Eine „versteckte“ Kürzung? Zur Kritik an der Regelbedarfsanpassung in der Grundsicherung und eine juristische Lanze in Richtung verfassungswidrige Unterdeckung des menschenwürdigen Existenzminimums

Nach der Bundesregierung hat nun auch der Bundesrat der „Verordnung zur Bestimmung des für die Fortschreibung der Regelbedarfsstufen nach § 28a und des Teilbetrags nach § 34 Absatz 3a Satz 1 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch maßgeblichen Prozentsatzes sowie zur Ergänzung der Anlagen zu §§ 28 und 34 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch für das Jahr 2022“ zugestimmt. Das Wortungetüm hat die – immer noch unhandliche – Abkürzung Regelbedarfsstufen-Fortschreibungsverordnung 2022 – RBSFV 2022.

Bevor jetzt jemand das Weiterlesen verweigert, weil es sich scheinbar um irgendein hyperkompliziertes Verordnungsdetail handelt, sei hier darauf hingewiesen, dass von dem, was dort fortgeschrieben wird, Millionen Menschen in unserem Land betroffen sind. Es geht um die Höhe der Leistungen für Hartz IV-Empfänger nach SGB II (5,3 Mio. Menschen) sowie für die Menschen, die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach SGB XII (über 1,1 Mio. Menschen) beziehen, außerdem ist das auch für das Asylbewerberleistungsgesetz relevant.

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Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen: „Erkenntnisse liegen der Bundesregierung nicht vor“. Doch, die gibt es – und sie bestätigen die Skepsis gegenüber den „Nirwana-Arbeitsgelegenheiten“

Ein wichtiges Instrumentarium für die parlamentarische Opposition ist das Fragerecht, beispielsweise in Form von kleinen Anfragen an die Bundesregierung. Und die muss die umfänglich und ohne Vorhalten von Informationen beantworten.

Nun würde die Regierung gerne manche Dinge, die ihr nicht in den Kram passen, gerne zurückhalten oder darauf verweisen, man verfüge über keine Informationen. Was aber nicht in Ordnung und ein unakzeptabler Verstoß gegen die parlamentarischen Sitten wäre. Vielleicht aber lässt man auch Anfragen beantworten von Referenten, die möglicherweise weniger durch Qualifikation, sondern aufgrund des richtigen Parteibuchs ausgesucht worden sind – auch das kann erklären helfen, ist aber ebenfalls nicht in Ordnung, denn wenigstens der Fachbeamtenapparat eines Ministeriums sollte funktionieren.

Eine lange Vorrede, um auf diesen konkreten Fall zu kommen: Bereits am 12. Juni 2016 wurde hier gepostet: „Nirwana-Arbeitsgelegenheiten“ zwischen Asylbewerberleistungsgesetz und SGB II. Eine dritte Dimension der „Ein-Euro-Jobs“ und die dann auch noch 20 Cent günstiger? Darin wurde im Kontext des damals in der Niederkunft befindlichen Integrationsgesetzes das Bundesarbeitsministerium zitiert: »Zusätzliche 100.000 Arbeitsgelegenheiten für Berechtigte nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ermöglichen erste Einblicke in den deutschen Arbeitsmarkt.« 100.000 „Ein-Euro-Jobs“ (in diesem Fall aber sogar noch reduziert auf 80 Cent) nur für Asylbewerber zwischen Ankommen und Anerkennung als Asylberechtigte (dann sind sie nämlich im Hartz IV-System)? Das hat schon quantitativ überrascht.

Und nicht nur hinsichtlich der geplanten Größenordnung (die mehr als ambitioniert daherkam, wenn man berücksichtigt, dass es im ganzen Hartz IV-System bundesweit nur noch knapp über 80.000 Arbeitsgelegenheiten, so heißen die „Ein-Euro-Jobs“ richtigerweise, gibt). Sondern auch hinsichtlich der inhaltlichen Ausrichtung. Damals wurde der Zweifel so formuliert:

»Das nun überrascht den einen oder anderen, vor allem aber den sachkundigen Beobachter der arbeitsmarktpolitischen Landschaft, denn die „Arbeitsgelegenheiten“ – im SGB II die letztendlich einzige verbliebene Form der öffentlich geförderten Beschäftigung – haben von ihrer Anlage bzw. ihrem vom Gesetzgeber gewollten Zuschnitt nun eher nicht die Aufgabe, dem deutschen Arbeitsmarkt irgendwie nahezukommen, sondern aufgrund der förderrechtlichen Anforderungen (vgl. hierzu § 16d SGB II, nach dessen Absatz 1 erwerbsfähige Leistungsberechtigte in Arbeitsgelegenheiten zugewiesen werden können, »wenn die darin verrichteten Arbeiten zusätzlich sind, im öffentlichen Interesse liegen und wettbewerbsneutral sind.«) müssen sie sogar möglichst weit weg sein von dem, was in der „normalen“ Wirklichkeit des Arbeitsmarktes passiert, damit sie nicht gegen die Wettbewerbsneutralität (§ 16d Abs. 4 SGB II) verstoßen.«

Und weiter:

»Das grundlegende Problem der neuen, geplanten 100.000 „Bundes-AGH-Teilnehmer“ ist nun, dass die
a) für eine Klientel geplant werden, die es eigentlich nicht oder zumindest immer weniger geben wird und
b) dass mit der Durchführung nicht die Kommunen bzw. die Jobcenter (also die zuständigen Institutionen für die heute schon bestehenden AGHs) beauftragt werden sollen, sondern die Bundesagentur für Arbeit (BA) soll das machen.«

Vor diesem konzeptionellen Hintergrund der Arbeitsgelegenheiten ist die Erwartung des BMAS, die geplanten 100.000 Plätze würden „erste Einblicke in den deutschen Arbeitsmarkt“ ermöglichen, nur als weltfremd zu bezeichnen.
Die neuen Arbeitsgelegenheiten eigener Art, wie sie mit dem Integrationsgesetz geplant und der Öffentlichkeit lauthals verkündet wurden, machen überhaupt keinen Sinn. Da werden 100.000 Plätze geplant, die man eigentlich nicht oder nur mit einer sehr kleinen Zahl besetzen kann. Darauf wurde bereits in diesen beiden Blog-Beiträgen kritisch hingewiesen: Die Bundesarbeitsministerin fordert „Ein-Euro-Jobs“ für Flüchtlinge. Aber welche? Und warum eigentlich sie? Fragen, die man stellen sollte vom 13. Februar 2016 sowie Die Bundesarbeitsministerin macht es schon wieder: „Ein-Euro-Jobs“ für Flüchtlinge ankündigen, die noch nicht im Hartz IV-System sind. Was soll das? vom 23. März 2016.

