„Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig.“ (Art 9 Abs. 3 Grundgesetz)
Im Art. 9 Abs. 3 GG, nicht umsonst ganz vorne in unserer Verfassung platziert, findet man die Verankerung der sogenannten Koalitionsfreiheit, mit der im Grunde das Existenzrecht von Gewerkschaften verfassungsrechtlich abgesichert wird. Dabei ist zwischen einer individuellen und einer kollektiven Koalitionsfreiheit zu unterscheiden: »Die individuelle Koalitionsfreiheit garantiert das Recht des Einzelnen, Koalitionen zu gründen. Daher können Arbeitnehmer durch freiwilligen Zusammenschluss Gewerkschaften und Arbeitgeber Arbeitgeberverbände gründen. Arbeitnehmer haben ferner das Recht, sowohl einer bestehenden Koalition beizutreten und sich in ihr zu betätigen (positive Koalitionsfreiheit) als auch das Recht, sich keiner Koalition anzuschließen oder aus einer Koalition auszutreten (negative Koalitionsfreiheit). Durch das Koalitionsrecht ist die gewerkschaftliche Betätigung von Arbeitnehmern geschützt. Sie dürfen wegen ihrer Gewerkschaftszugehörigkeit nicht benachteiligt werden. Daher ist die an Stellenbewerber oder Arbeitnehmer gerichtete Frage des Arbeitgebers nach der Gewerkschaftszugehörigkeit grundsätzlich unzulässig.«
Man ahnt schon, wo in der wirklichen Wirklichkeit die Probleme liegen werden, wenn es um die unabdingbare Voraussetzung der „Tariffähigkeit“ einer Gewerkschaft geht: „Durchsetzungskraft gegenüber dem sozialen Gegenspieler (Arbeitgeber) und eine gewisse Leistungsfähigkeit der Organisation“ müssen gegeben sein, das hört sich aber eindeutiger an, als es ist. Wann das erfüllt ist, kann aus der Formulierung nicht messbar bestimmt werden, sondern ist eine Auslegungssache. Und landet folglich immer wieder mal vor den Gerichten, am (vorläufigen) Ende dann sogar beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG).
»Ob eine Vereinigung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern als tariffähige Gewerkschaft anerkannt wird, kann davon abhängig gemacht werden, ob sie eine gewisse Durchsetzungskraft gegenüber der Arbeitgeberseite aufweist. Das steht mit dem Grundrecht der Koalitionsfreiheit in Einklang.« So beginnt eine Pressemitteilung des BVerfG zu einer Entscheidung des Gerichts, in der es um die Frage nach der Tariffähigkeit einer Gewerkschaft geht: Erfolglose Verfassungsbeschwerde zur Tariffähigkeit von Gewerkschaften, wird uns am 22. November 2019 aus Karlsruhe mitgeteilt. Das „Grundrecht auf rechtliches Gehör“ garantiere keinen Instanzenzug, man könne sehr wohl die Feststellung der Tariffähigkeit auf eine Tatsacheninstanz beschränken, deshalb habe man »die Verfassungsbeschwerde einer Vereinigung von Beschäftigten in der privaten Versicherungsbranche nicht zur Entscheidung angenommen, die durch das Landesarbeitsgericht als nicht tariffähig angesehen worden war.«
Das BVerfG weist darauf hin: »Nach § 97 Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG) entscheiden die Gerichte der Arbeitsgerichtsbarkeit darüber, ob Vereinigungen tariffähig sind und damit Partei eines Tarifvertrages sein können. Den Antrag, das festzustellen, können konkurrierende Vereinigungen treffen. In einem solchen Fall stellte das Landesarbeitsgericht fest, dass keine tariffähige Gewerkschaft im Sinne des § 2 Abs. 1 Tarifvertragsgesetz (TVG) gegeben sei, wenn weder aus vergangener Teilnahme am Tarifgeschehen noch aus der Größe und Zusammensetzung ersichtlich sei, dass die Vereinigung über die erforderliche Durchsetzungskraft verfüge.«
Um was bzw. wen geht’s hier genau? Dazu Christian Rath in seinem Artikel: Zu klein, darf nicht mitmachen: »Die Neue Assekuranz-Gewerkschaft (NAG) kann auch weiter keine Tarifverträge abschließen. Eine Klage der Gewerkschaft, die Beschäftigte aus der Versicherungsbranche vertritt, scheiterte jetzt beim Bundesverfassungsgericht … Die NAG wurde 2010 von enttäuschten Verdi-Mitgliedern gegründet, die die private Krankenversicherung (PKV) bewahren wollen. Verdi dagegen fordert eine einheitliche Bürgerversicherung und damit die Abschaffung der PKV. Die NAG ist keine arbeitgebernahe („gelbe“) Gewerkschaft, sondern versteht sich als streitbare Beschäftigten-Vertretung.«
Das „Manager Magazin“ hat im September 2019 berichtet: »Nachdem Beschäftigte aus der Versicherungsbranche sich bei Verdi nicht mehr vertreten fühlten, wandten sich 2010 auch Funktionäre der zuständigen Fachgruppe ab. Die Abtrünnigen gründeten die Neue Assekuranz Gewerkschaft (NAG) und zogen in wichtige Aufsichtsräte ein. Größter Erfolg: Der Ergo-Konzern blies 2017 nach NAG-Protesten den Verkauf von Lebensversicherungspolicen an Finanzinvestoren ab. Verdi hatte sich nur samtig gewehrt – und war blamiert. Unter Mitgliederschwund leidend, verfolgt Verdi eine knüppelharte Linie: Wo immer es geht, bekämpft man Spartenkonkurrenten – auch gerichtlich. Eine Ausnahme: Gegen die starke Ärztegewerkschaft Marburger Bund ist nichts auszurichten. Die NAG hingegen wurde mit einem Verfahren zur sogenannten Statusfeststellung überzogen. Arbeitsrichter sollten prüfen, ob sie überhaupt Tarifverträge abschließen darf.«
Schauen wir in die Selbstbeschreibung der Neuen Assekuranz Gewerkschaft (NAG): »Die NAG ist die erste deutsche Spezialgewerkschaft für die Interessen der Beschäftigten im privaten Versicherungsgewerbe. Unser Ziel ist es, die Beschäftigten in der deutschen Versicherungsbranche zusammenzuschließen, um mit ihnen und für sie ganz gezielt für die Arbeits- und Einkommensbedingungen der Beschäftigten des Innen- und des Außendienstes einzutreten. Unser Vorteil ist unsere Spezialisierung! Die NAG beschränkt sich auf Themenstellungen der Versicherungswirtschaft. Wir sind kein „Gemischtwarenladen“. Wir kümmern uns um Themen, in denen wir uns auskennen. Denn wir sind eine Gewerkschaft von Versicherungsangestellten für Versicherungsangestellte. Unsere Mitglieder sind Angestellte des Innen- und Außendienstes in der Assekuranz. Das versetzt uns in die Lage, versicherungsspezifische Themen auch versicherungsspezifisch zu beantworten.«
Das liest sich schön, aber wieder zurück zur Ausgangsfrage, mit der sich das BVerfG beschäftigen musste: „Durchsetzungskraft gegenüber dem sozialen Gegenspieler (Arbeitgeber) und eine gewisse Leistungsfähigkeit der Organisation“ müssen gegeben sein – so die Vorgaben. Und für die Beurteilung, ob das gegeben ist, spielt u.a. die Zahl der Mitglieder eine Rolle. Dazu berichtet Christian Rath: »Wieviele Mitglieder die NAG unter den rund 300.000 Beschäftigten der Versicherungsbranche hat, will sie aber nicht sagen.« Das war dann schon vor einigen Jahren auf der Ebene, wo nun auch nach der Entscheidung des BVerfG die Prüfung der Tariffähigkeit abschließend hingehört, also bei der Arbeitsgerichtsbarkeit, der entscheidende Punkt:
