimation und Akzeptanz des über einkommensproportionale Pflichtbeiträge finanzierten Rentensystems auf dem Spiel.«
Diesen Gedanken hat Steffen auch in einer im August 2016 publizierten Veröffentlichung vorgetragen, in der es um die Frage geht, ob das Rentensystem ausreichend vor Altersarmut schützt:
»Ein systemisches (Zukunfts-) Problem, das zunächst nur mittelbar mit messbarer Altersarmut zu tun hat, erwächst jedoch aus der Senkung des Rentenniveaus: Nach erwerbslebenslanger vollzeitnaher Beschäftigung muss eine Rente deutlich oberhalb der Fürsorge erwartbar sein. Bleibt aber die Dynamik der Renten (jährlicher Anpassungssatz) hinter der des durchschnittlichen Grundsicherungsbedarfs zurück, so kommt es zu einer fortschreitenden Überschneidung von beitragsfundierter Rente und vorleistungsunabhängiger Fürsorge. Das System der Pflichtversicherung verliert dadurch schleichend an Legitimation.« (Johannes Steffen: Schützt das Rentensystem ausreichend vor Altersarmut? Altersrentenbestand und Grundsicherungsbezug, August 2016).
An dieser Stelle passt, aus seiner 2015 vorgelegten und hier bereits erwähnten Veröffentlichung zu zitieren:
»Die Alterssicherungspolitik in Deutschland bedarf weit mehr als nur einer Nachjustierung verschiedener Stellschrauben – nötig ist eine vollkommene Umorientierung. Die Anhebung des Niveaus zahlreicher Renten durch das Rentenpaket des vergangenen Jahres kann die allgemeine Rentenniveausenkung nicht korrigieren – im Gegenteil wird die Entwertung der Renten für alle durch die Begünstigungen für wenige weiter forciert. Zudem ist das ideologisierte »Drei-Säulen-Konstrukt« aus relativ sinkender gesetzlicher Rente, vermehrter privater Vorsorge sowie betrieblicher Altersversorgung längst am eigenen sozialpolitischen Anspruch gescheitert. Die Teilprivatisierung der Vorsorge trägt bei zur Verschärfung der Einkommensungleichheit im Alter und sie erhöht das Risiko von Altersarmut. Nur Lebensstandardsicherung und Solidarprinzip als strukturprägende Leitbilder der sozialen Pflichtversicherung können eine personell umfassende finanzielle Absicherung der sozialen Risiken Alter, Invalidität und Todesfall gewährleisten.« (Johannes Steffen: Für eine Rente mit Niveau. Zum Diskurs um das Niveau der Renten und das Rentenniveau, Berlin, August 2015)