Sage also keiner, man wäre nicht gewarnt gewesen.

Nun hat in der Zwischenzeit, nachdem das Programm angelaufen ist, die grüne Bundestagsabgeordnete Brigitte Pothmer eine Anfrage zur Umsetzung dieses ambitionierten Vorhabens an die Bundesregierung gestellt. Und sie hat eine Antwort bekommen:

Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen – Aktueller Stand, Probleme, Perspektiven. Antwort der Bundesregierung, BT-Drucksache 18/11039 vom 31.01.2017

Und was die Abgeordnete da serviert bekommen hat, findet sich in solchen Schlagzeilen wieder: Kaum Interesse an Ein-Euro-Jobs für Asylbewerber, schreibt beispielsweise Dietrich Creutzburg in der Online-Ausgabe der FAZ: »300 Millionen Euro lässt sich der Bund sein neues Förderprogramm kosten. Doch das läuft schleppend an.« So kann man das sagen.

Seit August 2016 wurden von Ländern und Kommunen nur 18.959 Plätze beantragt; genehmigt und damit grundsätzlich verfügbar waren bis Mitte Januar 13.000 Plätze, wird aus der Antwort der Bundesregierung zitiert. Und weiter erfahren wir: Wie viele Asylbewerber tatsächlich schon einen solchen Ein-Euro-Job angetreten haben, ist indes unklar. Und die Verursacherin wird dann so zitiert:

»Für die Abgeordnete Brigitte Pothmer, Arbeitsmarktfachfrau der Grünen, zeigt die Bilanz, dass das Programm von vornherein schlecht durchdacht gewesen sei. Nahles habe „offensichtlich voll am Bedarf vorbeigeplant“. Ärgerlich sei, dass es nicht einmal eine Statistik über die Zahl der Teilnehmer oder gar deren Nationalität gebe. Pothmer rät dazu, das Programm am besten einzustellen. Statt dafür jährlich 300 Millionen Euro „zu blockieren, sollte Ministerin Nahles die nicht benötigten Mittel sinnvoller in Sprachkurse, Qualifizierungen und betriebliche Maßnahmen investieren“, forderte sie.«

Genauer hat sich O-Ton Arbeitsmarkt die Antwort angeschaut und die Befunde in diesem Artikel veröffentlicht: Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen: „Erkenntnisse liegen der Bundesregierung nicht vor“. Dort findet man diesen Hinweis:

»Wie viele der beantragten Plätze auch tatsächlich an Flüchtlinge vergeben wurden, dazu schweigt die Bundesregierung. Sie habe „keine Erkenntnisse dazu, wie viele Asylsuchende bisher eine Flüchtlingsintegrationsmaßnahme begonnen haben. Derartige teilnehmerbezogene Daten werden von der Bundesagentur für Arbeit (BA), die das Arbeitsmarktprogramm „Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen“ im Auftrag der Bundesregierung durchführt, nicht erfasst.«

Das überrascht dann doch, denn O-Ton Arbeitsmarkt hat schon im November letzten Jahres eine Auswertung der BA auch über die bisher besetzten Plätze erhalten. Bundesweit waren zu diesem Zeitpunkt rund 4.400 von etwa 12.000 beantragten Plätzen besetzt, bei deutlichen Unterschieden zwischen den Bundesländern. Baden-Württemberg und Niedersachsen hatten im November die Hälfte ihrer eingeplanten Stellen besetzt, Thüringen erreichte 43 Prozent, Nordrhein-Westfalen 39 Prozent und Bayern 34. Die übrigen Länder hatten erst (teils deutlich) weniger als ein Drittel der beantragten Stellen besetzt, Bremen und Berlin konnten noch keine der beantragten Stellen besetzen.
Auf Nachfrage bei der BA erklärt diese dementsprechend auch, dass sie sehr wohl Informationen über die besetzten Plätze habe. Diese Daten seien in der Auswertung für die kleine Anfrage enthalten. Rund 12.500 der 13.000 genehmigten Plätze seien besetzt. Warum die Bundesregierung diese Informationen in ihrer Antwort auf die kleine Anfrage nicht nutzt, ist fraglich.
Und dass das Programm vor sich hinstottert, kann man auch erklären, wenn man genau hinschaut, wie das in dem Beitrag auf O-Ton Arbeitsmarkt gemacht wurde:
Die Zielgruppe der Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen mit einer maximalen Dauer von sechs Monaten sind Volljährige mit guter Bleibeperspektive, über deren Asylantrag noch nicht entschieden ist. Die FIM sind damit „Warte-Ein-Euro-Jobs“ für die Zeit zwischen Antrag und endgültigem Bescheid und damit für einen Zeitraum, den das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BMAF) immer mehr verkürzen soll und will.

Genau das könnte einer der Gründe für das zurückhaltende Interesse sein. Unter den Ländern, die bisher keine oder nur wenige FIM besetzt beziehungsweise beantragt haben, sind auch die Länder mit den kürzesten Bearbeitungsdauern wie das Saarland und Sachsen-Anhalt. Hier könnte es sich schlicht nicht lohnen, einem Flüchtling mit guter Bleibeperspektive eine FIM anzubieten. Anerkannten Flüchtlingen stehen im Übrigen alle regulären arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen offen, darunter auch die herkömmlichen Ein-Euro-Jobs.
Und zum Abschluss sei an das erinnert, was in diesem Blog bereits im Juni 2016 als Empfehlung ausgesprochen wurde:
»Eigentlich liegt ein grundlegender Lösungsansatz auf der Hand, der aber noch nicht einmal diskutiert wird. Am Ende landen die meisten Flüchtlinge alle im Hartz IV-System, also im Rechtskreis des SGB II, außer sie können sich als anerkannte Asylbewerber auf dem Arbeitsmarkt alleine finanzieren, was einigen, sicher in den nächsten Jahren aber nicht vielen gelingen wird. Warum also nicht die Jobcenter von Anfang an für die arbeitsmarktliche Betreuung und Begleitung der Flüchtlinge zuständig machen? Das wäre konsequent und man vermeidet die zahlreichen Probleme, die sich allein aus dem Rechtskreiswechsel und der heute schon vorhandenen und nun auch noch auszubauenden Teil-Zuständigkeit der BA mit ihren Arbeitsagenturen ergeben.
Wenn man das verbinden würde mit einer radikalen Instrumentenreform im SGB II, die es den Jobcentern endlich ermöglichen würde, das sinnvolle Arsenal an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen flexibel und ohne die hypertrophierten förderrechtlichen Begrenzungen und den vielen hyperkomplexen Sonderprogrammen für extrem selektiv definierte „Zielgruppen“, die wir heute haben, umzusetzen, dann wäre eine deutliche Verbesserung erreichbar.«
Daran hat sich nichts geändert. Und leider wird in diesem Bereich ja auch nie jemand in Haftung genommen für den offensichtlichen Unsinn, den man verzapft hat. Und man kann noch nicht einmal sagen, man habe das ja nicht ahnen können.