»2015 stellte das Landesarbeitsgericht (LAG) Hessen fest, dass die NAG keine tariffähige Gewerkschaft ist. Die NAG sei zu schwach. Nach Schätzung der Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi), die das Statusverfahren beantragt hatte, bestand die NAG damals nur aus rund 500 Mitgliedern.«
➔ Der Größe einer Gewerkschaft gemessen an der Mitgliederzahl wird auch vom BVerfG eine entscheidende Bedeutung zugeschrieben. So wird in BVerfG, Beschluss vom 13. September 2019 – 1 BvR 1/16 ausgeführt: »Für die einzelfallbezogene Beurteilung der Mächtigkeit und Leistungsfähigkeit einer Arbeitnehmervereinigung komme neben deren vergangener Teilnahme am Tarifgeschehen ihrer Mitgliederzahl eine entscheidende Bedeutung zu. Wenn eine junge Gewerkschaft noch nicht am Tarifgeschehen teilgenommen habe, sei ihre Durchsetzungskraft und Mächtigkeit prognostisch zu beurteilen.« Das hohe Gericht bemängelt mit Blick auf die beschwerdeführende NAG, aus deren Angaben »ergebe sich keine tragfähige Prognose für die Fähigkeit, Tarifverhandlungen und Tarifabschlüsse für die Versicherungswirtschaft zu erzwingen. Aus ihren Darlegungen ließe sich mathematisch ein Organisationsgrad von mindestens 0,05 % und höchstens 0,5 % ableiten.« Zu klein also.
Aber die Dienstleistungsgwerkschaft Verdi hängt zugleich mit Blick auf die private Versicherungswirtschaft auch ziemlich wackelig auf dem zu reitenden Pferd:
»Verdi hat nach eigenen Angaben 17.000 Mitglieder in der Versicherungsbranche, zu der rund 300.000 Beschäftigte gehören. Der Organisationsgrad ist also auch bei Verdi schwach.« Das wäre ein mehr als überschaubarer Organisationsgrad von unter 6 Prozent. Müsste dann nicht das Verdikt des Gerichts auch für Verdi gelten? Dazu Christian Rath:
»Allerdings hat Verdi mit knapp zwei Millionen Mitgliedern einen starken Apparat, der auch schwach organisierten Branchen zugute kommt.« Wir erinnern uns an den Hinweis auf die zu erfüllenden Voraussetzungen: „Durchsetzungskraft gegenüber dem sozialen Gegenspieler (Arbeitgeber) und eine gewisse Leistungsfähigkeit der Organisation“. offensichtlich kompensiert die (vor allem aus anderen Branchen geschöpfte) Größe des Gemischtwarenladens Verdi die bei dem Organisationsgrad in der privaten Versicherungswirtschaft mehr als diskussionsbedürftige „Durchsetzungskraft“ gegenüber den Arbeitgebern.
Aus Sicht des Outsiders NAG ist das natürlich ein echtes Dilemma: „Wie soll eine Organisation wachsen, wenn ihr wesentliche Rechte wie die Tariffähigkeit vorenthalten werden?“, so werden Vertreter der NAG von Rath zitiert. Das auch vor dem Hintergrund, dass an die (nun erneut abgelehnte) Feststellung der Gewerkschaftseigenschaft weitere Rechte geknüpft sind: »So können externe NAG-Funktionäre derzeit nicht an Betriebsversammlungen und Betriebsratssitzungen teilnehmen. Die NAG kann auch nicht bei der Wahl externer Aufsichtsratsmitglieder kandidieren.« Auf der anderen Seite – und hier wird die Zweigliedrigkeit der Mitbestimmunsglandschaft in Deutschland erkennbar, mit den Gewerkschaften auf der einen und den Betriebs- bzw. Personalräten auf der anderen Seite, die oftmals Mitglieder der offiziell anerkannten Gewerkschaften sind, das aber nicht sein müssen: »Das Rückgrat der NAG seien die „weit über hundert“ zur NAG gehörenden Betriebsrats-Mitglieder. Für die Kandidatur zum Betriebsrat kommt es nicht auf Streik- und Tariffähigkeit an«, so Christian Rath in seinem Artikel.
