Die Pflege weiter allein zu Haus: Das Bundesverfassungsgericht will/kann der Pflege nicht helfen. Verfassungsbeschwerde gegen den „Pflegenotstand“ nicht zur Entscheidung angenommen

So eine Schlagzeile wird allen weh tun, die für die Pflege unterwegs sind: Klage gegen Pflegenotstand gescheitert. Von Karlsruhe ist keine Hilfe für diesen wahrlich gebeutelten Bereich und damit für die dort zu pflegenden wie arbeitenden Menschen zu erwarten. Das Bundesverfassungsgericht hat schon in der Überschrift einer Pressemitteilung über die Nicht-Annahme einer Verfassungsbeschwerde mit Anführungszeichen gearbeitet: Verfassungsbeschwerde gegen den „Pflegenotstand“ nicht zur Entscheidung angenommen, so heißt es dort. Offensichtlich will man damit seine Distanz zur Begrifflichkeit zum Ausdruck bringen, als ob dieses Wort eine Nicht-Realität widerspiegelt, zumindest kann man damit nicht viel anfangen. Vielleicht will man auch warnen, dass es sich um ein kontaminiertes Wort handelt. Dabei sind die Anführungszeichen begründungspflichtig, denn offensichtlich ist seine Verwendung mehr als weit verbreitet – ein einfacher Test mit Google fördert immerhin in nur 0,35 Sekunden „ungefähr 164.000 Ergebnisse“ zu Tage. Rein quantitativ gesehen muss da schon was dran sein. Aber eine Google-Suche kann auf der anderen Seite natürlich nicht wirklich ein Maßstab sein für die höchsten Richter unseres Landes bei der Beurteilung der Frage, ob etwas gegen die Verfassung verstößt.

Ablehnung einer Verfassungsbeschwerde gegen die Pflegemissstände in unserem Land – war da nicht schon mal was vor kurzem? Das wird sich der eine oder andere Leser dieses Blogs erinnernd fragen. Genau, erst am 10 Januar 2016 konnte man hier den Beitrag lesen: Immer diese Zuständigkeitsfragen. Das Bundesverfassungsgericht lehnt Verfassungsbeschwerde gegen Missstände im Pflegesystem ohne weitere Begründung ab. Aber hier wird nichts aufgewärmt, sondern tatsächlich geht es bei dem neuen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts um ein anderes – angestrebtes – Verfahren.

Im Januar dieses Jahres ging es um den Vorstoß des in der Angelegenheit Pflegenotstand engagierten Armin Rieger, der in Augsburg das Pflegeheim „Haus Marie“ leitet. Ihm ging und geht es um eine Beschwerde gegen den Staat wegen Verletzung der Schutzpflicht gegenüber den Pflegebedürftigen. Er hat Mitte 2014 »einen 21-seitigen Schriftsatz nach Karlsruhe geschickt, der sich wie eine einzige Abrechnung mit dem aktuellen Pflegesystem las. Darin warf er Heimen und Pflegern sogar Urkundenfälschung und Betrug vor: „Jeder weiß, dass täglich Leistungen seitens der Pflegekräfte abgezeichnet oder dokumentiert werden, die nicht geleistet werden können.“ Die Krankenkassen und Politiker wüssten davon auch, doch es werde „systematisch weggeschaut“. Laut Rieger sei unter den aktuellen Rahmenbedingungen eine Berufsausübung „unter ethischen Gesichtspunkten nicht möglich. Der vorgegebene Personalschlüssel und die zustehenden Mittel lassen eine menschenwürdige Pflege nicht zu“«, kann man zur Vorgeschichte in dem Artikel Pflege-Rebell scheitert endgültig lesen, der bereits in der Überschrift auf den Punkt bringt, was aus dem Vorstoß geworden ist. Nichts.

Die Verfassungsbeschwerde des Heimleiters wurde nicht wegen der Inhalte oder einer fehlenden substanziellen Begründung abgelehnt, denn die hat das BVerfG gar nicht erst geprüft. Die Entscheidung zur Ablehnung wurde formalistisch begründet: Für bessere Pflege in Senioreneinrichtungen dürften nur diejenigen klagen, die dort leben. Rieger dagegen sei Geschäftsführer und Mitinhaber des „Haus Marie“. Mithin sei er für die Verfassungsbeschwerde gar nicht „zuständig“.

