In ersten Reaktionen auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) über die – teilweise – Verfassungswidrigkeit bestimmter Sanktionen in bestimmten Fälle im Hartz IV-System (BVerfG, Urteil vom 05. November 2019 – 1 BvL 7/16) habe ich darauf hingewiesen, dass das Urteil nur auf den ersten Blick mehr Rechtssicherheit herstellt: »Die Verfassungsrichter haben sich, bei aller Freude über die vorgenommene Einhegung der Sanktioniserungspraxis, insofern einen schlanken Fuß gemacht, in dem sie zwar einerseits ein wenig mehr Rechtssicherheit schaffen durch die Begrenzung der harten Sanktionierung, zum anderen aber den Ball wieder kraftvoll zurückschießen an die Politik und vor allem in das Feld der Jobcenter. Die „sollen“, „dürfen“, „können“ in Zukunft – hört sich nach mehr Freiheitsgraden vor Ort an, sind aber unbestimmte Rechtsbegriffe für eine wahrhaft existenzielle Angelegenheit. Da tun sich ganz große Baustellen auf – denn in Zukunft wird es noch mehr darauf ankommen, wie das in den Jobcentern konkret umgesetzt wird und ob bzw. welche Möglichkeit die Betroffenen haben, der Machtasymmetrie zu begegnen.« So im Beitrag Ein Sowohl-als-auch-Urteil. Das Bundesverfassungsgericht, die Begrenzung der bislang möglichen Sanktionierung und eine 70prozentige minimale Existenz im Hartz IV-System vom 6. November 2019, in dem zugleich eine differenzierte Analyse dessen versucht wird, was die Verfassungsrichter entschieden haben. Und das ist neben der Begrenzung besonders harter Ausformungen der Sanktionen zugleich die grundsätzliche verfassungsrechtliche Bestätigung der Zulässigkeit einer Sanktionierung an sich.
Oder in diesem Interview des Deutschlandfunks: „Urteil wird zu mehr Rechtsunsicherheit führen“: »Zwar begrüßte Sozialwissenschaftler Stefan Sell … die Begrenzung der Hartz-IV-Sanktionen durch das Bundesverfassungsgericht. Doch das Urteil strotze vor unbestimmten Rechtsbegriffen. Auf die Mitarbeiter der Jobcenter käme damit eine Menge Mehrarbeit zu.«
Was das konkret bedeutet, bekommt nun erste Konturen, die auf eine Zwischenwelt der Rechtsunsicherheit hindeuten:
»Wir haben am Nachmittag des Urteils zusammengesessen mit den Ländern, der Bundesregierung, dem BMAS, und den kommunalen Spitzen und haben vereinbart, in den nächsten zwei, drei Wochen zunächst mal keine Sanktionen auszusprechen, auch nicht im Jugendbereich, weil ich vermute, dass Artikel eins als grundrechtliche Norm auch für unter 25-Jährige gilt. Insofern machen wir erst mal gar nichts, sondern gucken uns das Urteil an. Dann können wir auch keinen Fehler machen, denn wir müssen klären, wie wollen wir mit Jugendlichen umgehen, die vom Verfassungsgericht nicht behandelt worden sind, und wir müssen klären, wie wir mit den Ermessensfragen umgehen, die wir jetzt bekommen haben, in Richtung Härtefälle und der Flexibilität von Sanktionen, sie auch eher aufzuheben, wenn jemand auf die Idee kommt, wieder mitzuwirken. Da müssen wir Regeln schaffen, die für unsere Mitarbeiter und auch für die Betroffenen transparent und nachvollziehbar sind, und das kann man nicht ad hoc über Nacht. Darum haben wir uns gemeinsam mit unseren Partnern entschieden, hier zunächst mal gar nichts mehr zu machen, bis wir Klarheit haben.«
Das sind Worte des Chefs der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele. Es hat sie am 7. November 2019, einen Tag nach der Entscheidung des BVerfG, in diesem Interview mit dem Deutschlandfunk vorgetragen: „Wir haben unser Ermessen immer zugunsten der Hilfebedürftigen ausgelegt“. Alina Leimbach hat das in ihrem Artikel Sanktionsaufschub in den Jobcentern aufgegriffen: »Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Dienstag war ein Paukenschlag. Ein Großteil der bisherigen Hartz IV-Sanktionen ist verfassungswidrig, urteilte das Gericht. Nur noch die 30-Prozent-Sanktion wurde als noch als vertretbarer Eingriff ins Existenzminimum gewertet«, was allerdings falsch ist, denn der Großteil der Sanktionen wurde gar nicht verhandelt seitens des BVerfG – 77 Prozent der Sanktionen entfallen auf Meldeversäumnisse nach § 32 SGB II und die waren nicht Gegenstand des Urteils. Und auch die über eine Kürzung von 30 Prozent des Regelbedarfs hinausgehenden Sanktionen stellen nur eine Teilgruppe der wegen einer Pflichtverletzung nach § 31 SGB II sanktionierten Menschen dar, deren Anteil an allen Sanktionen bei knapp über 10 Prozent liegt.