Eine bodenlose Frechheit: Die Bundesregierung verramscht hoheitliche Kernaufgaben an eine Unternehmensberatertruppe. Und die kassiert ein fettes Honorar – für Schaumschlägerei

Nein, das geht gar nicht. Das ist eine echte Schweinerei. Erst am 28. Oktober 2016 habe ich diesen Beitrag gepostet: Ran an die mit Steuermitteln gefüllten Futtertröge oder: Wir machen auch Flüchtlinge … Die Unternehmensberaterrepublik und ein sich verselbständigendes Staatsversagen. Darin wurde die gleichsam krakenhafte Durchdringung des Staates durch Unternehmensberater wie die von McKinsey beschrieben und ihr fortwährendes Eindringen in zentrale, hoheitliche Staatsaufgaben kritisiert. Und dann wird man mit so einer flapsig daherkommenden Überschrift konfrontiert: McKinsey gibt Merkel Abschiebetipps. Als ob es hier um irgendwelche Kochtipps geht oder Ratschläge, die kommende Grillsaison betreffend. Es geht hier zum einen um einen im wahrsten Sinne des Wortes existenzielle Angelegenheit, zum anderen um eine Sache, die den Kernbereich des hoheitlichen Handelns unseres Staates berührt. Selbst wenn eine Abschiebung gerechtfertigt und notwendig ist – sie bleibt immer etwas, das alle daran Beteiligten beschädigt. Das ist nicht wie der Rauswurf aus einer Eckkneipe oder der Ausschluss auf irgendeinem Verein. Und wenn das passieren muss, dann ist der Staat dazu verpflichtet, seine hoheitlichen Rechte als Staat mit seinen Beamten durchzusetzen unter der kritischen Begleitung der anderen Akteuere unseres Rechtssystems. Kann man darüber ernsthaft diskutieren? 

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Jobcenter allein zu Haus und nachhaltig überfordert (nicht nur) mit den Folgen eines gescheiterten Rechtsvereinfachungs- und Bürokratieabbauversprechens

Normalerweise ist es ja so, dass man es gerne sieht, wenn die eigene Beurteilung eines Sachverhalts zu einem späteren Zeitpunkt bestätigt wird, so dass man sagen kann, das kam jetzt nicht überraschend. Aber wenn es sich um sozialpolitische Sachverhalte handelt, dann wird diese Neigung gegen Null gefahren, wenn man bedenkt, dass es sich oftmals um Verschlechterungen, Kürzungen oder Streichungen von Leistungen handelt, auf die Menschen angewiesen sind, die sich in Not befinden oder die sich eben nicht selbst helfen können. Oder die einer bürokratischen Maschinerie ausgeliefert sind. Davon können wir ausgehen, wenn wir über die Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II), umgangssprachlich auch als Hartz IV-System bezeichnet, sprechen.

Und hier hat es vor kurzem wieder einmal gesetzgeberische Aktivitäten gegeben, die auf den ersten Blick Hoffnung begründen, wenn sie denn Wirklichkeit geworden wären. Es geht um das 9. SGB II-Änderungsgesetz, das nunmehr auch sowohl im Bundestag wie auch im Bundesrat verabschiedet worden ist. Der Startpunkt liegt schon einige Jahre zurück: Im November 2012 hatte die Arbeits- und Sozialministerkonferenz (ASMK) die Einrichtung einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Vereinfachung des passiven Leistungsrechts im SGB II beschlossen. Über den Weg der Rechtsvereinfachung, so der explizite Auftrag, sollte Bürokratie abgebaut und in Folge die Verwaltung, also die Jobcenter, entlastet werden. Hört sich gut an. Und die Arbeitsgruppe hat auch gearbeitet. Von Juni 2013 bis Juni 2014 hat sie eine ganze Reihe an Vorschlägen erarbeitet (124 gingen in die Arbeitsgruppe und 36 sind dann von allen getragen wieder rausgekommen). Wie ein guter Schinken musste das Ergebnis abhängen, wurde angereichert um zwischenzeitlich aufgelaufene Veränderungswünsche der Politik bei arbeitsmarktpolitischen Instrumenten und ist dann nach einigen koalitionsinternen Querelen gute zwei Jahre später in den Gesetzgebungsprozess eingespeist worden.
Aber was ist herausgekommen? Man kennt das Muster: Da startet man mit einer guten, ehrenwerten Absicht (Recht vereinfachen, Bürokratie abbauen, die Verwaltung entlasten) und landet am Ende bei Gegenteil (das Recht wird komplizierter, die Bürokratie schlägt neue und zusätzliche Kapriolen und die Verwaltung kollabiert). Leider keine übertriebene Kurzfassung dessen, was Union und SPD da abgeliefert haben.

Dabei hört sich das alles doch so vielversprechend an: „Ziel dieses Gesetzes ist es …, dass leistungsberechtigte Personen künftig schneller und einfacher Klarheit über das Bestehen und den Umfang von Rechtsansprüchen erhalten und die von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Jobcentern anzuwendenden Verfahrensvorschriften vereinfacht werden“, konnte man dem Gesetzentwurf entnehmen.

