Die Diskussion über die Zukunft der Alterssicherung hat in den vergangenen Monaten ordentlich Fahrt aufgenommen. Und der noch amtierenden Bundesregierung ist klar, dass sie vor Beginn des Wahlkampfs irgendwas machen muss, um die Wogen geglättet zu bekommen – auch unabhängig davon, dass sich die Großkoalitionäre selbst unter noch offenen rentenpolitischen Handlungszwang gesetzt haben durch den eigenen Koalitionsvertrag aus dem Dezember 2013. Darin heißt es neben den bereits abgearbeiteten Punkte, man werde die betriebliche Altersvorsorge stärken: »Sie muss auch für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Klein- und Mittelbetrieben selbstverständlich werden. Daher wollen wir die Voraussetzungen schaffen, damit Betriebsrenten auch in kleinen Unternehmen hohe Verbreitung finden.« Und für die armen Schlucker in der Rentenversicherung hatte man sich auch was vorgenommen: »Wir wollen, dass sich Lebensleistung und langjährige Beitragszahlung in der Sozialversicherung auszahlen. Wir werden daher eine solidarische Lebensleistungsrente einführen. Die Einführung wird voraussichtlich bis 2017 erfolgen.« Und mit Blick auf die noch ausstehende Renteneinheit zwischen West und Ost: »Der Fahrplan zur vollständigen Angleichung, gegebenenfalls mit einem Zwischenschritt, wird in einem Rentenüberleitungsabschlussgesetz festgeschrieben« (vgl. zu allen Zitaten Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, Berlin, 14.12.2013, S. 52 f.). Offensichtlich sind da noch einige Baustellen offen.
Und zwischenzeitlich hat die ganze Angelegenheit einen weiteren kräftigen Schub bekommen zum einen durch die Erkenntnis, zu welchen fatalen Folgen der mit dem Paradigmenwechsel in der deutschen Rentenpolitik Anfang des Jahrtausends eingeleitete Sinkflug des Rentenniveaus hinsichtlich des (Nicht-)Sicherungsniveaus für Millionen zukünftige Rentner führen wird, zum anderen haben die Gewerkschaften eine Kampagne gestartet, die genau an dieser Stelle andockt. Und die Gefahr für die etablierte Politik, dass andere Parteien das Thema hochziehen, konnte man beispielsweise an der aggressiven Reaktion der Bundeskanzlerin gegenüber den Gewerkschaften ablesen, sie würden Ängste schüren und der AfD in die Hände spielen. Die Nerven liegen blank.
An dieser Stelle schauen viele auf die Bundessozialministerin Andrea Nahles (SPD), denn das ist nicht nur grundsätzlich ihr Zuständigkeitsbereich, sondern sie hat angekündigt, im November ein „umfassendes Reformpaket“ auf den Tisch legen zu wollen. Und die ersten Umrisse dessen, was da kommen wird, sind mittlerweile bekannt geworden.
Im Vorfeld und gleichsam als Warnschuss an die unterschiedlichen Lager der Rentenniveaudiskussion gerichtet, hat die Ministerin das BMAS erst einmal über den ansonsten üblichen Prognosenzeitraum von maximal 15 Jahre rechnen lassen – und über Meldungen den Alterssicherungsbericht 2016 der Bundesregierung betreffend die Botschaften geschickt in den Medien platziert. Die Aktivitäten der Beamten am Rechenschieber haben zu diesem Ergebnis geführt:
Die „vorläufigen Berechnungen“ zeigen, dass bei einer Beibehaltung der aktuellen Rechtslage mit einem deutlichen Absinken des Sicherungsniveaus bis 2045 auf ca. 41,6 Prozent zu rechnen ist. Dennoch werde der Beitragssatz weiter von heute 18,7 Prozent auf dann 23,4 Prozent steigen.
Wenn man, so das BMAS, das Sicherungsniveaus vor Steuern auf dem derzeitigem Stand von etwa 47,5 Prozent stabilisieren wolle, wie das beispielsweise und nicht nur die Gewerkschaften fordern, dann wäre im Jahr 2045 ein Beitragssatz von 26,4 Prozent erforderlich. Das wären dann noch einmal rund 40 Milliarden Euro mehr.
