(Keine) Überraschung: Gute Riester-Rente für höhere Einkommen, kaum bis gar keine Riester-Rente für die unteren Einkommen. Eigentlich wäre mal wieder die Systemfrage fällig

Immer wieder wird über die „Riester-Rente“ berichtet, auch in einigen Beiträgen in diesem Blog, wobei es heute nicht um Fragen geht, ob und wie viel man denn rausbekommt, wer davon (wirklich) profitiert oder ob das ursprüngliche Ziel, die Rentenniveauabsenkung im umlagefinanzierten gesetzlichen Rentenversicherungssystem zu kompensieren, erreicht worden ist oder erreicht werden kann. Es geht mal wieder um eine Studie über die Riester-Rente, davon hat es ja auch in der Vergangenheit so einige gegeben.

Mit Blick auf das, was schon seit längerem vorliegt, sei hier nur beispielhaft auf zwei Studien verwiesen: Heike Joebges et al.: Auf dem Weg in die Altersarmut. Bilanz der Einführung der kapitalgedeckten Riester-Rente, Düsseldorf 2012 sowie Axel Kleinlein: Zehn Jahre „Riester-Rente“. Bestandsaufnahme und Effizienzanalyse, Berlin 2011. Es geht um eine neue Studie von Giacomo Corneo, Carsten Schröder und Johannes König mit dem Titel Distributional Effects of Subsidizing Retirement Savings Accounts: Evidence from Germany. Man kann das auch so zusammenfassen: Von Riester-Rente profitieren insbesondere Bezieher höherer Einkommen: »Die Riester-Altersvorsorge kommt nach Berechnung von Wissenschaftlern der Freien Universität und des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) vor allem Bezieherinnen und Beziehern höherer Einkommen zugute.« Demnach entfallen fast 40 Prozent der Gesamtförderung auf die oberen zwei Zehntel der Einkommensverteilung.

Vor allem Reiche kassieren Riester-Förderung, so hat das die FAZ aufgegriffen. Und spricht sogleich ein systematisches Problem der Riester-Rente an: »Eigentlich sollte die staatliche Riester-Zulage gerade Klein- und Mittelverdienern zugute kommen.« Die Unwucht zugunsten der höheren Einkommen ist offensichtlich: »Von den 2,79 Milliarden Euro Fördergeld, die der Staat im Jahr 2010 – auf das sich die Studie bezieht – ausgeschüttet hat, entfielen damit mehr als 1 Milliarde Euro auf Menschen, die mehr als 60.000 Euro Nettoeinkommen im Jahr erzielen. Auf die unteren beiden Zehntel der Einkommensbezieher entfielen demnach nur 7 Prozent der Gesamtfördersumme.« Und dann kommt ein Passus, den wir uns merken sollten:

»Die Studie ist ein weiteres negatives Zeugnis für die Riester-Rente. Forscher hatten in der Vergangenheit bereits festgestellt, dass Menschen trotz der staatlichen Förderung nicht wie erhofft mehr sparen. „Es hat sich empirisch mehrfach gezeigt, dass die Sparneigung gleich bleibt – nur, dass ein Teil der Summe nun vom Staat aufgebracht wird.“«

Dieser Befund ist natürlich ernüchternd vor dem Hintergrund der sozialpolitisch daherkommenden Komponente, dass gerade die unteren Einkommen und die mit vielen Kindern besonders starke Anreize bekommen sollen, zu „riestern“. Dennoch: »Menschen in den untersten Einkommensklassen bekommen, weil sie weniger das geförderte Zusatzsparen betreiben, den geringsten Anteil vom Förderkuchen«, schreibt Markus Rieksmeier in seinem Artikel Riester-Rente geht an Kleinverdienern vorbei.

Diese Erkenntnis lässt auch die FAZ in Person des Philipp Krohn nicht los: »Kinderreiche Familien und Einkommensschwache werden in der Altersvorsorge besonders gefördert. Erstere nutzen es, aber nur wenig Arme haben eine Riester-Rente. Warum nur?«, fragt er in seinem Beitrag Arme verschmähen die Riester-Rente. Er liefert uns zwei Antwortversuche auf diese Frage:

»Ein einfacher Grund liegt schlicht in der Verfügbarkeit von Einkommen: Wer nur 100 Euro im Monat übrig hat, lässt sich auch von knapp 500 Euro staatlicher Zulage im Jahr bei einem Kind kaum locken. Einen anderen Grund sieht Forscherin Coppola in der mangelnden Informiertheit der Geringverdiener. „Unsere Frage danach, ob sich Probanden für förderberechtigt hielten, schätzten Geringverdiener deutlich weniger oft richtig ein“, sagt sie. Diese Menschen glauben also, gar nicht anspruchsberechtigt zu sein.«

Hinzu kommt eine nicht zu unterschätzende Restriktion aufgrund einer politischen Entscheidung: »Riester-Sparer müssen in der Rentenphase zunächst auf ihre Auszahlungen zurückgreifen, bevor sie staatliche Grundsicherung erhalten.« Anders formuliert: Wenn die armen Schlucker im Rentenalter auf Grundsicherungsleistungen angewiesen sind, dann werden die Auszahlungen aus der Riester-Rente voll angerechnet. Belohnung fürs Sparen sieht anders aus.