Im Rahmen einer Sachverständigenanhörung im Arbeits- und Sozialausschuss des Deutschen Bundestages, die am 30. Mai 2016 in Berlin stattgefunden hat (vgl. dazu Experten bezweifeln eine Entlastung der Jobcenter), zu der auch der Verfasser geladen war, wurden wie üblich schriftliche Stellungnahmen abgegeben. In meiner Stellungnahme (vgl. dazu Deutscher Bundestag, Ausschuss für Arbeit und Soziales, Ausschussdrucksache 18(11)645 vom 26. Mai 2016, S. 127-133) findet man am Ende der Ausführungen dieses Fazit:

»In der Gesamtschau ist das teilweise allein aufgrund des Detaillierungsgrades extrem komplizierte 9. SGB II-Änderungsgesetz zurückzuweisen. Es macht viele Dinge komplizierter, belastet Leistungsberechtigte zusätzlich und verschärft die heute schon vorhandene Unwucht zuungunsten der Leistungsberechtigten und führt vor allem nicht nur nicht zu einer erkennbaren Entlastung der Jobcenter-Mitarbeiter, sondern wird deren Belastung in der Summe weiter erhöhen.« (S. 132)

Das war wie gesagt Ende Mai und auch zahlreiche andere Sachverständige bzw. Organisationen hatten sich äußerst kritisch zu den damals noch geplanten, mittlerweile verabschiedeten Änderungen im SGB II positioniert. Keiner kann also sagen, man habe es nicht wissen können.

Und im August 2016 berichtet Kristiana Ludwig in ihrem Artikel Nachhaltig überlastet: »Ein neues Gesetz sollte die Mitarbeiter in Jobcentern eigentlich entlasten. Stattdessen habe es für mehr Arbeit gesorgt, kritisieren sie. Die Arbeitslosen frustriert es.«
Knapp »einen Monat, nachdem viele der neuen Regeln in Kraft getreten sind, erheben Jobcenter-Mitarbeiter schwere Vorwürfe gegen die Ministerin: Ihr Gesetz habe das Gegenteil bewirkt und die Überlastung der Mitarbeiter noch verschärft.«

Auslöser für diesen Artikel ist ein Brief, den die Personalräte der Jobcenter an den zuständigen Ausschuss des Bundestages sowie an die Arbeitsministerien der Bundesländer geschrieben haben. Das Original findet man hier:

Die Jobcenterpersonalräte nach § 44h Abs.4 SGB II: Stellungnahme zum 9. ÄndG SGB II / Rechtsvereinfachungen und Mehraufwand, Hannover, 24.08.2016

Ludwig berichtet in ihrem Artikel von einigen der Kritikpunkte der Personalräte: Jobcenter sollen Hartz-IV-Empfänger künftig auch dann noch beraten, wenn sie bereits einen Job gefunden haben. Sie sollen die Menschen ausführlicher über ihre Rechte aufklären und sich auch um Azubis kümmern, deren Lohn nicht zum Leben reicht. „Wir finden es gut, die Beratung zu verbessern, aber wir brauchen mehr Mitarbeiter, um das zu schaffen“, wird Moritz Duncker aus dem Vorstand der Jobcenterpersonalräte zitiert.

Das muss man vor dem Hintergrund einer seit längerem im bestehenden System gegebenen Unterausstattung der Jobcenter mit Personal sehen. Das Bundesarbeitsministerium höchstselbst hatte vor drei Jahren die Unternehmensberatung Bearing Point beauftragt, den Personalbedarf in denjenigen Abteilungen der Jobcenter zu untersuchen, die das Arbeitslosengeld auszahlen. 200 bis 600 Vollzeitstellen hätten damals in dieser Sparte bundesweit gefehlt, so der damalige Befund (vgl. den Forschungsbericht des BMAS Personalbemessung Leistungsgewährung in den gemeinsamen Einrichtungen SGB II vom Januar 2015). Zwar wurden diese Stellen mit Zeitverzögerung Schritt für Schritt besetzt, aber seit dem gab es keine neue Personalbemessung, während sich die Aufgaben natürlich in der Zwischenzeit verändert haben und teilweise auch ausgeweitet wurden bzw. gerade werden, wenn wie an dieser Stelle mal an die vielen Flüchtlinge denken, von denen immer mehr nach ihrer Anerkennung in das Hartz IV-System kommen und dort versorgt werden müssen. Hinzu kommt jetzt die Umsetzung der Neuregelungen durch das 9. SGB II-Änderungsgesetz.

Ludwig erwähnt in ihrem Artikel, dass die Personalräte der Jobcenter bereits im vergangenen Jahr das Bundesarbeitsministerium gedrängt haben, eine neue Personalbemessung durchzuführen. Und hier findet man einen entlarvenden Passus:

»Nach langen Debatten mit Ländern und Kommunen holten ihre Mitarbeiter demnach im Dezember ein Schreiben der Arbeitsagentur hervor: Man lehne die Studie zum Personalbedarf grundsätzlich ab, stand darin. Schließlich würden so „keine Potenziale für Verbesserungen, sondern in der Regel Stellenbedarfe ausgewiesen“. Damit habe das Ministerium das Projekt für gescheitert erklärt. Auf einen Alternativvorschlag warteten die Mitarbeitervertreter bis heute vergeblich.«

Das wäre fast schon als putzige Argumentation zu bezeichnen, wenn sie nicht so handfeste Konsequenzen für die Betroffenen vor Ort hätte. Der „moderne Dienstleister am Arbeitsmarkt“, wie sich die Bundesagentur für Arbeit selbst gerne beschreibt in Fortsetzung der offiziellen Betitelung der Hartz-Kommission aus dem Jahr 2002, lehnt also eine Studie zum Personalbedarf ab, weil durch eine solche „keine Potenziale für Verbesserungen, sondern in der Regel Stellenbedarfe ausgewiesen“ werden. Ja genau. Das ist eigentlich der Zwecke einer Personalbemessung, wie es – wiederum eigentlich – betriebswirtschaftlicher Standard ist. Die Ablehnung der BA hätte korrekterweise so formuliert werden müssen:

Also wir wissen natürlich, dass eine echte Analyse der Personalsituation ergeben würde, dass die Jobcenter im gegebenen System unterausgestattet sind mit Personal, mithin Personalmehrbedarf herauskommen wird. Da wir diesen aber nicht decken können bzw. wollen, verzichten wir lieber gleich auf die Analyse und um das nicht zugeben zu müssen, verkleistern wir das mit dem „Argument“, dass man über diesen Weg nicht die Rationalisierungs- und Produktivitätssteigerungseffekte (wie man die auch immer erreichen will) abbilden kann. Ja, stimmt, weil das zwei unterschiedliche Dinge sind, wie man im ersten Semester Personalwirtschaft lernen sollte.