Bei dem aktuellen Fall geht es um einen parallelen Vorstoß von anderer Seite. Auch über den wurde hier – bereits am 8. November 2014 – in einem eigenen Beitrag berichtet: Man bittet das Bundesverfassungsgericht um „Hilfe in höchster Not“. Es geht also um die Pflege. Um die Pflege von Menschen mit Grundrechten.  Sieben Musterkläger fordern das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe auf, gegen den Pflegenotstand in Deutschland einzuschreiten und den Gesetzgeber „zur Einhaltung seiner verfassungsrechtlichen Verpflichtungen“ zu bewegen. »So eine Verfassungsklage hat es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht gegeben«, urteilte damals Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung in seinem Artikel Aufschrei gegen den Pflegenotstand.

Die Nöte der Beschwerdeführer, zwischen 35 und 89 Jahre alt, die aufgrund ihrer Lebenssituation damit rechnen müssen, in einem Pflegeheim untergebracht zu werden, wurden dem höchsten deutschen Gericht in einer 112-seitigen Klageschrift zugestellt worden. Hinter den Klägern stand der Sozialverband VdK. Die damalige Hoffnung war, dass wenn die Bundesverfassungsrichter zu dem Schluss kommen, dass der Staat seine Schutzpflichten gegenüber Pflegebedürftigen bislang verletzt, der Gesetzgeber dann in einer bestimmten Frist Abhilfe schaffen müsse.

»Aber wird man diese Hilfe vom höchsten Gericht auch bekommen? So sehr man sich gerade an dieser Stelle eine volle Bejahung wünschen würde, plausibel ist so ein Ergebnis eher nicht.« So die Einschätzung bereits in dem Beitrag vom 8. November 2014. Referenzpunkt für diese Skepsis war die zum damaligen Zeitpunkt bereits bekannte Nicht-Annahme der Verfassungsbeschwerde des Herrn Rieger: »Für bessere Pflege in Senioreneinrichtungen dürften nur diejenigen klagen, die dort leben. Rieger dagegen ist Geschäftsführer und Mitinhaber des „Haus Marie“. Man möchte dem Gericht nicht zu nahe treten, aber so ganz konsequent erscheint diese etwas gewillkürt daherkommende Grenze nun auch wieder nicht, denn auch ein Heimleiter kann ein Betroffener sein – vor allem von Zuständen, die als systematisch generiert angesehen werden.«

Und genau das wurde als Achillesferse auch bei der VdK-Klage gesehen, denn »die formalistische Ablehnungsbegründung des BVerfG könnte sich auch bei dem – anders gelagerten – Ansatz des VdK als Bumerang erweisen, da es sich auch hier um Einzelkläger handelt, die (noch) nicht in einem Heim leben und eine andere Politik wollen angesichts dessen, dass ihnen dann droht.«

Neben der Vorahnung, dass auch dieser Vorstoß aus primär formalistischen Gründen auflaufen wird, wurde damals ein weiteres Fragezeichen hinsichtlich einer möglichen Rolle des Bundesverfassungsgerichts vorgetragen:

»Aber auch wenn wir einmal spekulieren, dass das Bundesverfassungsgericht entscheiden sollte, man lässt das Verfahren zu, weil wenigstens eine „halbseitige“ Betroffenheit angenommen wird. Was dann? Wo soll das Gericht die beschriebene Grenze zwischen einem unabwendbaren Leid und einer Konsequenz aus einer unterentwickelten Ressourcenlage oder einer unterlassenen Heimaufsicht auf der anderen Seite ziehen? Ab wann kippt in praxi die Schuldfrage von der einen zur anderen Seite?«

Dann schauen wir uns abschließend an, was das Bundesverfassungsgericht denn heute in seiner Pressemitteilung Verfassungsbeschwerde gegen den „Pflegenotstand“ nicht zur Entscheidung angenommen vorgetragen hat an Gründen für eine Nicht-Annahme der Verfassungsbeschwerde (die Entscheidung im Original: BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 11. Januar 2016 
– 1 BvR 2980/14):

»Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, da eine Verletzung einer grundrechtlichen Schutzpflicht durch grundgesetzwidriges Unterlassen des Gesetzgebers sowie die eigene und gegenwärtige Betroffenheit der Beschwerdeführer nicht hinreichend substantiiert vorgetragen wurde.«

Die Verfassungsrichter stützen ihre Entscheidung im Wesentlichen auf zwei Punkte:

»1. Nur in seltenen Ausnahmefällen lassen sich der Verfassung konkrete Pflichten entnehmen, die den Gesetzgeber zu einem bestimmten Tätigwerden zwingen. Ansonsten bleibt die Aufstellung und normative Umsetzung eines Schutzkonzepts dem Gesetzgeber überlassen. Ihm kommt ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu. Die Entscheidung, welche Maßnahmen geboten sind, kann vom Bundesverfassungsgericht nur begrenzt nachgeprüft werden. Es kann erst dann eingreifen, wenn der Gesetzgeber seine Pflicht evident verletzt hat.«

Genau dieses Erfordernis sehen die Verfassungsrichter aber bei der vorliegenden Verfassungsbeschwerde als nicht erfüllt an:

»Weder führen die Beschwerdeführer aus, unter welchen Gesichtspunkten die bestehenden landes- und bundesrechtlichen Regelungen zur Qualitätssicherung evident unzureichend sein sollten, noch zeigt die Verfassungsbeschwerde substantiiert auf, inwieweit sich eventuelle Defizite in der Versorgung von Pflegebedürftigen in Pflegeheimen durch staatliche normative Maßnahmen effektiv verbessern ließen.«

Dann wird noch ein zweiter Punkt nachgeschoben, der zum einen an die bekannte Argumentationsfigur der Nicht-Betroffenheit wie im Fall des Heimleiters Rieger erinnert, zum anderen aber an einer markanten Stelle hinausgeht:

»2. Die Verfassungsbeschwerde zeigt auch nicht hinreichend substantiiert auf, dass die Beschwerdeführer selbst, gegenwärtig und unmittelbar in ihren Grundrechten verletzt sind … Vorliegend ist bereits die Notwendigkeit von stationärer Pflege in der Person der Beschwerdeführer nicht mit der gebotenen Wahrscheinlichkeit gegeben. Hinzu kommt, dass Pflegebedürftige gemäß § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB XI zwischen den für die Versorgung zugelassenen Pflegeheimen wählen können. Gegenüber grundrechtswidrigen Pflegemaßnahmen ist um fachgerichtlichen Rechtsschutz zu ersuchen.«

Während der erste Teil der unter Punkt 2 vorgetragenen Argumentation der entspricht, mit der schon die Beschwerde des Herrn Rieger zurückgewiesen wurde, enthält der zweite Teil eine fast schon putzige Bewertung, die aber keineswegs den gerade bei einem Verfassungsgericht anzulegenden inhaltlichen Maßstäben genügen kann: Gleichsam im Fahrtwind eines sehr reduzierten und mit Blick auf die Lebenswirklichkeit mehr als fragwürdigen Postulats einer „Wahlfreiheit“ des Pflegebedürftigen zwischen verschiedenen Heimen wird in den Raum gestellt, jeder könne sich ja einem Heim mit Pflegenotstand entziehen. Das hat nun rein gar nichts mit der Versorgungsrealität vieler Menschen in vielen Regionen unseres Landes zu tun. Also entweder hätte man sich dieses Argument sparen sollen oder aber man muss das „substantiiert“ begründen können – das verlangt das Gericht von den Beschwerdeführern ja auch.
Aber was soll’s. Der letzte Satz im Zitat – »Gegenüber grundrechtswidrigen Pflegemaßnahmen ist um fachgerichtlichen Rechtsschutz zu ersuchen« – macht deutlich, was der Kern der Botschaft aus Karlsruhe ist: Wir sind nicht zuständig, bei Details wendet euch bitte an die Fachgerichte. Man wird sicher erleichtert sein beim hohen Gericht, dass dieser Kelch an einem vorübergegangen ist angesichts der Tiefen und Untiefen, die mit dem Pflegenotstandsthema verbunden sind.
Und fürwahr – der Ball liegt damit wieder im Spielfeld, wo er hingehört: Es handelt sich um politische Weichenstellung und um konkrete gesetzgeberische Gestaltungen, mit denen man die mit dem Begriff des Pflegenotstands beschriebene Problematik bearbeiten müsste, sollte, könnte. Wenn man denn wollte.
Und mit dem Wollen ist das bekanntlich so eine Sache. Die Pflege, also vor allem und zuerst die Pflegekräfte, müssen ihre Sache in die eigenen Hände nehmen. Beispielsweise das irgendwann einmal das, was beispielsweise auf Twitter unter dem Hashtag #Pflegestreik virtuell verhandelt wird, zu einer realen politischen Auseinandersetzung wird. 