Wieder zurück zur neuen Studie. In der wurden auch die Auswirkungen auf die Ungleichheitssituation untersucht, denn die besondere Förderung der unteren Einkommen und der Familien mit vielen Kindern sollte ja auch Auswirkungen haben im Sinne einer Verringerung der Ungleichheit. Die Befunde sind auch hier ernüchternd, wie das DIW in seiner zusammenfassende Pressemitteilung zur Studie erläutert:

»Die Wissenschaftler betrachteten auch die Auswirkungen auf die Verteilung der verfügbaren Einkommen in der Gesamtbevölkerung und zogen hierzu unter anderem den sogenannten Gini-Koeffizienten heran, der stets zwischen dem Wert null bei völliger Gleichheit und eins bei völliger Ungleichverteilung der Einkommen liegt. Sie fanden heraus, dass die Riester-Förderung ungeachtet der nicht gleichmäßigen Verteilung über alle Einkommensgruppen kaum zu einem Ausschlag in der gemessenen Ungleichheit führt. Betrachtet man beispielsweise den Gini-Koeffizienten, sinkt dieser von einem Wert von etwa 0,3296 um kaum mehr als 0,00014 Punkte, wenn man die Riester-Förderung in die Betrachtung der Verteilung der Einkommen einbezieht. Ursache für diesen vermeintlichen Widerspruch seien zwei Effekte, die sich gegenseitig neutralisierten, hieß es. So gebe es einen progressiven Effekt, der Ungleichheit reduziere, nämlich die relativ zum Einkommen großzügige Förderung von Haushalten mit niedrigen Einkommen. Dieser Effekt werde ausgeglichen durch einen regressiven Effekt: Haushalte mit niedrigen Einkommen schlössen seltener einen Riester-Vertrag ab als Haushalte mit hohen Einkommen, zeigen die Wissenschaftler. So würden in der Gesamtbevölkerung nur rund sieben Prozent des untersten Zehntels, aber rund 22 Prozent des obersten Zehntels der Einkommensverteilung zurzeit mit Riester-Verträgen sparen.«

Fazit: Die oberen und mittleren Einkommen nutzen das Instrumentarium der Riester-Rente, natürlich vor allem angesichts der Subventionierung ihres persönlichen Sparverhaltens aufgrund der steuerlichen Förderung. Sparverhalten ist hier das relevante Stichwort, denn wer glaubt ernsthaft, dass diese Gruppen ihr Sparverhalten deutlich verändern würden in dem Sinne, dass sie weniger sparen, nur weil es keine Riester-Förderung mehr gibt. Auf der anderen Seite werden die, um die es eigentlich besonders gehen sollte hinsichtlich der notwendigen Kompensationsfunktion, also die unteren Einkommen, nicht oder eben nur deutlich unterdurchschnittlich erreicht, womit die sozialpolitische Funktionalität in keiner Art und Weise adressiert werden kann.

Also abschaffen die Riester-Rente. Das wäre eine naheliegende, sich sogar aufdrängende Möglichkeit. Und zwar so schnell wie möglich, denn jeder weiterer Verzug erhöht die gebundenen Kosten, denn die bereits eingegangenen Förderzusagen müssen natürlich eingehalten werden. Man sollte einmal genau hinschauen, wie unabhängige Finanzmakler die Riester-Rente bewerten: Das geht von „Mogelpackung“ bis hin zur der weicheren, aber genau so vernichtenden Variante, dass man zur Kenntnis nehmen muss, es mit einer „überdimensionierten Papierflut“ zu tun zu haben und selbst Akademiker verzweifeln an den Unterschieden zwischen mittelbarer und unmittelbarer Förderung und dass es kaum ein Produkt außer denen aus dem Formenkreis der betrieblichen Altersvorsorge geben würde, das so viele Nachfragen produziert. Eine Hyperkomplexität, die zudem noch ihre ursprünglichen Intentionen verfehlt. Wann, wenn nicht bei einer solchen Fallkonstellation wäre die Systemfrage fällig.