Leimbach berichtet dann weiter, dass das Urteil insofern eine sofortige Wirkung zeigt, weil es zumindest aufschubweise für Sanktionsfreiheit bei neuen Fällen sorgt. »Das Bundesarbeitsministerium (BMAS) hat … die Jobcenter aufgefordert, bis zur Klärung der Umsetzung des Urteils zu den Hartz-IV-Sanktionen vorerst keine neuen Sanktionsbescheide zu vollstrecken. „Entscheidungen über Sanktionsbescheide nach Paragraf 31 bis 31b SGB II sind vorerst zurückzustellen“, sagte ein Behördensprecher … Bereits sanktionierte würden hingegen weiterhin sanktioniert bleiben – und nur auf 30 Prozent zurückgestuft. Auch seien neue Verfahren wegen Regelverstößen weiterhin einzuleiten, nur eben erstmal nicht zu sanktionieren.«
Nunmehr liegen die als „Hinweise“ an die Jobcenter benannten konkreten Formulierungen seitens der BA auch als Schriftstück vor (vgl. dazu den Facebook-Beitrag von Harald Thomé, 07.11.2019). Sie verdeutlichen die zahlreichen Baustellen, die sich nun in der Praxis aus Sicht der Jobcenter auftun.
Es wird darauf hingewiesen, dass das BVerfG ausdrücklich über die Verletzung von Mitwirkungspflichten der unter 25-Jährigen nicht entschieden hat – ob aber die einschränkenden Auflagen, die das Gericht in seiner Entscheidung für die Älteren verkündet hat, auch für die Jüngeren, die heute noch einem wesentlich härteren Sanktionsregime unterworfen sind, Anwendung finden müssten bzw. sollten, das werde noch „geprüft“. Den wahrscheinlichen Ausgang dieser Prüfung vorwegnehmend wird dann aber entschieden, die folgenden Maßnahmen „sicherheitshalber“ auch für die Gruppe der unter 25 Jahre alten Betroffenen anzuwenden:
„Verfahren nach den §§ 31 bis 31b SGB II sind weiterhin einzuleiten oder fortzuführen. Entscheidungen über Sanktionsbescheide nach §§ 31 bis 31b SGB II sind vorerst zurückzustellen. In den nächsten Wochen werden weitere Hinweise zur Rechtslage ergehen.“
Bei einer Pflichtverletzung sollen die Jobcenter sehr wohl auch weiterhin ein Verfahren in Gang setzen, aber zugleich dann erst einmal nichts mehr tun. Also vor allem nicht entscheiden. Das bedeutet aber auch, dass die Betroffenen eben nicht die davon ausgehen sollten, dass ihnen nichts passieren kann in den kommenden Wochen, denn wenn sich die „Hinweislage“ konkretisiert, dann kann man natürlich die offiziell bereits begonnenen Verfahren einer Entscheidung zuführen.
Was sollen die Jobcenter nun konkret machen mit den Bescheiden, die vor der Urteilsverkündung am 05.11.2019 ergangen sind und die eine Leistungskürzung enthalten, die über die 30 Prozent hinausgehen?
Diese Bescheide sind „mit Wirkung für die Zeit nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zurückzunehmen (§ 40 Abs. 3 SGB II)“ – das bedeutet, die Leistungskürzung über 30 Prozent wird wieder zurückgenommen, aber nur für die Zeit nach dem Urteil, nicht für die Zeit davor. Zugleich wird darauf hingewiesen, dass nicht bestandskräftige Bescheide über Sanktionen in Höhe von 30 Prozent, die vor der Urteilsverkündung festgestellt worden sind, wirksam bleiben – allerdings wenn sie über die 30 Prozent hinaus gehen, dann sind sie aufzuheben.
Ganz offensichtlich braucht man Zeit, sich zu sortieren. Und man muss verhindern, der nun sowieso schon anstehenden zusätzlichen Arbeit noch eine große Schippe oben raufzupacken, in dem man Anlässe produziert, gegen Sanktionsentscheidungen Widerspruch einzulegen und Klagen auszulösen.
Nun richten sich die Hinweise der BA erst einmal „nur“ an die Jobcenter, die in gemeinsamer Trägerschaft von BA und Kommunen sind. Daneben gibt es aber auch noch die Jobcenter in alleiniger kommunaler Trägerschaft. Das sind immerhin ein Viertel aller Einrichtungen.
»Auch bei den Jobcentern in kommunaler Trägerschaft haben sich … mehrere dazu entschieden, übergangsweise erst einmal nicht mehr neu zu sanktionieren. Das bestätigten sowohl das Jobcenter Wuppertal als auch das Jobcenter Erlangen … „Solange wir keine klaren Regeln zur Umsetzung des Urteils haben, haben wir uns entschieden, nicht mehr neue Sanktionen zu vollstrecken«“, sagte Gerd Worm, der Chef des Jobcenters Erlangen.« Das berichtet Alina Leimbach in ihrem Artikel Sanktionsaufschub in den Jobcentern.