Immer diese Zuständigkeitsfragen. Das Bundesverfassungsgericht lehnt Verfassungsbeschwerde gegen Missstände im Pflegesystem ohne weitere Begründung ab

Zuständigkeitsfragen sind in bürokratischen Systemen wichtig und in Deutschland ganz besonders. In der Justiz sind Zuständigkeitsfragen nicht nur relevant für die sachlich richtige Zuordnung von Anliegen an die zuständige Gerichtsbarkeit, sie eröffnen oder verschließen auch den Zugang zu der im Grunde letzten Instanz, dem Bundesverfassungsgericht. Von dem ja schon manche Überraschung verkündet worden ist, wenn es sich denn mit einem bestimmten Thema beschäftigt. Diesen Weg hat auch der engagierte Armin Rieger beschritten, der in Augsburg das Pflegeheim „Haus Marie“ leitet. Ihm ging und geht es um eine Beschwerde gegen den Staat wegen Verletzung der Schutzpflicht gegenüber den Pflegebedürftigen.

Er hat Mitte 2014 »einen 21-seitigen Schriftsatz nach Karlsruhe geschickt, der sich wie eine einzige Abrechnung mit dem aktuellen Pflegesystem las. Darin warf er Heimen und Pflegern sogar Urkundenfälschung und Betrug vor: „Jeder weiß, dass täglich Leistungen seitens der Pflegekräfte abgezeichnet oder dokumentiert werden, die nicht geleistet werden können.“ Die Krankenkassen und Politiker wüssten davon auch, doch es werde „systematisch weggeschaut“. Laut Rieger sei unter den aktuellen Rahmenbedingungen eine Berufsausübung „unter ethischen Gesichtspunkten nicht möglich. Der vorgegebene Personalschlüssel und die zustehenden Mittel lassen eine menschenwürdige Pflege nicht zu“«, kann man zur Vorgeschichte in dem Artikel Pflege-Rebell scheitert endgültig lesen, der bereits in der Überschrift auf den Punkt bringt, was aus dem Vorstoß geworden ist. Nichts.

Seine Vorwürfe, die er in der Verfassungsbeschwerde vorgetragen hat, wiegen sehr schwer:

»Der Heimleiter wirft den staatlichen Behörden vor, Missständen in Pflegeeinrichtungen seit Jahren untätig zuzusehen. Das verletze das Recht der Pflegebedürftigen auf Würde, Gleichheit und körperliche Unversehrtheit. So müssten auch in seinem Heim wegen unzureichender Personalausstattung Bewohner immer wieder darauf warten, zur Toilette gebracht oder gewaschen zu werden. In vielen Heimen bekämen die Bewohner nicht genügend oder schlechtes Essen.«

Aber bereits Anfang September 2014 konnte bzw. musste man in der Presse lesen: Verfassungsklage für bessere Pflege abgeschmettert. Damals aber wurde die Verfassungsbeschwerde des Heimleiters nicht wegen der Inhalte oder einer fehlenden substanziellen Begründung, denn die hat das BVerfG gar nicht erst geprüft. Die Entscheidung zur Ablehnung wurde formalistisch begründet: Für bessere Pflege in Senioreneinrichtungen dürften nur diejenigen klagen, die dort leben. Rieger dagegen sei Geschäftsführer und Mitinhaber des „Haus Marie“. Mithin sei er für die Verfassungsbeschwerde gar nicht „zuständig“.

»Man möchte dem Gericht nicht zu nahe treten, aber so ganz konsequent erscheint diese etwas gewillkürt daherkommende Grenze nun auch wieder nicht, denn auch ein Heimleiter kann ein Betroffener sein – vor allem von Zuständen, die als systematisch generiert angesehen werden.«

Das habe ich am 8. November 2014 in dem Beitrag Man bittet das Bundesverfassungsgericht um „Hilfe in höchster Not“. Es geht also um die Pflege. Um die Pflege von Menschen mit Grundrechten angemerkt. Gegen die damalige Ablehnung der Annahme der Verfassungsbeschwerde hat Rieger Beschwerde eingelegt, die nunmehr mit einem kurzen Schreiben ohne irgendeine inhaltliche Begründung von der Ersten Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts einstimmig abgelehnt worden ist. Damit ist der Ansatz endgültig gescheitert an den Klippen des höchsten deutschen Gerichts.

Entsprechend frustriert ist der engagierte Heimleiter. In dem Artikel der Süddeutschen Zeitung wird er mit diesen Worten zitiert: „Ich dachte nicht, dass ich einmal sagen würde, dass ich mich für Deutschland schäme, aber nun schäme ich mich tatsächlich für unser Land und für unsere Politiker.“

Aber der Vollständigkeit halber sei an das erinnert, was in dem Blog-Beitrag vom 09.11.2014 auch noch berichtet wurde und was vor dem formalen Ablehnungsgrund des BVerfG von Bedeutung ist, denn die haben sich ja gar nicht inhaltlich mit der Beschwerde auseinandergesetzt, weil nach ihrer Interpretation nur „Betroffene“ ein Beschwerderecht hätten. Der Sozialverband VdK hat ebenfalls Verfassungsbeschwerde eingelegt – korrekter: einlegen lassen von Beschwerdeführer, die zwischen 35 und 89 Jahre alt sind und die aufgrund ihrer Lebenssituation damit rechnen müssen, in einem Pflegeheim untergebracht zu werden. Diese Personen werden vom VdK „unterstützt“. Die Zielsetzung bzw. die Hoffnung des Sozialverbandes: Wenn die Richter in Karlsruhe aber zu dem Schluss kommen, dass der Staat seine Schutzpflichten gegenüber Pflegebedürftigen bislang verletzt, muss der Gesetzgeber in einer bestimmten Frist Abhilfe schaffen.

Aber wird man diese Hilfe vom höchsten Gericht auch bekommen? In dem Blog-Beitrag aus dem November 2014 wurde pessimistisch formuliert: »So sehr man sich gerade an dieser Stelle eine volle Bejahung wünschen würde, plausibel ist so ein Ergebnis eher nicht.« Diese Einschätzung basiert auf der Annahme, dass die im Fall Rieger verwendete formalistische Ablehnungsbegründung des BVerfG sich auch bei dem – anders gelagerten – Ansatz des VdK als Bumerang erweisen könnte, da es sich letztendlich auch hier um Einzelkläger handelt, die (noch) nicht in einem Heim leben und eine andere Politik wollen angesichts dessen, dass ihnen dann droht, aber nicht um unmittelbar im Hier und Jetzt Betroffene.

Und selbst wenn es anders kommen sollte in dem anhängigen VdK-Verfahren, bleibt die damals aufgeworfene Frage:

»Aber auch wenn wir einmal spekulieren, dass das Bundesverfassungsgericht entscheiden sollte, man lässt das Verfahren zu, weil wenigstens eine „halbseitige“ Betroffenheit angenommen wird. Was dann? Wo soll das Gericht die beschriebene Grenze zwischen einem unabwendbaren Leid und einer Konsequenz aus einer unterentwickelten Ressourcenlage oder einer unterlassenen Heimaufsicht auf der anderen Seite ziehen? Ab wann kippt in praxi die Schuldfrage von der einen zur anderen Seite?«

Ein Thema von wahrhaft existenzieller Bedeutung.

Die Angst der Kommunen vor einem weiteren Ausgabenschub und zugleich grundsätzliche Fragen an eine Bypass-Auffangfunktion der Sozialhilfe nach SGB XII

Das war zu erwarten und es wird noch deutlich schriller werden, wenn alle die aktuellen Entscheidungen des Bundessozialgerichts zur Frage nach dem Sozialhilfeanspruch bestimmter EU-Ausländer nachvollzogen haben – vgl. zum Hintergrund den Beitrag Griechisch-rumänisch-schwedische Irritationen des deutschen Sozialsystems. Das Bundessozialgericht, die „Hartz IV“-Frage bei arbeitsuchenden „EU-Ausländern“ und eine Sozialhilfe-Antwort vom 3.12.2015. Am Ende dieses Beitrags findet sich die folgende erste Bewertung:

»Das BSG bestätigt zwar den Leistungsausschluss mit Blick auf das SGB II, also das „Hartz IV“-System. Es fügt aber die Kategorie des „verfestigten Aufenthalts“ in das komplizierte Sozialleistungsanspruchsgefüge ein. Und wenn das gegeben ist, dann müssen Sozialhilfeleistungen nach SGB XII gezahlt werden. Zehntausende EU-Ausländer haben in Deutschland nach den heutigen Entscheidungen des BSG Anspruch auf Sozialhilfe: Zwar gelte der bestehende Ausschluss von Hartz-IV-Leistungen weiter, spätestens nach sechs Monaten Aufenthalt in Deutschland aber muss die Sozialhilfe einspringen. In den Worten des Gerichts: »Im Falle eines verfestigten Aufenthalts – über sechs Monate – ist (das) Ermessen aus Gründen der Systematik des Sozialhilferechts und der verfassungsrechtlichen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in der Weise reduziert, dass regelmäßig zumindest Hilfe zum Lebensunterhalt in gesetzlicher Höhe zu erbringen ist.«
Das wird die Kommunen nicht erfreuen, denn die Sozialhilfeleistungen nach dem BSHG sind – anders als der größte Teil der SGB II-Leistungen – kommunale Leistungen, also von den Gemeinden auch zu finanzieren.«

Und genau an dieser Stelle setzt nun eine erste Kritiklinie an: Bereits unmittelbar im Anschluss an das Urteil konnte man in der für die FAZ bei solchen Themen typischen subkutanen Übertreibung durch die Art und Weise der Formulierung in der Überschrift die Meldung lesen: Milliardenkosten durch Sozialhilfe für EU-Ausländer? Übertreibung deshalb, weil es auch nach der ersten bislang vorgelegten Hochrechnung der möglichen Empfängerzahlen von an dramatischen Werten interessierter Seite nicht um Milliarden geht, sondern um eine kleinere, dennoch für die, die zahlen müssen, erhebliche Ausgabesumme.

Durch die Urteile des BSG drohen den Städten und Kreisen »Kosten von mehr als einer halben Milliarde Euro im Jahr«, berichten Jan Hauser und Joachim Jahn in ihrem Artikel. Man sollte allerdings bei der Rezeption solcher Euro-Werte eine gewisse Skepsis an den Tag legen, wenn man solche Zitate lesen muss:  „Das Urteil birgt Sprengstoff“, so wird Felix Schwenke, Sozialdezernent der Stadt Offenbach, in dem Artikel zitiert. „Wir müssen genau beobachten, was im Detail dort drinsteht.“ Also man fragt sich dann schon, wie man konkrete Euro-Beträge angeben kann, wenn man erst einmal nachvollziehen muss, was im Detail in den Urteilen des BSG steht.
Aber wir werden mit konkreteren Zahlen versorgt, die hier zitiert werden sollen:

»Nach Einschätzung des Landessozialgerichts Essen könnte das Urteil etwa 130.000 Menschen vor allem aus Bulgarien und Rumänien betreffen, die nun Sozialhilfe erhalten. Der Regelsatz für Alleinstehende der Sozialhilfe steigt zum Jahreswechsel um 5 Euro auf 404 Euro im Monat. Das würde Kosten für die Kommunen von 630 Millionen Euro im Jahr bedeuten, sofern 130.000 Alleinstehende Sozialhilfe erhalten, die vorher keine Leistungen bekamen. Zusätzlich kommen Kosten für Unterkunft und Heizung hinzu. Dadurch könnten die Belastung insgesamt fast 1 Milliarde Euro betragen – abhängig davon, wie viele EU-Ausländer tatsächlich Leistungen erhalten.«