Das Ende des Post-Streiks: Ein „umfassendes Sicherungspaket“ (für die, die drin sind) und ein verlorener Kampf gegen die Billig-Post

Jetzt ist er also vorbei, der unbefristete Streik bei der Deutschen Post. Man hat sich geeinigt. Bei der Gewerkschaft Verdi ist die entsprechende Meldung dazu überaus und nicht ohne Grund dürftig überschrieben: Einigung bei der Deutschen Post. Sieges- oder Erfolgsmeldungen werden anders verpackt. Man muss an dieser Stelle in Erinnerung rufen, dass die Härte der Auseinandersetzung auch und vor allem dadurch bedingt war, dass man neben den „normalen“ Tarifforderungen gegen die Auslagerungsbestrebungen des Postmanagements ankämpfen wollte. Die Ausgründung von Billig-Tochtergesellschaften (DHL Delivery) und die zwischen 20 und 30 Prozent geringere Bezahlung der dort Beschäftigten wurde völlig zu Recht erkannt als eine Rutschbahn nach unten für die gesamten Beschäftigungsbedingungen im Konzern. Dagegen hat man sich zur Wehr setzen wollen – verständlich, denn warum sollen die Beschäftigten auch noch dabei zusehen, wie sie dafür herhalten müssen, die nach oben getriebenen Renditeversprechen des Konzernvorstands zu bedienen – wohlgemerkt, in einem Unternehmen mit einem Gewinn in Höhe von fast 3 Milliarden Euro, also keinesfalls in erheblichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten steckend, die ein Entgegenkommen der Mitarbeiter nachvollziehbar bzw. diskussionswürdig hätte erscheinen lassen?

Und was ist nun raus gekommen nach vier Wochen Dauer-Streik? In der Gesamtschau von außen muss man zu dem Ergebnis kommen – nicht viel. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Gewerkschaft einen unbefristeten Streik, also gleichsam die letzte Stufe des Arbeitskampfes, gezündet hatte, drängt sich der Eindruck auf: Eine krachende Niederlage für die Gewerkschaft. 

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Kommen jetzt die 24-Stunden-Kita-Kombinate? Über ein gar nicht so neues Ferkel, das durchs Sommer-Dorf getrieben wird

Auf eines kann man sich verlassen – auf die Reflexe im politischen Raum, die Zuckungen und Wortsalven auslösen, nur weil man ein bestimmtes Reizwort vernommen hat. Und diese Schnellschuss-Reflexe funktionieren besonders gut, wenn es irgendwie um „die“ Familien geht und deren kleinen Kinder. Das haben wir erleben müssen im Vorfeld der Einführung eines Rechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatz ab dem ersten Lebensjahr und der parallelen Debatte über das so genannte „Betreuungsgeld“. Was für eine „Entweder-Oder-Debatte“. Der oftmals nur ideologisch, leider aber auch nicht selten lediglich parteipolitisch-strategisch inszenierte Kreuzzug für oder gegen irgendwas hat sich zwischenzeitlich wieder abgekühlt, momentan bieten sich andere Baustellen an, wo man seinen Emotionen freien Lauf lassen kann, beispielsweise die griechische Dauer-Tragödie.

Nun aber gibt es scheinbar wieder Stoff für diejenigen, deren Puls schon beim Normalfall einer Kita-Betreuung – in manchen Kreisen auch als „Fremdbetreuung“ semantisch klassifiziert – nach oben geht. Und eine Menge Vorurteile lassen sich aktivieren – so der Hinweis, dass die Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) ja aus „dem Osten“ kommt und letztendlich die Welt der DDR in der Kinderbetreuung allen friedliebenden Mitbürgern in Deutschland überzustülpen gedenkt. Was hat sie wieder angerichtet? Alles begann mit dieser Meldung: Bund will Millionen in neue 24-Stunden-Kitas investieren, so die Überschrift eines Artikels, der in der „Freien Presse“ erscheinen ist. Alessandro Peduto berichtet darin von diesem Vorhaben: »In Kitas sollen Betreuungsangebote für die Abend- und Nachtstunden massiv ausgebaut werden. Das sehen Pläne von Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) vor. Ein entsprechendes Förderprogramm im Umfang von bis zu 100 Millionen Euro für 2016 bis 2018 will das Ministerium nach eigenen Angaben in Kürze auf den Weg bringen. Das Geld stammt aus zusätzlichen Investitionsmitteln des Bundes. Teil des Vorhabens sind sogenannte 24-Stunden-Kitas.«

„Für Menschen, die im Schichtdienst arbeiten – im Krankenhaus oder in der Pflege, als Polizisten oder im Einzelhandel – , ist es wichtig, dass es auch in sogenannten Randzeiten eine Möglichkeit gibt, die Kinder gut betreut zu wissen.“ Mit diesen Worten wird die Bundesfamilienministerin Schwesig zitiert. Hört sich erst einmal doch gang nachvollziehbar an. Den Plänen zufolge geht es nicht um eine längere Betreuung der Kinder, sondern um Angebote zu anderen Zeiten.

Das ist sofort von den Medien aufgegriffen worden: Familienministerium will mehr 24-Stunden-KitasRegierung plant 24-Stunden-Kitas oder der hier: Schwesig will 24-Stunden-Kitas fördern. In diesem Artikel findet man auch den Hinweis: In der Koalition gefällt das nicht jedem.
Es wird uns nicht wirklich überraschen, dass dazu an vorderster Front die CSU zu zählen ist, deren Vertreter sogleich in den Modus der Schnappatmung gewechselt sind:

Generalsekretär Andreas Scheuer sagte in München: „Staatlich verordnete 24-Stunden-Kitas – da schütteln alle den Kopf.“

Erde an München: Wie kommt man auf das Gerede von „staatlich verordneten 24-Stunden-Kitas?“ Das ist nun allerbilligste Propaganda, ausschließlich darauf gerichtet, dass die nachweislich falsche Botschaft mit hohem Erregungspotenzial beim Hörer oder Leser hängen bleibt und genau die Assoziationen ausgelöst werden, auf die am Anfang des Beitrags hingewiesen wurde: Die letztendlich immer noch „ostdeutsche“ Ministerin will das DDR-Kita-System über das Land ausbreiten. Auch auf Bayern, aber da – so die Botschaft – ist der bayerische Löwe vor. Wenn es nicht ein ernsthaftes Thema wäre, könnte man jetzt ein LOL markieren („Laughing Out Loud“) und sich wieder anderen Dingen widmen. Aber so einfach wollen wir es uns dann doch nicht machen.

Da wäre zum einen dieser Hinweis: Auch die CDU – und aufgepasst: gemeinsam mit der CSU – sind mit ähnlichen Versprechen in den Bundestagswahlkampf 2013 gezogen:

»Wir treiben den Ausbau von Kindertagesstätten weiter entschlossen voran. Auch am Ausbau der Kinderbetreu­ung wollen wir gemeinsam mit Ländern, Städten und Ge­meinden weiterarbeiten. Dazu gehört beispielsweise auch, 24­-Stunden­-Kitas und andere flexible Betreuungs­angebote einzurichten, um Eltern mit wechselnden Ar­beitszeiten die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu er­ leichtern.«

Diesen Passus findet man auf der Seite 39 des Wahlprogramms der Unionsparteien 2013 (damals schon ganz unprätentiös Regierungsprogramm 2013-2017 in Vorwegnahme des siegreichen Abschneidens bei der Bundestagswahl 2013 genannt). Schön und gefährlich zugleich, dass man in den heutigen Zeiten der Digitalisierung alles so schnell wiederfinden kann, wenn man es ordentlich abspeichert.

Nun kann man durchaus argumentieren, die Versprechungen in einem Wahlprogramm sind – nun ja – eben Inaussichtstellungen einer möglichen Möglichkeit, wenn …

Und die Bundesfamilienministerin bekommt durchaus auch Unterstützung und nicht nur angebliches Kopfschütteln von allen Seiten. Beispielsweise kommentiert Thorsten Denkler in der Süddeutschen Zeitung unter der Überschrift Warum 24-Stunden-Kitas notwendig sind: »Familienministerin Schwesig will mehr Geld in 24-Stunden-Kitas investieren. Das ist überfällig.« Und warum? Denkler versucht es lebenspraktisch:

»Das Problem kennen viele in dieser oder ähnlicher Form: Er auf Montage im Ausland, sie Nachtschicht auf der Intensivstation. Die Kinder zwei und vier Jahre alt. Oma und Opa leben weit weg, die Freunde winken inzwischen ab, wenn die Kinder mal wieder einen Schlafplatz brauchen. Babysitter? Zu teuer für das trotz Doppel-Einkommen schmale Budget.
Entweder einer von beiden schmeißt den Job hin. Oder die Kita bleibt über Nacht auf. Der Bedarf ist da. Wenn er auch nicht immens sein dürfte. In jeder mittleren Stadt dürften ein oder zwei Kitas mit Nachtbetreuung reichen, um die größte Not zu lindern.«

Das klingt irgendwie plausibel. Lebensnah halt. Aber lesen wir weiter. Der folgende Passus sollte zum Nachdenken anregen – und nicht zur sofortigen Zustimmung:

»Die Frage ist längst nicht mehr, ob 24-Stunden-Kitas pädagogisch wertvoll sind oder nicht. Sie sind schlicht notwendig. Der Arbeitsmarkt verlangt heute maximale Mobilität und Einsatzbereitschaft. In der Nacht genauso wie an Wochenenden. Und das oft zu viel zu niedrigen Löhnen.
Viele Familien brauchen das zweite Einkommen, um halbwegs über die Runden zu kommen. Und nicht zu vergessen: Immer mehr Frauen wollen sich nicht länger auf die Nur-Mutter-Rolle reduzieren lassen.«

Das nun wieder wird eine Kritiklinie öffnen, die sich nicht speist aus einer generellen und letztendlich tradierten Ablehnung der „Fremdbetreuung“ der Kinder in Kindertageseinrichtungen, sondern aus einer Skepsis gegenüber der Unterwerfung von Familien mit kleinen Kindern unter die Nutzungsbedingungen eines Arbeitsmarktes, der die Anforderungen, die Kinder nun mal mit sich bringen, externalisiert an die Familien und zu deren Problem definiert, das dann wiederum der Staat jetzt „lösen“ helfen soll.

