Das nunmehr vergangene Jahr war im Bereich der Grundsicherung vor allem durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 5. November 2019 geprägt ( BVerfG, Urteil vom 05. November 2019 – 1 BvL 7/16), bei dem es um einen Teil der Sanktionen innerhalb des Hartz IV-Regimes ging. Dazu ausführlicher der Beitrag Ein Sowohl-als-auch-Urteil. Das Bundesverfassungsgericht, die Begrenzung der bislang möglichen Sanktionierung und eine 70prozentige minimale Existenz im Hartz IV-System vom 6. November 2019. Darin wurde nicht nur auf die argumentativen Widersprüchlichkeiten in der Entscheidung hingewiesen, sondern vor allem auf den Tatbestand, dass die Sanktionen gerade nicht generell verboten, sondern „lediglich“ eine Begrenzung der besonders harten Formen der Sanktionierung vorgenommen wurde.
Die fundamentale Bedeutung dieses Urteils, auf das man jahrelang warten musste, nachdem Sozialrichter aus Gotha durch einen Vorlagenbeschluss das Verfahren ausgelöst hatten, steht im Kontext mit der Tatsache, dass es hier um nichts weniger als um das Existenzminimum ging – und um eine Antwort auf die Frage, ob das unantastbar ist oder nicht.
Die komplexe Entscheidung des hohen Gerichts ist intensiv und durchaus kontrovers diskutiert worden (vgl. dazu beispielsweise Die mediale Kommentierung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zu den Sanktionen im Hartz IV-System. Eine Auswahl vom 9. November 2019). Und es überrascht im Grunde natürlich nicht, dass sich auch diejenigen zu Wort melden, die das, was wir als „Hartz IV“ bezeichnen, in die Welt gesetzt haben.
An vorderster Stelle der heute im russischen Gasgeschäft umtriebige und sehr gut verdienende Altkanzler Gerhard Schröder (SPD): Altkanzler Schröder plädiert für Hartz-IV-Sanktionen, wird uns am letzten Tag des Jahres mit auf den Weg gegeben. Und dann wird es richtig rührselig, wie der „Genosse der Bosse“ seine Biografie mit dem Thema zu verbinden versucht:
Altkanzler Gerhard Schröder (SPD) erklärt sein Beharren auf Sanktionen bei Hartz IV auch mit Erfahrungen seiner Kindheit. Seine Familie habe lange Zeit von Sozialhilfe gelebt: „Uns ging es in dem Sinne gut, dass wir genug zu essen hatten. Fleisch gab es zwar nur am Sonntag, und dann Pferdefleisch, weil es billiger war“, kann man dem Artikel entnehmen. Für jeden Extrawunsch aber habe man sich anstrengen müssen, auch als Kind. „Wenn wir etwas Taschengeld wollten, konnten wir beim Bauern arbeiten und bei der Ernte oder beim Verziehen der Rüben helfen und uns dann etwas kaufen.“ Dies habe seiner Entwicklung nicht geschadet, und: „Das prägt natürlich ein Verständnis von Leistung, das man hat, und Sie haben recht, ich sage auch vor dem Hintergrund meines eigenen Lebensweges: Sollte es nicht auch heute eine Selbstverständlichkeit sein mitzuwirken, wenn man staatliche Hilfen erhält?“
Man könnte jetzt mit Blick auf den weiteren Lebensweg von Schröder, den vielen staatlichen Hilfen (bis heute) und den zahlreichen Privilegien, die ihm gewährt werden, darüber nachdenken, was denn Herr Schröder der Gesellschaft zurückgibt oder wie sich seine extrem individuelle Profitmaximierung dazu verhält, aber dieser Gedanke soll her gar nicht weiter verfolgt werden. Interessant und sicher auch weit verbreitet innerhalb eines Teils der SPD sind seine (partei)politischen Schlussfolgerungen für die deutsche Sozialdemokratie:
»Schröder riet seiner Partei …, den verfassungsrechtlich zulässigen Rahmen bei Sanktionen gegen Arbeitslose bei Verstößen gegenüber dem Jobcenter auszuschöpfen. „Die SPD muss darüber nachdenken: Wie kommt das bei denjenigen an, die jeden Morgen zur Arbeit gehen, in der Verwaltung, im Laden oder in der Fabrik? Sie können nicht zu spät kommen oder gar nicht erscheinen, ohne dass ihnen daraus Konsequenzen drohen, bis hin zur Entlassung.“ Es sei wichtig, nicht „die Lebenswirklichkeit der Menschen zu verfehlen, die eigene Leistungen erbringen, um für sich selbst und ihre Familien zu sorgen und die mit ihren Steuern und Abgaben das soziale Sicherungssystem finanzieren“.«
Das Ausspielen derjenigen, die unten sind, gegen die, die noch weiter unten sind, ist ein bekanntes und immer wieder gerne aktiviertes Muster. Das übrigens immer auch auf einen weitläufigen Resonanzboden in der Bevölkerung fällt. Und auch die Medien spielen gerne die Klaviatur der Empörung, beispielsweise wenn sie skandalisierend darüber berichten, dass sich Arbeit (angeblich) für Hartz IV-Empfänger nicht lohnen würde.