Aber woher nimmt das zitierte LSG Essen die „etwa 130.000“ Menschen? Interessanterweise taucht die auch in einer anderen Quelle auf: In der Pressemitteilung Landkreistag kritisiert Urteile zur Sozialhilfe für EU-Bürger konnte man am 4.12.2015 lesen:

»Nach ersten überschlägigen Berechnungen geht der Deutsche Landkreistag bei einer Gruppe von um die 130.000 betroffenen Personen von jährlichen Mehrkosten für die Landkreise und kreisfreien Städte in Höhe von um die 800 Mio. € aus. Das ist kein Pappenstiel!«

Wer hat da jetzt von wem abgeschrieben, das wäre eine mögliche Frage, der man nachgehen könnte. Aber die ist hier nicht wirklich von Interesse. So oder so – es wird zu einem weiteren Ausgabeschub in diesem Fall für die Kommunen kommen, wenn die Entscheidungen des BSG umgesetzt werden (müssen).

Es gibt noch eine zweite, vielleicht weitaus schwierigere Dimension des Themas: Gemeint sind systematische Anfragen an ein mittlerweile überaus komplexes Teilgebiet der sozialen Sicherung, also die (an sich nicht geplanten) Schnittstellen zwischen dem SGB II und dem SGB XII. Einen ersten Hinweis darauf findet man in der Bewertung der für viele sicher überraschenden Entscheidungen des BSG in dem Blog-Beitrag vom 03.12.2015:

»Auch nicht unproblematisch ist eine neue Auffächerung des Grundsicherungssystems, denn eigentlich sollen ja alle erwerbsfähigen Menschen über das SGB II-System abgesichert werden. Das SGB XII gilt gerade nicht – im Normalfall – für diese Personen. Nun aber doch, zumindest für eine Teilgruppe der an sich Erwerbsfähigen. Das macht das System nicht wirklich einfacher, ganz im Gegenteil. Aber offensichtlich hat man beim BSG nach einer Bypass-Strategie gesucht mit Blick auf die Absicherung des Existenzminimums angesichts der durch gesetzliche Regelungen wie auch durch die EuGH-Rechtsprechung blockierten SGB II-Lösung, wo die Fälle eigentlich hin gehören.«

Schaut man sich die Entscheidungen des BSG an, dann wird man den Eindruck nicht los, dass die Richter eine Bypass-Strategie zur Umgehung des (nunmehr sogar vom EuGH als europarechtskonform bestätigten) Ausschlusses von (hier eigentlich relevanten) SGB II-Leistungen gesucht haben und meinen, diese in einem subsidiären SGB XII-Anspruch gefunden zu haben. Dafür braucht es natürlich eine Begründung und zugleich muss man die gewählte Ausweichstrategie absichern gegen entsprechende gesetzgeberische Interventionen in den SGB XII-Bereich, um das für die Kommunen aufgeworfene Problem zu bearbeiten. Also rekurriert das BSG auf eine wegweisende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) aus dem Jahr 2012, hier zum damaligen Asylbewerberleistungsgesetz und der Frage, ob die dort vorgesehenen abgesenkten Sätze verfassungswidrig seien oder nicht. Die Entscheidung des BVerfG (vgl. dazu im Original BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 18. Juli 2012  – 1 BvL 10/10) war eindeutig und die Leitsätze, insbesondere Nr. 2 und 3, sollten im Lichte der neuen BSG-Enscheidung sorgfältig zur Kenntnis genommen werden, denn die beziehen sich explizit auf diese höchstrichterliche Entscheidung:

»1. Die Höhe der Geldleistungen nach § 3 des Asylbewerberleistungsgesetzes ist evident unzureichend, weil sie seit 1993 nicht verändert worden ist.

2. Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG garantiert ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (vgl. BVerfGE 125, 175). Art. 1 Abs. 1 GG begründet diesen Anspruch als Menschenrecht. Er umfasst sowohl die physische Existenz des Menschen als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Das Grundrecht steht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu.