Aber zurück zu der wohlwollenden Kommentierung der Ankündigung von Schwesig: Nicht umsonst greift Denkler auf die Figur des Schichtarbeiters zurück. Auf diese Personengruppe bezieht sich eine lange Traditionslinie der Debatte über das Für und Wider einer 24-Stunden-Kita. Beispielsweise in den Artikel Wenn Mama zur Nachtschicht muss von Lisa Erdmann aus dem Juni 2012: »… richtig kompliziert wird es für Eltern, die im Schichtdienst arbeiten – und das werden immer mehr. Wohin mit den Kindern morgens um fünf oder abends um zehn? In die 24-Stunden-Kita. Die wenigen, die es gibt, können sich vor Anfragen kaum retten.« Sie berichtet dann beispielhaft aus einer real existierenden 24-Stunden-Kita, die immer wieder als Aushängeschild für diese Spezies herhalten muss: Es geht um die Kita „nidulus/nidulus duo“ in Schwerin, der Landeshauptstadt von Mecklenburg-Vorpommern. Lisa Erdmann berichtete 2012 in ihrem Artikel:

»Rund um die Uhr an 365 Tagen im Jahr betreuen die zwölf Erzieher 58 Kinder im Alter von drei Monaten bis zur Einschulung. „Alle unsere Eltern arbeiten im Schichtdienst“, erklärt Grit Brinkmann, 41, Leiterin der Kita. „Ärzte, Feuerwehr, Polizei, Krankenschwestern. Wir prüfen jeden Einzelfall genau.“ Die Kita kann sich vor Anfragen kaum retten, berichtet Brinkmann.«

Und dann kommt auch bei ihr ein primär bzw. ausschließlich arbeitsmarktpolitisches Argument für die 24-Stunden-Kitas:

„Der Trend geht in Richtung individualisierte Arbeitszeit“, sagt der Frankfurter Sozialforscher Harald Seehausen. Im Einzelhandel etwa, wo der Supermarkt um die Ecke sogar samstags bis 22 Uhr geöffnet hat. „Kita-Öffnungszeiten von 8 bis 16 Uhr? Das geht heute eigentlich gar nicht mehr.“ Seehausen prognostiziert einen steigenden Bedarf an 24-Stunden-Angeboten. „Als Folge der Globalisierung werden wir vor allem im Dienstleistungsbereich noch ausgedehntere Arbeitszeiten bis hin zum Rund-um-die-Uhr-Einsatz sehen.“

Also auch hier eine Anpassung an die sich verändernden Verwertungsbedingungen des Kapitals, die man eben bringen und deshalb auch organisieren müsse?

Aber man kann noch weiter zurückgehen. Im April 2007 wurde in der Frauenzeitschrift „Brigitte“ unter der lapidaren Überschrift Die 24-Stunden-Kita ein Artikel veröffentlicht, der auch damals schon einen großen Bedarf in den Raum gestellt hat: »Während Koalition und Kirchenvertreter noch darüber streiten, ob der Ausbau der Krippenplätze moralisch vertretbar ist, geht eine Kita in Brandenburg schon viel weiter: Seit 2003 bietet der Verein „Schnatterenten“ aus Schwedt eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung an. Mit Erfolg: Die Eltern sind begeistert, die Kinder zufrieden, die Wartelisten lang.«

Oder wie wäre es damit? „Kinderhotels und mehr – Mosaiksteine einer vielfältigen Betreuungslandschaft“, so ist ein Artikel von mir überschrieben, der im Heft 7/2005 (S. 24-26) der Fachzeitschrift „Theorie und Praxis der Sozialpädagogik“ veröffentlicht worden ist und in dem ich einige damals bekannte Ausformungen der Rund-um-die-Uhr-Betreuung skizziert habe.

Was diese Hinweise andeuten sollen – es handelt sich um nichts neues, sondern ganz offensichtlich gibt es a) die Debatte über die „24-Stunden-Kitas“ schon seit vielen Jahren, b) wurde schon immer ein großer Bedarf postuliert, der durch die vorhandenen Angebote aber nicht gedeckt werden kann und c) ist trotz dieses angeblich sehr großen Bedarfs bislang überschaubar wenig passiert, denn neben der immer wieder gerne zitierten Schweriner Kita gibt es auch noch in anderen größeren Städten wie Berlin, Hamburg oder Dresden vergleichbare Angebote, die sich allerdings an wenigen Fingern abzählen lassen.

Anfang Juni 2015 gab es im Tagesspiegel den Versuch, nach den Ursachen für diese offensichtliche Diskrepanz zu suchen: »Politiker fordern längere Öffnungszeiten für Kitas – sogar bis zu 24 Stunden. Doch Versuche zeigen: Die Hemmschwelle ist oft hoch«, schreibt Sylvia Vogt in ihrem Artikel 24-Stunden-Kita: Späti für die Kleinen. Ausgangspunkt ist auch in Berlin eine – erneute – Debatte über den angeblichen Bedarf an einer deutlichen zeitlichen Ausweitung der Betreuungsangebote. Aber dann wird viel Wasser in den möglichen Wein gegossen, denn Vogt gelangt zu folgender Einschätzung:

»Ob … eine 24-Stunden-Kita kommt, darf bezweifelt werden. Denn solche Versuche gab es schon in Berlin, doch sie sind wieder eingestellt worden – aufgrund mangelnder Nachfrage, wie die Senatsjugendverwaltung mitteilt. Auch in Teltow, wo es seit einiger Zeit eine solche Einrichtung gibt, wird das Angebot kaum genutzt, wie kürzlich bekannt wurde. „Es hat sich nicht gerechnet“, sagt Regine Schallenberg-Diekmann, pädagogische Geschäftsführerin beim Träger Ina-Kindergärten, der von 2008 bis 2011 eine Rund-um-die-Uhr-Kita an der Charité betrieb. Zunächst sei die Kita als Modellprojekt von der Robert-Bosch-Stiftung unterstützt worden, doch nachdem diese Gelder ausliefen, habe man nur noch ein Jahr durchhalten können.«

Landeselternsprecher Norman Heise zweifelt ebenfalls an der Umsetzbarkeit einer 24-Stunden-Kita, können wir dem Artikel entnehmen. Und er eröffnet eine – scheinbare – Alternative, die es jetzt schon geben würde: der ergänzenden Tagespflege. Aber immer diese Aber:

»Ergänzende Tagespflege, das sind Tagesmütter und -väter oder auch andere Personen, die Kinder außerhalb der Kitazeiten betreuen, wenn die Eltern den Bedarf nachweisen. Die Eltern können sich selbst eine geeignete Person suchen, manchmal helfen die Jugendämter bei der Vermittlung. Allerdings ist die Bezahlung schlecht: Das Jugendamt zahlt nur rund fünf Euro pro Stunde. Zwar soll der Satz bis 2017 auf 8,50 Euro erhöht werden, teilte die Jugendverwaltung mit. Aber vielleicht liegt es auch daran, dass bisher nur die Eltern von 505 Kindern in Berlin das Angebot wahrnehmen.«

Hinzu kommt, aber das wäre wieder ein eigenes Thema für einen längeren Beitrag: Die Stundensätze in der Kindertagespflege sind kalkuliert im Grunde auf der Basis einer Vollauslastung (also möglichst fünf Kinder und die dann gute acht Stunden pro Tag, an fünf Tagen pro Woche. Wenn aber Kindertagespflegepersonen ein Angebot machen sollen, das beispielsweise bis in den späten Abend oder sogar über die Nacht reichen soll, dann wird das sicher nicht gleichzeitig vier oder fünf Kindern betreffen. Und die Betreuung eines einzigen Kindes zu den Bedingungen ist nun wirklich nicht attraktiv.

Da wären wir auch bei einem weiteren überaus wirksamen Hemmnis für eine Ausbreitung der „24-Stunden-Kitas“. Man muss sich deutlich vor Augen führen, dass das eine teure Sache werden würde, wenn man nur die minimal erforderlichen Personalschlüssel realisiert, die man braucht, um nicht in die Zone der Kindeswohlgefährdung abzurutschen. Und das, weil Lidl & Co. immer länger ihre Geschäfte aufmachen? Weil mehr Schichtarbeit anfällt, mehr Wochenendarbeit und generell eine kontinuierliche Beschleunigung der Zeitanforderungen (und das dann auch noch vor allem in eher sehr schlecht bezahlten Frauenberufen)? Müsste man dann nicht auf die naheliegende Idee kommen, eine Umlagefinanzierung dieser zusätzlichen Angebote über die Unternehmen einzufordern? Warum sollte diese sehr teure und über die normale Grundversorgung mit einer familienergänzenden und -entlastenden Betreuung vom Steuerzahler oder gar von den betroffenen Arbeitnehmern selbst finanziert werden?

Und wenn wir schon beim Personal sind: Wir erreichen doch derzeit noch nicht einmal im Bereich der Regelversorgung, also bei der ganz normalen Kita-Betreuung tagsüber, die aus fachlicher Sicht notwendigen Personal- und daraus abgeleitet (besonders wichtig) Fachkraft-Kind-Schlüssel. Wenn man dann ein 24-Stunden-Angebot macht, müsste man zudem besondere, also zusätzliche Ressourcenanforderungen stellen, allein schon aufgrund der Ausnahmesituation, die das für viele Kinder darstellen würde. Gleichzeitig wird man kaum eine Vollauslastung hinbekommen, so dass Leerkosten mitfinanziert werden müssten.

Das sind alles fachlich-ökonomisch hergeleitete Zweifel, dass außer der Ankündigung eines neuen Programms und der Einweihung von zwei oder drei Programm-„Leuchttürmen“ irgendwas substanziell geschehen wird, ohne dass deshalb der Ansatz einer 24-Stunden-Kita für ganz bestimmte, allerdings sehr eng gefasste Fallkonstellationen grundsätzlich verworfen wird. Man ist geneigt, zum einen der Politik zuzurufen: Macht erst einmal eure Hausaufgaben bei den ganz normalen Kitas und dem, was die immer jüngeren Kinder, die tagsüber immer länger in den Einrichtungen bleiben (müssen), brauchen.

Und denjenigen, die jetzt die Lufthoheit über den Stammtischen anstreben und von – bei der Ministerin „natürlich“ DDR-infizierten – Kita-Kombinaten und einer Zwangskollektivierung der deutschen Kleinkinder fabulieren, den sei ins Stammbuch geschrieben: Wir haben mehr als 50.000 Kindertageseinrichtungen in Deutschland und auch nach dem Programm der Frau Ministerin werden es eine Handvoll 24-Stunden-Kitas sein. Regt euch wieder ab. Die Verhältnisse werden es schon richten. Und die DDR ist definitiv verstorben.

Was ist noch normal und was ist schon krank, was ist nicht zu vermeiden und wo muss man was tun? Die gesundheitliche Lage der Studierenden und der höchst ambivalente Lockruf des Geldes. Zugleich eine Frage nach dem (Un)Sinn des Scheiterns

2,7 Millionen Studie­rende im Winter­semester 2014/2015 – noch nie waren so viele Studierende an den deutschen Hochschulen eingeschrieben, meldete bereits im November des vergangenen Jahres das Statistische Bundesamt. Und für viele Bildungspolitiker markiert das Jahr 2013 eine historische Zäsur in unserem Bildungssystem, denn in diesem Jahr haben erstmals mehr zumeist junge Menschen ein Hochschulstudium aufgenommen als eine duale Berufsausbildung angefangen. Der eine oder die andere wird sich an dieser Stelle zu Recht erinnert fühlen an die seit einigen Jahren laufende Debatte über einen (angeblichen) „Akademisierungswahn“ in unserer Gesellschaft und dem schrittweisen Absinken des doch ebenfalls angeblich weltweit so einmaligen deutschen Berufsausbildungssystems in eine Risikozone mit wenig Sauerstoff für die Akteure und einem möglicherweise anstehenden Tod auf Raten. Darum aber soll es an dieser Stelle gar nicht gehen. Auch nicht um die Tatsache, dass die steigenden Studierendenzahlen auf ein System treffen, das nicht nur höchst komplex angelegt und seit Jahren an den Auswirkungen eines „Systemwechsels“ (gemeint ist hier die Umstellung auf die Bachelor-/Master-Studiengänge im Gefolge der deutschen Umsetzung der „Bologna-Reformen“) laboriert, verbunden mit der Tatsache, dass es sich bei den Hochschulen um die pädagogischen Einrichtungen handelt, die zum einen die schlechtesten Relationen zwischen Lehrpersonal und Lernenden aufweisen, zum anderen treffen die Studierenden hier auf die ansonsten im Bildungssystem recht einmalige Konstellation, dass der Großteil der Lehrenden per Akklamation zu „Pädagogen“ erklärt worden ist, die sie aber gar nicht sind und bei denen man dann hoffen kann und muss, dass sie sich pädagogisch „richtig“ verhalten, wobei das „Richtige“ in der Pädagogik bekanntlich eine eigene Dimension darstellt.

In diesem Kontext muss man dann folgende Meldungen zur Kenntnis nehmen: »Der Trend steigender Fehlzeiten setzt sich fort. 2014 waren Erwerbspersonen durchschnittlich 14,8 Tage krankgeschrieben. Das entspricht einem Krankenstand von 4,06 Prozent, der damit um 1,0 Prozent höher liegt als im Jahr zuvor. Dabei sind insbesondere Fehlzeiten aufgrund psychischer Erkrankungen erneut gestiegen. Besonders besorgniserregend sind die gesundheitlichen Belastungen unter Studierenden. Bei dieser Gruppe zeigen die Auswertungen eine deutliche Zunahme an Verordnungen von Psychopharmaka«, berichtet die Techniker Krankenkasse (TKK) unter der Überschrift Mehr als jeder 5. Studierende bekommt eine psychische Diagnose. Die gesundheitliche Lage der Studierenden ist der Themenschwerpunkt des neuen Gesundheitsreport der TKK (Gesundheitsreport 2015. Gesundheit von Studierenden).