Wozu das führen wird und würde, wenn man die Rutschbahn nach unten beim Rentenniveau nicht aufhält und umkehrt, wurde bereits in den Beitrag Das große Durcheinander um Rentenniveau, Niveau der Renten, Rente als Wahlkampfthema. Und eine rechnerische Gewissheit mit fatalen Folgen vom 8. Oktober 2016 ausführlich beschrieben.
Was ist die Schlussfolgerung der Bundesrentenministerin aus den von ihr in den rentenpolitischen Ring geworfenen Berechnungsergebnissen? Ein echter „Nahles“ sozusagen – sie spricht jetzt von einer „doppelten Haltelinie“, die man brauche, eine beim Rentenniveau und eine beim Beitragssatz. Eine Haltelinie gegen das im bestehenden System automatisch eingebaute stetig weiter sinkende Rentenniveau, eine andere Haltelinie gegen Beitragssätze, die ansonsten „in den Himmel schießen“ würden.
Das Rentenniveau dürfe nicht zu tief fallen, die Beiträge nicht zu stark steigen. Der unparteiische Beobachter ahnt es schon: Es muss sich um „magische Haltelinien“ handeln, weil es Magie wäre, beide Haltelinien gleichzeitig realisiert zu bekommen. Oder lebenspraktischer ausgedrückt: Einen Tod muss man sterben. Will man diese Erkenntnis aber wenigstens eine Zeit lang (bis zur Bundestagswahl im Herbst 2017?) unter den Teppich kehren, muss man im bestehenden System „schummeln“.
Die hier angedeuteten Zusammenhänge finden sich konzise zusammengefasst in den Ausführungen Alterssicherung zum »Schnäppchenpreis«? Billiger geht nur mit weniger Leistung – oder mit Schummeln von Johannes Steffen. Der zentrale Satz in seinen Erläuterungen geht so:
»Bei einem steigenden Anteil Älterer an der Gesamtbevölkerung ist eine auskömmliche Alterssicherung nicht ohne steigende gesamtwirtschaftliche Kosten – sozusagen zum »Schnäppchenpreis« – zu haben. Billiger geht nur mit weniger Leistung – oder mit Schummeln, was meist dasselbe ist.«
Genau um diesen Punkt eiern viele in der aktuellen hilflos-konfusen Debatte über das Alterssicherungssystem mehr oder zumeist weniger elegant herum. Zugleich ist es die gesellschaftspolitisch entscheidende Frage. Es geht um die schlichte Frage, auf welchem Niveau, mit welchen Geldmitteln in welcher Höhe wollen wir die älteren Menschen im Ruhestand versorgen. Und wenn man diese Frage beantwortet hat, dann muss man rechnen, wie groß der resultierende Finanzbedarf ist, um in einem dritten Schritt die Frage zu beantworten, aus welchem Teil der laufenden Wertschöpfung und von wem in welchen Anteilen die Finanzierung zu stemmen sein soll. Und gleich an dieser Stelle, Steffens Hinweis unterstreichend: Dass angesichts der allein aufgrund der demografischen Entwicklung nicht nur hinsichtlich der Zahl, sondern auch – dankenswerterweise für die Menschen – aufgrund der Lebenserwartung steigenden Rentenbezugsdauer, die Rentenausgaben steigen müssen, ist einfachste Mathematik. Wenn man bei diesen Rahmenbedingungen aber die Ausgaben begrenzen will, dann geht das nur über massive Leistungskürzungen. Man muss dann aber auch in aller Deutlichkeit sagen, dass man bewusst Millionen Ältere in die definitive Altersarmut schickt.