Aber hier soll es um eine weitere Behauptung aus dem Lager der Hartz IV-Fraktion gehen, immerhin kommt die von einem Ex-Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit (BA): Heinrich Alt (SPD), der war viele Jahre lang im Vorstand der BA für Hartz IV und die Jobcenter zuständig.
»Der frühere Bundesagentur-Vorstand Heinrich Alt übt harte Kritik an der Lockerung der Sanktionsregeln für Hartz-IV-Empfänger. Hartz IV sei inzwischen eine „bedingungslose Grundsicherung”. Das sei ungerecht gegenüber denjenigen, die jeden Morgen brav zur Arbeit gehen«, kann man diesem Artikel entnehmen: Ex-BA-Vorstand: Hartz IV ist nach Sanktions-Lockerung „bedingungslose Grundsicherung”. Heinrich Alt beklagt die Lockerung der Sanktionsregeln für Hartz-IV-Empfänger. Wenigstens die Begrifflichkeit „Lockerung der Sanktionsregeln“ ist hier korrekt.
Dann aber das hier: „Was das Bundesverfassungsgericht und das Arbeitsministerium jetzt aus Hartz IV machen, ist die bedingungslose Grundsicherung.”
Und richtig in Fahrt gekommen führt er weiter aus: »Alt bemängelte, dass wenn jemand eine Kürzung von 30 Prozent bekommen habe, könne er künftig machen, was er wolle. Mehr Sanktion gebe es nicht. „Er braucht sich nicht mehr zu melden, nicht mehr zu kooperieren. Er muss nur noch seine Kontonummer angeben, bekommt 70 Prozent des Regelsatzes und die Miete voll bezahlt”, so Alt weiter. Das halte er für falsch. Besonders gegenüber denjenigen, „die das alles finanzieren, jeden Morgen aufstehen und brav zur Arbeit gehen“ und sich an die Spielregeln halten müssten.«
Eine „bedingungsloses Grundsicherung“? Was für ein Unsinn. Davon kann keine Rede sein. Warum?
Ganz einfach deshalb, weil wir es mit einer „nicht-bedingungslosen“ Grundsicherung zu tun haben, die man gerade nicht verwechseln darf mit einem „bedingungslosen Grundeinkommen“ (und der Bezug darauf schwingt hier immer mit bei solchen falschen Einordnungen).
Denn beim Arbeitslosengeld II und dem Sozialgeld nach SGB II handelt es sich um eine bedürftigkeitsabhängige Sozialhilfeleistung. Das Vorliegen einer definierten Bedürftigkeit ist Zugangsvoraussetzung in das Hilfesystem. Wie immer hilft auch hier ein Blick in das Gesetz, beispielsweise in den § 9 SGB II. Dort heißt es unmissverständlich: »Hilfebedürftig ist, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen, erhält.«
Und daraus resultieren für die Betroffenen umfangreiche Mitwirkungspflichten (beim Verfahren vor dem BVerfG ging es mit Blick auf einen Teil der Sanktionen um eine Verletzung eines Teils der Mitwirkungspflichten). Und die hier zentrale Mitwirkungspflicht, die staatlich definierte Bedürftigkeit nachzuweisen, bevor man Leistungen bekommen kann, ist nun keineswegs durch die Entscheidung des BVerfG vom 05.11.2019 aufgehoben worden. Zugespitzt formuliert: Man kann eben nicht zum Jobcenter gehen und Hartz IV-Leistungen einfordern, ohne nachzuweisen, dass man in einer bedürftigen Lebenslage ist. Man muss sich selbstverständlich auch in Zukunft hinsichtlich der Einkommens- und eventuellen Vermögensverhältnisse vollständig offenbaren, einschließlich der Einkommen und Vermögen anderer Personen, mit denen man in einer Bedarfsgemeinschaft zusammen lebt. Umgekehrt formuliert: Das Jobcenter kann und wird den Zugang zu Leistungen der Grundsicherung verweigern, wenn der Antragsteller hier nicht den entsprechend geforderten Nachweis einer Bedürftigkeit im Sinne der bestehenden rechtlichen Regeln erbracht hat.