Für die unterlegene Gewerkschaft (?) ist das ein herber Rückschlag und eine wirklich zähe Angelegenheit: Für die Beschwerde gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Frankfurt aus dem April 2015 hat das BVerfG vier Jahre gebraucht. Und kapituliert die NAG jetzt nach der Abfuhr aus Karlsruhe? Nein, offensichtlich will man die letzte verbliebene Karte ziehen: „Schwarzer Tag für die Gewerkschaftsfreiheit in Deutschland“: NAG rügt Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu ihrer Tariffähigkeit und kündigt Gang zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte an, so ist deren Pressemitteilung zu der Niederlage in Karlsruhe überschrieben. Das wird dauern.
Die hier angesprochenen grundsätzlichen Fragen der Tariffähigkeit als Voraussetzung für eine Anerkennung als Gewerkschaft werden auch vom BVerfG (als Dilemma) herausgestellt, wenn die Richter in ihrer Entscheidung konstatieren:
»Die Anforderung der Tariffähigkeit stellt insoweit sicher, dass nicht jede Splittervereinigung Tarifverträge erkämpfen und abschließen kann, da nur diejenige Vereinigung als tariffähig anzusehen ist, die ein Mindestmaß an Verhandlungsgewicht und also eine gewisse Durchsetzungskraft gegenüber dem sozialen Gegenspieler aufweist … Durchsetzungsschwache Gewerkschaften werden durch diese Anforderung zwar aus dem Tarifgeschehen verdrängt … Es dürfen dabei aber keine Anforderungen an die Tariffähigkeit gestellt werden, die erheblich auf die Bildung und Betätigung einer Koalition zurückwirken, diese unverhältnismäßig einschränken und so zur Aushöhlung der durch Art. 9 Abs. 3 GG gesicherten freien Koalitionsbildung und -betätigung führen.« BVerfG, Beschluss vom 13. September 2019 – 1 BvR 1/16, Rn. 9)
Und diese grundsätzlichen Fragen sind nicht auf die hier beschriebenen konkreten Sachverhalt aus der Versicherungswirtschaft beschränkt. Es wurde ja schon darauf hingewiesen: »Unter Mitgliederschwund leidend, verfolgt Verdi eine knüppelharte Linie: Wo immer es geht, bekämpft man Spartenkonkurrenten – auch gerichtlich.« Und relevant wird das hier beschriebene Problem beispielsweise für alle, die sich in der Pflege auf den Weg gemacht haben oder machen wollen, um den „Gemischtwarenladen“ Verdi zu verlassen und eine eigenständige „Pflegegewerkschaft“ zu gründen.
Da gibt es einen Verein, der sich im Jahre 2017 gegründet hat, um eine Interessensvertretung für Pflegende in Form einen unabhängigen Pflegegewerkschaft zu bilden: Bochumer Bund, so heißt diese Vereinigung. Die werben gerade auf Twitter für diesen Schritt:
Unabhängig, wie man dazu steht, eine eigene „Pflegegewerkschaft“ zu gründen und Verdi links oder rechts liegen zu lassen – die Akteure werden die erhebliche Schranken setzenden Inhalte der Entscheidung des BVerfG sehr genau zur Kenntnis nehmen (müssen). Nicht ohne Grund ist die Zahl der auch streikfähigen Berufs- oder Spartengewerkschaften seit vielen Jahren konstant: Es handelt sich dabei um den Marburger Bund (MB), die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL), die Vereinigung Cockpit (VC), die Unabhängige Flugbegleiter Organisation (UFO), – die gerade in existenziellen Auseinandersetzungen mit sich selbst und der Lufthansa verstrickt ist -, sowie die Gewerkschaft der Flugsicherung (GdF) und der Deutsche Journalistenverband (DJV). Man sollte nicht wirklich größere Summen darauf verwetten, dass demnächst eine neue dazu kommen wird bzw. kann/darf.