Ein besonderer Wert der kurzen, prägnanten Analyse von Johannes Steffen besteht darin, dass er die grandiose Vernebelung der Köpfe aufzeigt mit klaren einfachen Linien. Beispielsweise mit Blick auf den von der damaligen rot-grünen Bundesregierung Anfang des Jahrtausends vorgenommenen Systemwechsel einer Absenkung des Rentenniveaus in der umlagefinanzierten gesetzlichen Rentenversicherung und der angeblichen Kompensation durch die steuerlich subventionierte Riester-Rente und Betriebsrenten. In der aktuellen Diskussion werden ja gerne die Jüngeren gegen die Älteren in Stellung gebracht, nach dem Motto, die Rentner „verprassen“ ihre hohen Renten, die Jüngeren werden mit immer höheren Beitragssätzen belastet und bekommen selbst später nur noch ein Almosen. Steffen zeigt wie viele Rentenexperten vor ihm, dass es sich hier um eine wirklich dreiste Mogelpackung handelt. Dass die Jüngeren vom Systemwechsel profitieren würden, ist schlicht Unsinn:
»Zwar steigt ihre Belastung durch Rentenbeiträge künftig weniger stark; dafür aber müssen sie unmittelbar ab dem Umstellungszeitpunkt ein Vielfaches des ersparten Beitragsanstiegs nunmehr am Kapitalmarkt anlegen – in der Hoffnung auf ergiebige Renditen. Sofern sich alle Jüngeren in dem modellhaft für erforderlich gehaltenen Umfang engagieren (vier Prozent des Bruttolohns fürs »Riestern«), fallen die gesamtwirtschaftlichen Kosten für die Aufrechterhaltung des Sicherungsniveaus (Beitragssatz plus Sparrate) deshalb auf unabsehbare Zeit deutlich höher aus als im ausschließlich umlagefinanzierten System.«
Und wenn wir in diesen Tagen mit dem Schreckgespenst eines Beitragssatzes von 26,4 Prozent im Jahr 2045 (!) konfrontiert werden, wenn man das heutige bereits abgesenkte Rentenniveau von 47,5 Prozent stabilisieren will, dann zeigt Steffen, dass das ebenfalls ein aufgebauschter Popanz ist, der wie Butter in der Sonne dahinschmilzt, wenn man mal genauer hinschaut:
»Warum ein Beitragssatz von 26,4 Prozent im Jahr 2045 nicht tragbar sein soll – wohl aber die für eine vergleichbare Sicherung erforderliche Gesamtbelastung von weit über 30 Prozent bereits im Hier und Jetzt – ist ökonomisch nicht begründbar.«
Aber wie kommt er auf einen so hohen Belastungsbetrag schon heute? Dass der nirgendwo offiziell ausgewiesen wird, hat einen simplen Grund: Schummelei, Vernebelung der Leute. Denn selbst wenn sich alle Arbeitnehmer (was sie gerade nicht tun) daran halten würden, die wegbrechenden Leistungen aus der umlagefinanzierten gesetzlichen Rente durch entsprechende Sparaktivitäten im Bereich der steuerlich subventionierten Riester-Rente auszugleichen – die vier Prozent des Einkommens würde nicht reichen: Denn der Kapitalmarkt kennt keinerlei solidarischen Ausgleich innerhalb des Kollektivs und eine Leistungs-Dynamisierung, vergleichbar den jährlichen Rentenanpassungen, gehört ebenfalls nicht zum Standard. Sollen die aufgerissenen Lücken aber auch für diese sozialen Risiken und Sachverhalte vollständig über die Kapitalmarkt-Rente abgedeckt werden, so muss die Sparrate mehr als doppelt so hoch wie im Riester-Modell.
Und wenn wir schon in der Gegenwart sind, dann abschließend der Blick auf die Umrisse dessen, was uns als rentenpolitisches Konzept seitens der Bundesregierung verkauft werden wird. Was auf alle Fälle kommen wird, habe ich bereits in dem Beitrag vom 27. September 2016 so zusammengefasst: Neues Spiel, neues Glück? Die „neue“ Betriebsrente soll kommen – arbeitgeberzugewandt, tarifvertragsorientiert und noch mehr staatlich gepampert. Man kann es als Chuzpe bezeichnen oder aber als kleinteiliger Akt der Verzweiflung, irgendwelche energisch daherkommende Aktivitäten verkaufen zu müssen: Die Betriebsrenten werden reformiert.
Neue Steigbügel für mehr Altersvorsorge, so ist einer der vielen Artikel dazu überschrieben: »Riester-Zulage soll steigen, Doppelverbeitragung auf der Kippe, weniger Garantien für Betriebsrenten«. Mit mehr staatlicher Förderung und dem Wegfall von Rentengarantien will die Koalition die Betriebsrenten in Deutschland ausbauen, erfahren wir hier wie in vielen anderen Berichten auch. Das Gesetz soll 2018 in Kraft treten. Betriebsrenten sollen vor allem bei Geringverdienern und in kleineren Betrieben weiter verbreitet werden. Der Anteil von 60 Prozent der Beschäftigten mit betrieblicher Altersvorsorge stagniert seit Jahren. Bei den Niedrigverdienern sind es nur 47 Prozent.