Aber wieder zurück zu den aktuellen Ausführungen der Jobcenter-Personalräte mit Blick auf das doch so hoffnungsversprechend gestartete Projekt Rechtsvereinfachung und Bürokratieabbau, das nun in das 9. SGB II-Änderungsgesetz gegossen worden ist.
Kristiana Ludwig zitiert in Anknüpfung an die erwähnte Personalbedarfsanalyse von Bearing Point aus dem Jahr 2013 ein Beispiel:

»Als das Beratungsunternehmen 2013 die Mitarbeiter danach fragte, was ihnen die meiste Zeit raube, nannten fast 80 Prozent von ihnen die sogenannten Rückforderungen. Denn vor allem Geringverdiener, die mit Hartz IV ihren schmalen Lohn aufstocken, müssen regelmäßig Beträge an das Jobcenter zurückzahlen: Wenn ihr Einkommen schwankt und die Behörde mehr zugeschossen hat, als sie müsste, bekommen sie zum Teil Monate später eine Rechnung. Selbst Kleinstbeträge von wenigen Euro fordern die Ämter zurück. Wer nicht zahlt, der bekommt Mahnungen. Denn auch bei Cent-Beträgen kennt die Arbeitsagentur keine Kulanz.
Während der Beratungen für das neue Gesetz hatten viele Experten gefordert, Arbeitslosen und Jobcentern das Leben zu erleichtern, indem auf die Eintreibung von Kleinstbeträgen verzichtet wird. Doch Nahles blieb bei der aufwendigen Praxis.«

Werfen wir einen Blick in das Original, also in die Stellungnahme zum 9. ÄndG SGB II / Rechtsvereinfachungen und Mehraufwand der Jobcenterpersonalräte, die Harald Thomé dankenswerterweise auf seiner Seite eingestellt hat und schauen uns einige ausgewählte Kritikpunkte der Personalräte einmal genauer an:

Da wird beispielsweise unter der sperrigen Überschrift „Erbringung von Eingliederungsleistungen in Arbeit an Anspruchsberechtigte von Arbeitslosengeld oder Teilarbeitslosengeld durch die Agenturen für Arbeit (§ 5 Abs. 4 SGB II)“, was als ein Beispiel für die „Entlastung“ der Jobcenter durch die gesetzliche Neuregelung angeführt wird, da nun die Arbeitsagenturen die Arbeit abnehmen sollen, auf folgende Relativierung hingewiesen:

»Mit Stand März 2016 gab es 91.000 sogenannte Aufstocker, die zusätzlich zu ihrem Arbeitslosengeld oder Teilarbeitslosengeld auch Grundsicherungsleistungen bezogen haben. Bei insgesamt 4.328.093 erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, die durch die Arbeitsvermittlung der Jobcenter zu betreuen waren, reduziert sich der Erfüllungsaufwand in der Arbeitsvermittlung der Jobcenter um rund 2,1%. Dies ist also bereits kein riesiger Schritt zur Entlastung in der Arbeitsvermittlung der Jobcenter.«

Und auch diese minimale „Entlastung“ zerbröselt in der Wirklichkeit, denn die Personalräte der Jobcenter weisen darauf hin, »dass im SGB II der Ansatz der ganzheitlichen Beratung der Bedarfsgemeinschaft verankert ist und Bedarfsgemeinschaften häufig aus mehr als nur einer Person bestehen. In diesen Fällen wird eine weitere Schnittstelle zwischen Jobcentern und Agenturen für Arbeit geschaffen und der Ansatz der ganzheitlichen Beratung zumindest erheblich erschwert. Es wird ja nur der eigentliche Aufstocker durch die Arbeitsvermittlung der Agentur für Arbeit betreut, der Rest der Bedarfsgemeinschaft verbleibt in der Arbeitsvermittlung der Jobcenter.« Am Ende kann als Ergebnis der geplanten Entlastung herauskommen: Für die Jobcenter ändert sich nichts, aber die Agenturen für Arbeit werden stärker belastet.

Ein weiterer kritischer Punkt aus Sicht der Beschäftigtenvertreter ist die – ebenfalls sicher gut gemeinte und als Verbesserung für die „Kunden“ daherkommende – „Ausdehnung der Beratungspflicht der Jobcenter (§ 14 Abs. 2 SGB II)“. Im neuen § 14 Abs. 2 S. 3 SGB II wird nun festgeschrieben: „Art und Umfang der Beratung richten sich nach dem Beratungsbedarf der leistungsberechtigten Person.“ Dazu wird angemerkt:

»Im Bereich der Massenverwaltung geht die Rechtsprechung bisher davon aus, dass der Sozialleistungsträger lediglich zu einer Beratung verpflichtet ist, die sich aufgrund von konkreten Fallgestaltungen unschwer ergibt (Bundessozialgericht, Urteil vom 24. Juli 2003, B 4 RA 13/03 R). Es bleibt abzuwarten, welche Anforderungen die Sozialgerichte an die neue Beratungspflicht innerhalb des SGB II knüpfen werden. Dem Wortlaut der Gesetzesbegründung zu folge ist jedoch bereits jetzt klar, dass es sich bei dieser Regelung um keine Entbürokratisierung handelt. Diese Norm wird selbstverständlich zu einem Mehraufwand in den Jobcentern führen.«

Das nächste Beispiel aus dem Brandbrief der Jobcenterpersonalräte bezieht sich auf einen Sachverhalt, der vor kurzem in den Medien kritisch aufgegriffen wurde und zu solchen Schlagzeilen geführt hat: Hartz-IV-Empfänger sollen stärker kontrolliert werden: »Die Jobcenter sollen die Einkünfte von Hartz-IV-Haushalten künftig häufiger kontrollieren. Der Datenabgleich soll nun einmal monatlich erfolgen – statt wie bisher einmal im Quartal«, so Cordula Eubel in ihrem Artikel.  Die Neuregelung besteht aus zwei Komponenten: Zum einen die Verkürzung des zeitlichen Abstands der Überprüfungen auf einen monatlichen Rhythmus und in den Datenabgleich werden auch Personen einbezogen, die in einem Haushalt mit einem Hartz IV-Bezieher leben, aber selbst keine Leistungen beziehen. Dazu die Jobcenterpersonalräte unter der Überschrift „Die Erhöhung der Frequenz des automatisierten Datenabgleichs (§ 52 Abs. 1 S. 3 SGB II)“:

»Es wäre erforderlich, hier eine technische Lösung einzuführen, im Zuge derer die Überschneidungsmitteilungen direkt mit den Angaben aus dem Leistungsfachverfahren Allegro abgeglichen werden und bereits bekannte Meldungen automatisiert aussortiert werden. Dies wäre eine echte Verfahrensvereinfachung. Durch die Erhöhung der Frequenz des händisch durchzuführenden Datenabgleichs fürchten wir jedenfalls erhebliche Mehrbelastungen.«

Jeder, der schon mal in einer Massenverwaltung gearbeitet hat, kennt die furchterregende Bedeutung der Begrifflichkeit „händisch durchzuführender Datenabgleich“.

Und der letzte in diesem Beitrag zu erwähnende Kritikpunkt aus den Reihen der Jobcenter-Beschäftigten wird sich jedem sofort erschließen, der Verwaltungserfahrung hat – für die anderen klingt das nach böhmischen Dörfern:

»Zu guter Letzt ist auch der Mehraufwand zu erwähnen, den die Belegschaften der Jobcenter schlichtweg damit haben, sich in die neuen Regelungen einzuarbeiten und sich diese anzueignen. Auch die IT-Verfahren sind auf die neue Gesetzeslage hin anzupassen und ihre diesbezügliche Handhabung muss von den Belegschaften ebenfalls erlernt werden. Es ist vorgesehen, dass die technische Umsetzung erst im März 2017 mit einer neuen Programmversion beginnen wird und voraussichtlich im November 2017 abgeschlossen sein wird. Bis dahin erfordert das 9. SGB II-Änderungsgesetz insgesamt 9 Übergangsregelungen und 3 Verfahrenshinweise. Diese Umgehungslösungen sind in der Regel sehr umständlich, arbeits- und zeitintensiv und schwer nachvollziehbar.«

Ja, so ist das. Da macht man in Berlin eine umfangreiche, kleinteilige Gesetzesänderung, setzt das in Kraft und denkt: jetzt läuft’s. Aber dass das umgesetzt werden muss in den technischen Systemen, dass die Leute geschult werden müssen, dass sie übergangsweise Krücken-Lösungen praktizieren müssen, weil die neue Rechtslage noch nicht abgebildet sind in den IT-Systemen, daran denken die Praktiker, nicht aber die Theoretiker.

Und wir haben an dieser Stelle noch gar nicht gesprochen von den zusätzlichen Arbeiten, die sich ergeben werden aus der Tatsache, dass das 9. SGB II-Änderungsgesetz zahlreiche Regelungen enthält zuungunsten der Hartz IV-Empfänger, die zu neuen Klageverfahren vor den überlasteten Sozialgerichten führen werden – bereits in meiner schriftlichen Stellungnahme für die Anhörung im Deutschen Bundestag habe ich dazu geschrieben, »dass im Ergebnis aus einem „Rechtsvereinfachungsgesetz“ mit Blick auf Teile der Betroffenen ein „Rechtsverschärfungsgesetz“ geworden ist, da über einzelne, teilweise höchst diffizile Regelungen reale Verschlechterungen für die Leistungsberechtigten zu erwarten sind« (Deutscher Bundestag, Ausschuss für Arbeit und Soziales, Ausschussdrucksache 18(11)645 vom 26. Mai 2016, S. 128).

Und das alles findet statt im Kontext einer ganz erheblichen Zunahme der zusätzlichen Arbeitsbelastung der Jobcenter, die sich dadurch ergibt, dass nunmehr und spürbar immer mehr Flüchtlinge nach ihrer Anerkennung in das Grundsicherungssystem wechseln, das in vielen Fällen für viele Jahre für sie zuständig sein wird, selbst wenn der eine oder andere eine Beschäftigung finden wird, denn oftmals bleiben die dann als Aufstocker mit ihrer Bedarfsgemeinschaft den Jobcentern erhalten, weil sie zu wenig verdienen (können), um aus der Hilfebedürftigkeit herauszukommen. Man darf an dieser Stelle zugleich daran erinnern, dass die vielen geflüchteten Menschen, die nun von den Jobcentern betreut werden müssen, nicht nur eine quantitative Zunahme der Hilfeempfänger darstellen, sondern das eine Vielzahl weiterer Aufgaben damit einhergehen, man denke hier nur an die Frage der Sprachfähigkeit. Um nur ein Beispiel zu nennen.

Im Zusammenspiel aller genannten Entwicklungen wird das Jobcenter-System in den kommenden Monaten weiter heiß laufen. Das hat natürlich auch Auswirkungen für diejenigen, die vor dem Schreibtisch der Jobcenter-Mitarbeiter sitzen. Dazu Kristiana Ludwig in ihrem Artikel: »Harald Thomé vom Erwerbslosenverein Tacheles in Wuppertal sagt, die überlasteten Mitarbeiter führten bei den Arbeitslosen zu viel Frustration. Oft bleibe nicht genug Zeit für den einzelnen Fall: Die Zuständigen wechselten häufig, Fehler passierten.« Das werden einige, vor allem oben, als einen eben unvermeidbaren „Kollateralschaden“ bezeichnen.

Für andere hingegen stellt sich das alles als ein sozialpolitisch nicht akzeptables Systemversagen dar. Und keiner kann sagen, man sei „überrascht“ worden von der wirklichen Wirklichkeit oder „überrollt“ von den Ereignissen, die man nicht habe vorhersehen können. Hier ist die Beweislage ziemlich eindeutig. Diese Ausreden gelten nicht.