Die Botschaft, man würde erst einmal „auf Sanktionen verzichten“, ist aber mit Vorsicht zu genießen. Darauf weist auch Leimbach hin: „Die einzige Ausnahme bei den Sanktionen bleiben die Meldeversäumnisse. Diese werden wir weiter verhängen, weil wir damit rechnen, dass sie in ihrer heutigen Form Bestand behalten“, zitiert sie den Leiter des kommunalen Jobcenters Erlangen, Gerd Worm. Das diese auch bei der BA weiter geahndet werden, bestätigte eine Sprecherin der Bundesagentur für Arbeit. Und die Sanktionen aufgrund von Meldeversäumnissen stellen mit 77 Prozent aller Sanktionen die ganz große Mehrheit der Fälle.
Aber auch da gibt es eine ziemlich große Baustelle: Zu den Kernpunkten des BVerfG-Urteils vom 05.11.2019 gehört dieser Punkt: Leistungsminderungen können zurückgenommen werden, wenn sich die Betroffenen nachträglich ernsthaft und nachhaltig bereit erklären, ihren Pflichten nachzukommen oder die Mitwirkungspflicht erfüllt wird. „Die Minderung darf ab diesem Zeitpunkt nicht länger als einen Monat andauern“, so der Hinweis der BA an die Jobcenter. Das bezieht sich erst einmal nur auf die Sanktionsfälle bei Pflichtverletzung. Aber natürlich stellt sich die Frage nach der Verhältnismäßigkeit, wenn man bei den „harten“ Fällen die nunmehr eingeforderte Möglichkeit einer Verkürzung der Sanktion umsetzt, aber bei den „leichteren“ Fällen eines Meldeversäumnis weiterhin und ohne Ausnahme auf den starren drei Monaten besteht – selbst wenn die hier Betroffenen ebenfalls den die Sanktion ausgelösten Tatbestand heilen wollen.
Und wie ein Mühlstein im Verdauungstrakt der Jobcenter wird sich die vom BVerfG geforderte Möglichkeit erweisen, dass eine Sanktion dann nicht erfolgen muss, wenn diese im konkreten Einzelfall zu einer „außergewöhnlichen Härte“ führen würde. Wie das nun in einer Massenverwaltung administriert werden kann und soll, darüber werden jetzt sicher viele Köpfe innerhalb des Apparates rauchen.
➞ Das Problem besteht naturgemäß darin, dass es keine abschließende Aufzählung und detaillierte Beschreibung der Sachverhalte gibt, die hierunter fallen (könnten). In ständiger Rechtsprechung subsumiert das Bundesverwaltungsgericht beispielsweise unter den Begriff Härtefall einen atypischen Sachverhalt, der sich aus dem Regelungsinhalt der betreffenden Vorschrift in Verbindung mit den Besonderheiten des Einzelfalls ergeben muss. Dabei muss eine objektive Härte feststellbar sein. Eine Steigerung ist die „besondere“ oder „unbillige“ Härte. Ein besonderer Härtefall liegt nach ständiger Rechtsprechung nur dann vor, wenn außergewöhnliche, schwerwiegende, atypische und möglichst nicht selbstverschuldete Umstände vorliegen oder diese eine sonstige Notlage hervorrufen würden vgl. beispielsweise BSG, Urteil vom 6. September 2007, Az. B 14/7b AS 28/06 R). Das wird eine Menge Arbeit machen und wiederum – man ahnt es schon – eine Menge Konflikt-, Streit- und Klagepotenzial entfalten.
Während nun auf der Seite der Sanktions- und Hartz IV-Kritiker die Hoffnung bzw. Forderung nach einem generellen Sanktionsstopp vorgetragen wird, muss sich die Verwaltungsseite auf dem schwankenden Grund der Übergangsphase sammeln und orientieren und in der Politik muss man das Urteil (oder darüber hinausgehend?) gesetzgeberisch verarbeiten. Das wird dauern. Und selbst wenn man die Vorgaben des BVerfG (nur) eins zu eins im Regelwerk des SGB II verankert, bleiben neben den angesprochenen rechtlichen Fragezeichen, was die Behandlung der anderen Sanktionen angeht, zahlreiche Problemfelder in der Praxis und die Frage nach einer möglichst flächendeckenden Unterstützung der Betroffenen.
Vor dem hier skizzierten und nunmal mehr als komplizierten Hintergrund, vor allem aber angesichts der tatsächlich gerade nicht vom Bundesverfassungsgericht untersagten Sanktionierung im Hartz IV-System erscheinen dann solche medialen Abfälle noch schlimmer, als sie sowieso schon sind: