Ein „menschenwürdiger Lebensstandard“ – das Existenzminimum in der europarechtlichen Variante

Die Auseinandersetzung mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Sanktionen im Hartz IV-System (BVerfG, Urteil vom 05. November 2019 – 1 BvL 7/16) ist mittlerweile in den Medien vollständig abgeklungen, viele neue Themen haben die Bühne erobert. In der für Millionen Menschen relevanten Verwaltungspraxis geht es jetzt um die konkrete Umsetzung des zwar die Sanktionen in der bisherigen Form begrenzenden, aber durchaus mehrdeutig angelegten Urteils der Verfassungsrichter. Vereinfacht gesagt geht es darum, dass nunmehr Sanktionen von von mehr als 30 Prozent nicht mehr zulässig sind, zugleich wurde die Ebene der Einzelfallprüfung gestärkt und schematische, nicht korrigierbare Laufzeiten der Sanktionen von drei Monaten sollen der Vergangenheit angehören. Zu der angesprochenen Komplexität des BVerfG-Urteils vgl. auch ausführlicher diesen Beitrag: Ein Sowohl-als-auch-Urteil. Das Bundesverfassungsgericht, die Begrenzung der bislang möglichen Sanktionierung und eine 70prozentige minimale Existenz im Hartz IV-System vom 6. November 2019.

Die Kritiker des Sanktionsregimes in der deutschen Grundsicherung haben die Entscheidung des BVerfG als großen Erfolg gefeiert und verweisen beispielsweise auf solche bedeutsamen und (scheinbar) eindeutigen Ausführungen des Gerichts:

»Die zentralen verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Ausgestaltung staatlicher Grundsicherungsleistungen ergeben sich aus der grundrechtlichen Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG). Gesichert werden muss einheitlich die physische und soziokulturelle Existenz. Die den Anspruch fundierende Menschenwürde steht allen zu und geht selbst durch vermeintlich „unwürdiges“ Verhalten nicht verloren.«

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Wenn die Neue wahrscheinlich zu klein ist, die Alte wahrscheinlich auch, aber die ist schon da und hat viele andere Mitglieder: Die Nicht-Anerkennung der „Neue Assekuranz Gewerkschaft“, der „Gemischtwarenladen“ Verdi und die Frage der Tariffähigkeit einer Gewerkschaft

„Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig.“ (Art 9 Abs. 3 Grundgesetz)

Im Art. 9 Abs. 3 GG, nicht umsonst ganz vorne in unserer Verfassung platziert, findet man die Verankerung der sogenannten Koalitionsfreiheit, mit der im Grunde das Existenzrecht von Gewerkschaften verfassungsrechtlich abgesichert wird. Dabei ist zwischen einer individuellen und einer kollektiven Koalitionsfreiheit zu unterscheiden: »Die individuelle Koalitionsfreiheit garantiert das Recht des Einzelnen, Koalitionen zu gründen. Daher können Arbeitnehmer durch freiwilligen Zusammenschluss Gewerkschaften und Arbeitgeber Arbeitgeberverbände gründen. Arbeitnehmer haben ferner das Recht, sowohl einer bestehenden Koalition beizutreten und sich in ihr zu betätigen (positive Koalitionsfreiheit) als auch das Recht, sich keiner Koalition anzuschließen oder aus einer Koalition auszutreten (negative Koalitionsfreiheit). Durch das Koalitionsrecht ist die gewerkschaftliche Betätigung von Arbeitnehmern geschützt. Sie dürfen wegen ihrer Gewerkschaftszugehörigkeit nicht benachteiligt werden. Daher ist die an Stellenbewerber oder Arbeitnehmer gerichtete Frage des Arbeitgebers nach der Gewerkschaftszugehörigkeit grundsätzlich unzulässig.«

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Die mediale Kommentierung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zu den Sanktionen im Hartz IV-System. Eine Auswahl

Es ist ein bekanntes Muster in den heutigen Zeiten einer von den Zwängen der Aufmerksamkeitsökonomie formatierten Berichterstattung in den Medien: Es passiert etwas, beispielsweise ein Urteil des höchsten deutschen Gerichts zu einem sozialpolitisch relevanten Sachverhalt wird verkündet und wie eine Flutwelle ergießt sich die Berichterstattung in allen Medien über die Landschaft – um dann kurze Zeit später wie auf einen geheimen Zuruf das Feld zu verlassen und zum nächsten Thema weiterzuziehen. Das führt im Ergebnis dazu, dass natürlich auch die gerade bei komplizierten Sachverhalten notwendige Zeit fehlt, um die mal in gebotener Ruhe und damit verbundener Tiefe zu reflektieren und mögliche Konsequenzen zu durchdenken. Verschärft wird die von nicht wenigen als unbefriedigend wahrgenommene extrem punktuelle Berichterstattung durch den ebenfalls aufmerksamkeitsökonomisch bedingten Anreiz, Aussagen zwangsläufig sehr vereinfachend zuzuspitzen oder zu skandalisieren, in der Hoffnung, damit Klicks und andere reflexhafte Reaktionen bei den Empfängern der Botschaften zu generieren.

Das erleben wir gerade erneut wie in einem Lehrbuch am Beispiel der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den Sanktionen im Hartz IV-System. Nach einer eruptiven Berichterstattung im Anschluss an die Verkündigung der Entscheidung am 5. November 2019 ist die mediale Karawane bereits erneut auf der Straße unterwegs zum nächsten Thema, das an diesem Wochenende die Redaktion beschäftigen wird: Die mehrfach verschobene Einigung (oder Nicht-Einigung?) der GroKo beim Themen- und Minenfeld der sogenannten „Grundrente“ – der Showdown fokussiert (und wird von den Medien mit fokussiert) auf die Frage: Bedürftigkeitsprüfung ja oder nein?

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Erst mal sacken lassen – im laufenden Betrieb. Die Bundesagentur für Arbeit, die Jobcenter, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts und der vom hohen Gericht zurückgeschossene Ball der Sanktionen im Hartz IV-System

In ersten Reaktionen auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) über die – teilweise – Verfassungswidrigkeit bestimmter Sanktionen in bestimmten Fälle im Hartz IV-System (BVerfG, Urteil vom 05. November 2019 – 1 BvL 7/16) habe ich darauf hingewiesen, dass das Urteil nur auf den ersten Blick mehr Rechtssicherheit herstellt: »Die Verfassungsrichter haben sich, bei aller Freude über die vorgenommene Einhegung der Sanktioniserungspraxis, insofern einen schlanken Fuß gemacht, in dem sie zwar einerseits ein wenig mehr Rechtssicherheit schaffen durch die Begrenzung der harten Sanktionierung, zum anderen aber den Ball wieder kraftvoll zurückschießen an die Politik und vor allem in das Feld der Jobcenter. Die „sollen“, „dürfen“, „können“ in Zukunft – hört sich nach mehr Freiheitsgraden vor Ort an, sind aber unbestimmte Rechtsbegriffe für eine wahrhaft existenzielle Angelegenheit. Da tun sich ganz große Baustellen auf – denn in Zukunft wird es noch mehr darauf ankommen, wie das in den Jobcentern konkret umgesetzt wird und ob bzw. welche Möglichkeit die Betroffenen haben, der Machtasymmetrie zu begegnen.« So im Beitrag Ein Sowohl-als-auch-Urteil. Das Bundesverfassungsgericht, die Begrenzung der bislang möglichen Sanktionierung und eine 70prozentige minimale Existenz im Hartz IV-System vom 6. November 2019, in dem zugleich eine differenzierte Analyse dessen versucht wird, was die Verfassungsrichter entschieden haben. Und das ist neben der Begrenzung besonders harter Ausformungen der Sanktionen zugleich die grundsätzliche verfassungsrechtliche Bestätigung der Zulässigkeit einer Sanktionierung an sich.

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Ein Sowohl-als-auch-Urteil. Das Bundesverfassungsgericht, die Begrenzung der bislang möglichen Sanktionierung und eine 70prozentige minimale Existenz im Hartz IV-System

Nun endlich also ist es da, das seit Jahren erwartete Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu der im wahrsten Sinne des Wortes existenziellen Frage, ob die Sanktionen im Hartz IV-System mit der Verfassung vereinbar sind – oder eben nicht.

Die Richter des Sozialgerichts Gotha haben hier ein Stück Rechtsgeschichte geschrieben. 2015 wurde ein Vorlagebeschluss an das höchste deutsche Gericht adressiert: Mit Beschluss des Sozialgerichts Gotha vom 26.05.2015 (Az.: S 15 AS 5157/14) stellte die 15. Kammer die Unvereinbarkeit von SGB-II-Sanktionen mit dem Grundgesetz fest. Dabei sahen die Gothaer Richter in der Regelung des § 31a i.V.m § 31 und § 31b SGB II insbesondere eine Verletzung der Menschenwürde und des Grundrechts auf Berufsfreiheit. Das Verfahren wurde dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zur abschließenden Entscheidung vorgelegt.

Das hat sich anfangs zu sträuben versucht und wollte den Fall gar nicht erst auf den Tisch bekommen – aber in einem zweiten Anlauf wurde dann das Verfahren doch angenommen. Am 5. November 2019 wurde nun die Entscheidung des höchsten deutschen Gerichts verkündet. Viele Menschen haben teilweise sehnsuchtsvoll darauf gewartet – in der Hoffnung auf eine Klatsche der Verfassungsrichter für die Politik, die über eine vom BVerfG festgestellte Verfassungswidrigkeit der Sanktionen endlich in die Schranken gewiesen werden würde.

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