Wenn Jobcenter arbeitslose Menschen in die Insolvenz treiben. Ein Blick auf Überschuldung und ein „professionalisiertes Inkasso-Unternehmen“

70 Prozent der arbeitslosen Menschen werden von den Jobcentern mehr oder weniger betreut, weil sie im Hartz IV-System gelandet sind. Und der normale Bürger nimmt an, dass es die Hauptaufgabe der Jobcenter sei, diese Menschen oder wenigstens so viele wie möglich von ihnen wieder in eine Erwerbsarbeit zu bringen, mit der sie sich ganz oder zumindest teilweise aus der Hilfebedürftigkeit verabschieden können. Nun weiß man seit langem, dass ein veritables Vermittlungshindernis bei einem Teil der Arbeitslosen im Tatbestand der Überschuldung vorliegt, dessen Begleitfolgen wie Lohnpfändung, aber auch die Auswirkungen auf die Arbeitsbereitschaft der Betroffenen dazu führen, dass eine Vermittlung oftmals scheitert oder gar nicht erst zustande kommt. In diesem Kontext ist allein schon die Überschrift eines solchen Artikels mehr als irritierend: Wie die Jobcenter Arbeitslose in die Insolvenz drängen. Darin berichtet Kristiana Ludwig: »Wer der Arbeitsagentur Geld schuldet, darf nicht auf Milde hoffen. Das Bundesarbeitsministerium verbietet in der Regel außergerichtliche Einigungen über die Ausstände. Seit Jahresbeginn hat die Behörde sogar einen eigenen Inkassodienst beauftragt. Dabei sind gerade Arbeitslose besonders häufig von der Privatinsolvenz betroffen – und finden dann auch noch schwerer einen neuen Job.«

Die Fakten sind seit langem bekannt und das Statistische Bundesamt hat am 1. Juli 2016 einen Überblick veröffentlicht zum Thema „Überschuldung privater Personen 2015“.

»Im Jahr 2015 haben in Deutschland rund 647.000 Personen wegen finanzieller Probleme die Hilfe einer der 1.400 Schuldner- und Insolvenzberatungsstellen in Anspruch genommen. Im Rahmen der freiwilligen Überschuldungsstatistik hat das Statistische Bundesamt anonymisierte Daten zu 113.000 beratenen Personen mit deren Zustimmung ausgewertet. Damit lassen sich umfangreiche strukturelle Aussagen zu den Überschuldeten treffen. Zudem stehen Angaben zu den Auslösern der Überschuldung, zur Schuldenhöhe und zu den Gläubigern zur Verfügung.« (Vgl. auch die Hintergrundinformationen zur Überschuldungsstatistik).

Die Frage nach den Ursachen von Überschuldung behandelt das Statistische Bundesamt unter der Überschrift: „Hauptauslöser der Überschuldung liegen überwiegend außerhalb der unmittelbaren Kontrolle der Überschuldeten“ (vgl. dazu das Statement von Präsident Dieter Sarreither vom 1. Juli 2016, S. 8):

„Wer überschuldet ist, ist selbst schuld.“ Das ist eine landläufig verbreitete Meinung. Für Schuldnerberater/-innen zeichnet sich ein anderes Bild. Sie erhalten im Zuge ihrer Tätigkeit viele Informationen über die finanzielle Situation der beratenen Person sowie über deren Weg in die finanziellen Schwierigkeiten. Auf Basis dieser Angaben geben die Beraterinnen und Berater im Rahmen der Überschuldungsstatistik ihre Einschätzung über den jeweiligen Hauptauslöser der Überschuldung an. Dabei fällt auf, dass in der Regel unplanbare und gravierende Änderungen der Lebensumstände als Hauptauslöser genannt werden, die außerhalb der unmittelbaren Kontrolle der Überschuldeten liegen. Unter den sechs häufigsten Angaben für neu angelegte Beratungsfälle im Jahr 2015 fanden sich Arbeitslosigkeit (19 %), Erkrankung, Sucht und Unfall (15 %) sowie Trennung, Scheidung beziehungsweise Tod der Partnerin/des Partners (14 %). Überschuldung durch unangemessenes Konsumverhalten („unwirtschaftliche Haushaltsführung“) wurde lediglich in 11 % aller Fälle genannt. Bei 7 % der beratenen Personen waren die Schuldnerberater/-innen davon überzeugt, dass die auf lange Sicht unzureichende Einkommenssituation trotz einer wirtschaftlichen Haushaltsführung zu den finanziellen Problemen geführt hat („längerfristiges Niedrigeinkommen“).

Den doppelten Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und Überschuldung stellt auch Kristiana Ludwig in ihrem Artikel heraus:

»Wer seinen Job verliert und plötzlich auf sein Gehalt verzichten muss, der macht schnell Schulden. Arbeitslosigkeit ist die wichtigste Ursache für Überschuldung, für jeden fünften deutschen Schuldner war sie im vergangenen Jahr der Hauptauslöser für ihre finanzielle Notlage, erhob das Statistische Bundesamt. Zugleich verhindern Schulden oft, dass ein Arbeitsloser wieder einen Job findet: Arbeitgeber schreckt es meist ab, wenn ihr Bewerber in einem Insolvenzverfahren steckt. Dies sei „natürlich ein absolutes Vermittlungshemmnis“, sagt eine Sprecherin der Bundesagentur für Arbeit. Nicht umsonst schicken viele Jobcenter die Hartz-IV-Empfänger zur Schuldnerberatern.«

Da sollte man annehmen, dass man in den Agenturen und Jobcentern höchst sensibilisiert ist für die miteinander verwobenen Fragen von Arbeitslosigkeit und Überschuldung vor allem hinsichtlich einer anzustrebenden Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt. Und die gerne in Anspruch genommene Schuldnerberatung für die eigenen „Kunden“ seitens der Agenturen und vor allem der Jobcenter scheint das ja auch zu bestätigen, denn die Aufgabe der Schuldnerberater ist ja auch Sicht der Jobcenter recht eindeutig: Sie sollen die betroffenen Menschen wieder vermittlungsfähig machen, in dem sie das vorgelagerte Problem der Überschuldung bearbeiten und einer wenigstens perspektivischen Lösung zuführen.

Aber nicht immer scheint das die Jobcenter zu leiten, vor allem dann nicht, wenn die Arbeitsagentur selbst die Gläubigerin ist und auf einen Teil ihres Geldes verzichten müsste, um einem überschuldeten Arbeitslosen zu helfen. Und das gibt es schriftlich, so Ludwig in ihrem Artikel:

»Ein Papier aus dem Haus von Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD), das der Süddeutschen Zeitung vorliegt, schreibt der Agentur vor, dass sie sich nicht mehr auf außergerichtliche Einigungen einlassen darf – außer in besonderen Härtefällen. Damit ist bei allen verschuldeten Arbeitslosen, die auch bei der Arbeitsagentur in der Kreide stehen, ein Insolvenzverfahren programmiert. Denn bei diesen vorgerichtlichen Einigungen gilt: Entweder machen alle Gläubiger mit – oder keiner.«

Und die Gläubigerposition der Arbeitsagenturen und Jobcenter ist keine vernachlässigbare, sondern sie hat Gewicht und nimmt zu:

»Dabei verleihen gerade die Jobcenter immer mehr Geld an Arbeitslose. Im vergangenen Jahr erreichten die Darlehen, die Hartz-IV-Empfänger für Anschaffungen wie etwa einen Kühlschrank bekamen, eine Rekordsumme von 86,4 Millionen Euro – vor neun Jahren waren es noch 33 Millionen Euro. Auch die Summe, die einzelne Arbeitslose im Schnitt bekommen und dann an das Jobcenter zurückzahlen müssen, hat sich seitdem verdoppelt, auf 430 Euro. Auch Aufstocker häufen oft Schulden beim Jobcenter an, weil ihr Einkommen und damit die Unterstützung vom Amt schwankt und sie ihm zeitverzögert Geld zurückzahlen müssen. Aufstocker, errechnete das Statistische Bundesamt, seien „überproportional häufig überschuldet“.«

Über die Verschuldungsinstanz Jobcenter hat O-Ton Arbeitsmarkt bereits am 20. April 2016 berichtet unter der Überschrift Hartz-IV-Empfänger machen 86 Millionen Euro Schulden bei den Jobcentern. In diesem Beitrag wurde auch auf den Rückzahlungsaspekt hingewiesen: »Darlehen müssen aus dem Hartz-IV-Regelsatz zurückgezahlt werden. Monatlich bis zu 10 Prozent werden vom Jobcenter einbehalten – von bis zu drei Darlehen gleichzeitig. Das kann ein Minus von bis zu 30 Prozent des Regelsatzes bedeuten. Seit Ende März hat sich das zumindest geändert. Neue Weisungen der Bundesagentur für Arbeit veranlassen die Mitarbeiter in den Jobcentern, mehrere Darlehen nur noch nacheinander und nicht mehr parallel zu tilgen.«

Während es also bei den Bedingungen der Rückzahlungen eine leichte Verbesserung gegeben hat, werden in einem anderen Bereich die Daumenschrauben angezogen, wie Kristiana Ludwig beschreibt:

»Seit Anfang dieses Jahres hat die Arbeitsagentur einen eigenen Inkasso-Dienst aktiviert, der sich verstärkt um solche Forderungen kümmern soll. Die Behörde verspricht sich dadurch Mehreinnahmen von rund 70 Millionen Euro im Jahr. Bundesweit machen Schuldnerberater seither die Erfahrung, dass sich Jobcenter nun auf keine Verhandlungen mehr einlassen.«

Die Einsicht in das Dokument, mit dem Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) solche Einigungen einschränkt, konnte nur unter Anwendung juristischen Zwangs ermöglicht werden, konkret von Matthias Butenob von der Landesarbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung Hamburg, der das unter Berufung auf das Informationsfreiheitsgesetz erstritten hat.
Und was sagt das Bundesarbeitsministerium dazu?

»Nahles‘ Sprecher erklärt, man werde weiterhin jeden Einzelfall prüfen. Wenn die wirtschaftliche Existenz des Betroffenen ernsthaft bedroht sei oder die Überschuldung ihn „dauerhaft demotiviert und ihn unter dem Druck der Verhältnisse sozial abgleiten“ lasse, sei eine Einigung noch immer möglich. Nach Einschätzung des Rechtsanwalts Marcus Köster von der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen wird es für Arbeitslose jedoch schwer, eine solch starke Belastung zu beweisen. „Für so einen Beleg müsste man einen Arzt einschalten und ein Attest liefern“, sagt er.«

Man muss das an dieser Stelle leider so bilanzieren: Die sozialdemokratische Bundesarbeitsministerium leistet erneut einen Beitrag zu einer Rechtsverschärfung zuungunsten einige Betroffener im Hartz IV-System und die „Lösung“ ihres Hauses würde neben der Tatsache, dass die nur für Einzelfälle gelten würde, einen Rattenschwanz an zusätzlichen Arbeiten (bei Ärzten, in den Jobcentern, bei den Gerichtet im Gefolge von Widersprüchen und Klagen usw.) auslösen – in Zeiten, in denen in den Sonntagsreden von Bürokratieabbau fabuliert wird. Und damit nicht genug: »Den Preis für die harte Linie von Andrea Nahles zahlen nicht nur die Arbeitssuchenden, sondern auch die Bundesländer. Etwa 2000 Euro kostet ein Insolvenzverfahren, das den Menschen bei einer gescheiterten Einigung bevor steht – bei mittellosen Bürgern müssen die Länder diese Kosten übernehmen. Eigentlich will das Bundesjustizministerium diese teuren Verfahren vermeiden, eben deshalb gibt es eine Verhandlungspflicht«, so Kristiana Ludwig ergänzend in ihrem Artikel.

Übrigens – der eine oder andere aufmerksame Leser dieses Blogs wird sich erinnern, dass bereits am 23. November 2015 in dem Beitrag Immer mehr arbeitslose Menschen in finanziellen Nöten. Jobcenter, die mit Darlehensrückforderungen das Existenzminimum beschneiden. Eine Bundesagentur für Arbeit, die Mitarbeiter in „Telefoninkasso“ schult auf den damals vor der Einführung stehenden Inkasso-Dienst der BA hingewiesen wurde: Die Bundesagentur für Arbeit setzt auf eine „Professionalisierung“ hin zu einem „modernen Inkasso-Unternehmen“. Als Grundlage fungiert ein neues „Fachkonzept Inkasso“, mit dem die BA künftig einen „besseren Einziehungserfolg“ erreichen will. Von 2015 bis 2020 verspricht sie sich dadurch Mehreinnahmen von rund 70 Millionen Euro pro Jahr. Das Amt hat bereits fünf Stützpunkte in Recklinghausen, Bogen, Hannover, Halle und Kiel geschaffen, an denen sich Mitarbeiter auf das Eintreiben von Außenständen konzentrieren sollen – auch bei den Menschen, die ihre Jobcenter-Schulden mit in die Berufstätigkeit nehmen. Und auch den folgenden Passus aus dem damaligen Beitrag sollte man wieder in Erinnerung rufen: »Gerade haben dort rund 180 Mitarbeiter ein „Intensivtraining Telefoninkasso“ von der Deutschen Inkasso Akademie bekommen, einer Tochter des Bundesverbands deutscher Inkasso-Unternehmen. Im Dezember sollen weitere Kurse folgen. Die Bundesagentur erwägt außerdem, die privaten Inkassounternehmen gleich selbst zu beauftragen. Dies sei bereits „erfolgreich erprobt“ worden.«