3. Falls der Gesetzgeber bei der Festlegung des menschenwürdigen Existenzminimums die Besonderheiten bestimmter Personengruppen berücksichtigen will, darf er bei der konkreten Ausgestaltung existenzsichernder Leistungen nicht pauschal nach dem Aufenthaltsstatus differenzieren. Eine Differenzierung ist nur möglich, sofern deren Bedarf an existenznotwendigen Leistungen von dem anderer Bedürftiger signifikant abweicht und dies folgerichtig in einem inhaltlich transparenten Verfahren anhand des tatsächlichen Bedarfs gerade dieser Gruppe belegt werden kann.«

Vor diesem Hintergrund stellen sich natürlich systematische Fragen: Also wenn man die Rechtsprechung des BSG zugegeben etwas holzschnittartig zusammenfassen soll, dann wird das an sich im Sozialhilferecht angelegte Leistungsausschlussprinzip für „nur“ arbeitsuchende EU-Ausländer (vgl. dazu eindeutig den § 23 Abs. 3 SGB XII: »Ausländer, die eingereist sind, um Sozialhilfe zu erlangen, oder deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, sowie ihre Familienangehörigen haben keinen Anspruch auf Sozialhilfe.«) partiell ausgehebelt durch die Anerkenntnis, dass in den ersten drei Monaten (so wie auch im § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 SGB II normiert) nichts zu bekommen ist, zwischen drei und sechs Monate gibt es ein Niemandsland, aber ab dem sechsten Monat muss dann das neue Konstrukt des „verfestigten Aufenthalts“ berücksichtigt werden. In anderen Worten: Man muss die ersten sechs Monate irgendwie überbrücken, dann hat man gute Aussichten auf Sozialhilfeleistungen nach dem SGB XII, die aber eigentlich für Nicht-Erwerbsfähige gedacht sind, weil für die anderen ja das SGB II zuständig ist. Also eigentlich. Macht das wirklich Sinn?

Und auch die explizite Bezugnahme der Bundessozialrichter auf das Urteil des BVerfG aus dem Jahr 2012 zum Asylbewerberleistungesetz erscheint irgendwie als Versuch, die offensichtliche Umgehungsstrategie abzusichern. Aber das BVerfG-Urteil spricht in seinem wirklich wichtigen Urteil gerade nicht von einer zeitlichen Differenzierung, also damit lässt sich die weiterhin bestehende „6-Monats-Lücke“ gerade nicht legitimieren, denn die Verfassungsrichter hatten ja gerade argumentiert, dass unter das Existenzminimum abgesenkte Leistungen nur dann zu rechtfertigen sind, wenn absehbar ist, dass die Menschen nur kurze Zeit auf deutschem Staatsgebiet bleiben werden, weil sie offensichtlich keinen Anspruch haben auf Aufenthaltsgewährung.

Das ist aber nun in unserem Fall gerade nicht gegeben, denn hier ist es so, dass die EU-Bürger erst einmal die 6-Monate irgendwie schaffen müssen, um gerade dann, aufgrund der „Verfestigung“ des Aufenthalts, einen Leistungsanspruch zu bekommen. Und den eben nicht gegen das eigentlich zuständige, allerdings mittlerweile verriegelte System SGB II, sondern dann gegen das „andere“ Grundsicherungssystem, also das SGB XII. Aber so richtig überzeugend kommt das nicht rüber. Was ist dann mit den ersten sechs Monaten? Deren zwangsläufige Überbrückung irgendwie passt dann auch nicht in die Argumentationslinie des BVerfG.

Hier tun sich erhebliche Grundsatzfragen auf und die allein bedürfen der Debatte und Beantwortung aus den Reihen des Sozialrechts. Darüber hinaus manifestiert sich hier natürlich eine grundsätzliche sozialpolitische Fragestellung in einem europäischen System der Freizügigkeit, das zugleich geprägt ist durch erhebliche Wohlfahrtsunterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten der EU. Wie will man verhindern, dass es zu einer rein sozialleistungsbedingten Wanderungsbewegung kommt? Sollte es eine solche geben, dann ist die Arbeit mit Ausschließungskriterien unvermeidlich, weil es ansonsten zu einem  Überlaufen der „attraktiven“ Sozialstaates kommen könnte. Und sei es zeitweilig.