Auch Cerstin Gammelin und Thomas Öchsner beschreiben die kleinteilig angelegten Vorschläge in ihrem Artikel So baut die Regierung die Betriebsrente um. Unternehmen sollen Betriebsrenten künftig auch auf der Grundlage reiner Beitragszusagen anbieten können – ohne eine spätere Leistung zu garantieren. Voraussetzung dafür ist, dass sich die Tarifpartner vorher über eine andere Art der Absicherung einigen und diese in einem Tarifvertrag festhalten. Die Absicherung würde etwa greifen, wenn das Unternehmen unerwartet zahlungsunfähig wird. Zugleich will die Regierung die Riester-Rente stärken. Dazu ist geplant, die Grundzulage von 154 Euro auf 165 Euro anzuheben. Arbeitgeber sollen einen staatlichen Zuschuss von 30 Prozent bekommen, wenn sie selbst für Geringverdiener 240 bis 480 Euro Beitrag pro Jahr in eine betriebliche Altersvorsorge (BAV) einzahlen. Und noch einer: Zahlungen aus der betrieblichen Altersvorsorge oder aus der staatlich geförderten privaten Riester-Rente werden bislang mit Ansprüchen aus der staatlichen Grundsicherung verrechnet. Die Bundesregierung will einen Freibetrag für solche Fälle einführen. Die volle Verbeitragung der Betriebsrenten bei Auszahlung soll „geprüft“ werden (offensichtlich hat die Bundesregierung hier kalte Füße, denn den Krankenkassen würden bei einer Beseitigung Milliarden-Beitragseinnahmen wegbrechen.
Die nur aufgerufenen einzelnen Punkte sollen hier gar nicht einer detaillierten Kritik unterworfen werden, es geht an dieser Stelle um die große Linie: Offensichtlich setzt man weiter und stärker noch als vorher auf die kapitalgedeckte Altersvorsorge als „Lösungsansatz“. Das wird scheitern müssen, nicht nur angesichts der grundsätzlichen Probleme kapitalgedeckter Systeme und auch nicht nur aufgrund des desaströsen Umfeldes auf den Finanzmärkten für den Aufbau der notwendigerweise erforderlichen enorm großen Fonds.
Aber da war doch noch ein anderer Auftrag aus dem Koalitionsvertrag, der mit der „solidarischen Lebsnleistungsrente“ für die armen Schlucker, die trotz eines jahrzehntelangen Arbeitslebens nur eine gesetzliche Rente bekommen, die unter dem Hartz IV-Satz für Ältere liegen. Auch hier wird ein „Durchbruch“ vermeldet: Nahles nimmt von Lebensleistungsrente Abstand: »Eigentlich wollte die Sozialministerin langjährige Geringverdiener bei der Rente besserstellen. Doch das bisherige Reformkonzept hält Nahles nicht mehr für sinnvoll.«
»Demnach lasse sich das Ziel, die Lebensleistung auch von Geringverdienern besser in der Rente zu würdigen und Betroffene vor Altersarmut zu schützen, nicht gut genug innerhalb der Rentenversicherung lösen … Welchen Alternativvorschlag Nahles machen will, hat sie Teilnehmern zufolge aber noch nicht gesagt.«
Da werden solche Mahnungen und Empfehlungen nicht gerne gehört werden: Der »Sozialforscher Gerhard Bäcker appellierte in der Rentendebatte an die Politik, insbesondere Geringverdiener besser abzusichern … Das Rentenniveau solle zumindest auf dem jetzigen Niveau stabilisiert und die sogenannte Rente nach Mindesteinkommen wieder eingeführt werden. Dadurch würden Geringverdiener höhere Rentenansprüche erwerben.« Das will Nahles offensichtlich vom Tisch bekommen.
Was übrig bleibt, erscheint zum jetzigen Zeitpunkt wie ein eingebauter Rohrkrepierer.