Und in der Systematik der Sozialgesetzbücher könnte man den geneigten Leser beispielsweise auf die natürlich auch für den SGB II-Bereich relevanten Vorschriften des SGB I verweisen. In den § 60 ff SGB I findet man genaue Ausführungen zu den „Mitwirkung des Leistungsberechtigten“. So statuiert § 60 Abs. 1 SGB I unmissverständlich:
1) Wer Sozialleistungen beantragt oder erhält, hat
1. alle Tatsachen anzugeben, die für die Leistung erheblich sind, und auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers der Erteilung der erforderlichen Auskünfte durch Dritte zuzustimmen,
2. Änderungen in den Verhältnissen, die für die Leistung erheblich sind oder über die im Zusammenhang mit der Leistung Erklärungen abgegeben worden sind, unverzüglich mitzuteilen,
3. Beweismittel zu bezeichnen und auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers Beweisurkunden vorzulegen oder ihrer Vorlage zuzustimmen.
Und die „Folgen fehlender Mitwirkung“ werden ebenfalls unmissverständlich in § 66 Abs. 1 SGB I zum Ausdruck gebracht:
(1) Kommt derjenige, der eine Sozialleistung beantragt oder erhält, seinen Mitwirkungspflichten nach den §§ 60 bis 62, 65 nicht nach und wird hierdurch die Aufklärung des Sachverhalts erheblich erschwert, kann der Leistungsträger ohne weitere Ermittlungen die Leistung bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise versagen oder entziehen, soweit die Voraussetzungen der Leistung nicht nachgewiesen sind. Dies gilt entsprechend, wenn der Antragsteller oder Leistungsberechtigte in anderer Weise absichtlich die Aufklärung des Sachverhalts erheblich erschwert.
Zu den Tiefen und Untiefen der hier angesprochenen Mitwirkungspflichten vgl. auch diese neue Veröffentlichung:
➔ Bernd Eckardt (2019): Mitwirkungspflichten im SGB II nach § 60 Abs. 1 SGB I und Störungen des Sozialrechtsverhältnisses (Teil 1), in: Sozialrecht Justament.Rechtswissen für die existenzsichernde Sozialberatung, Nr. 12, Dezember 2019, S. 5-12
Dort findet man auch diesen wichtigen Hinweis, der sich auf die – durch das BVerfG-Entscheidung eben gerade nicht hergestellte – Situation beziehen würde, wir hätten ein „sanktionsfreies Grundeinkommen“, hier nicht als „bedingungsloses“ Grundeinkommen verstanden, sondern als eine bedürftigkeitsabhängige Grundsicherung:
»Die Notwendigkeit, die Leistungsgewährung von der Erfüllung von Mitteilungs- und Darlegungspflichten abhängig zu machen, besteht auch bei einem sanktionsfreien Grundeinkommen, das vom Vorliegen der Hilfebedürftigkeit abhängig ist. Die Problematik, dass existenzsichernde Leistungen nicht oder nicht zeitnah aufgrund der Verletzung von Mitteilungs- und Darlegungspflichten erbracht werden, wird auch bei einem sanktionsfreiem Grundeinkommen – so es denn kommen sollte – grundsätzlich fortbestehen.«
Natürlich kennt der Herr Alt als nunmehr ehemaliges Vorstandsmitglied der Sozialbehörde BA diese rechtlichen Regelungen.
Er will uns hier mit seinem Gerede von der „bedingungslosen“ Grundsicherung ganz offensichtlich hinter die Fichte führen.
Es geht hier nicht oder weniger darum, dass erneut mal wieder Menschen unten gegen Menschen ganz unten in Stellung gebracht werden sollen. Offensichtlich betrübt den Mann die Tatsache, dass das BVerfG einen Teil der besonders harten Sanktionen gegenüber Hartz IV-Empfänger begrenzt hat. Beispielsweise die „100-Prozent-Sanktionen“, also den vollständigen Entzug von Hartz IV-Leistungen, die das Vorliegen von Bedürftigkeit voraussetzt, beispielsweise aufgrund von verhaltensbedingten Verletzungen eines Teils der Mitwirkungspflichten. Das führt im Ergebnis natürlich zu einer (teilweisen) Begrenzung der Durchgriffsmacht der Jobcenter, also einem „Machtverlust“ auf der strafenden Seite des Systems.
Man muss an dieser Stelle – gerade weil es differenzierte Positionen so schwer haben in den heutigen Zeiten – darauf hinweisen, dass das „ursprüngliche“ Sozialrecht immer auch den schmalen Grat zwischen Machtgebrauch und Machtmissbrauch seitens der Sozialbehörden gesehen hat und einzudämmen versucht: »Allerdings sind die Mitwirkungspflichten gesetzlich eingebettet in Beratungs- und Unterstützungspflichten seitens der Behörden«, so Bernd Eckardt (2019, S. 7).