Die beunruhigend daherkommende Botschaft wurde sogleich aufgegriffen von den Medien: Mit Alkohol gegen Prüfungsstress, so hat die FAZ ihren Artikel überschrieben, die Ärzte Zeitung behauptet gar Viele Studenten sind depressiv, womit man schon sehr weit geht, denn das kommt wie eine Tatsache daher, wobei man anmerken sollte, dass eine Diagnose gerade in diesem Bereich durchaus erst einmal eine Vermutung oder vielleicht sogar nicht zutreffend sein kann.

Zuerst einmal einige Erkenntnisse aus dem Gesundheitsreport 2015 der TKK. Zur Datenbasis sei angemerkt: Die TKK hatte für die Erhebung Arzneimittel- und Diagnosedaten von rund 190.000 Studierenden ausgewertet und diese mit den Daten von gleichaltrigen Berufstätigen verglichen. Ergänzend dazu war auch ein repräsentativer Querschnitt von 1000 Studentinnen und Studenten zu ihrem Lebensstil befragt worden.

Bei 21,4 Prozent der Studierenden in Deutschland wurde 2013 eine psychische Erkrankung diagnostiziert. Die Betroffenen litten am häufigsten unter einer Depression. Der Anteil der Studierenden mit einer psychischen Diagnose ist somit seit 2009 um 4,3 Prozent gestiegen. 4,3 Prozent der Studenten haben 2013 eine Psychotherapie begonnen, rund sechs Prozent ließen sich stationär behandeln. Knapp vier Prozent der Studierenden erhielten Antidepressiva. Mit rund 257 Tagesdosen im Jahr wurden sie somit über zwei Drittel des Jahres mit Medikamenten versorgt.
Hinzu kommt ein „Geschlechter-Bias“, denn betroffen sind vor allem die Studentinnen. Bei rund 30 Prozent von ihnen wurde 2013 eine psychische Störung diagnostiziert, doppelt so häufig wie bei ihren männlichen Kollegen (15 Prozent).

Susanne Werner berichtet in ihrem Artikel Viele Studierenden sind depressiv auch über eine Interpretation der Befunde, die scheinbar fassungsfähig daherkommt zu den Erwartungen, die viele mit solchen Daten verbinden werden:

»Der Grund für die zunehmenden Diagnosen psychischer Störungen ist offenbar im „Stresslevel auf dem Campus“ zu finden. Rund die Hälfte der Studierenden gaben in der Befragung an, regelmäßig unter Stress zu stehen, etwa ein Viertel fühlte sich sogar „unter Dauerdruck“.
Zu den zentralen Belastungsfaktoren zählten die Befragten Prüfungsstress, Doppelbelastung durch Studium und Jobben, finanzielle Sorgen, die Angst vor schlechten Noten sowie das Bangen, später keinen Job zu finden.«

Das wird sicher auch die erste Vermutung vieler Leser gewesen sein und mithin deshalb „passungsfähig“, weil es sich einordnen lässt in einen allgemeinen Diskurs über die „krankmachenden“ Strukturen unserer Leistungsgesellschaft und dem „zunehmenden“ Druck, dem die Beschäftigten ausgesetzt seien. Insofern rundet das ein Bild ab, in dem beispielsweise auch auf die (angeblich) stark steigende Zahl an Jugendlichen und selbst Kindergartenkindern mit psychischen  Problemen hingewiesen wird.

Ein genauerer Blick lohnt wie so oft. Wenn von „Studenten“ die Rede ist, denken die meisten ob bewusst oder unbewusst sicher sofort und nur an junge Menschen, die nach der Schule eine Studium beginnen. Vor diesem Hintergrund ist der folgende altersdifferenzierte Befund aus dem Gesundheitsreport 2015 der TKK interessant, auf den Weber hinweist:

»Im Vergleich zeigt sich, dass die psychischen Erkrankungen stark ab dem 27. Lebensjahr ansteigen. Die Raten der psychischen Diagnosen der Studierenden übersteigen dann deutlich entsprechende Erkrankungen bei jungen Erwerbstätigen.
„Ab 32 Jahren bekommen Studierende beider Geschlechter etwa doppelt so viele Antidepressiva verschrieben wie Erwerbspersonen im gleichen Alter“, sagte Dr. Thomas Grobe vom AQUA-Institut, das die Zahlen für die TK ausgewertet hatte.«

Insofern trifft die herausgestellte und von vielen Medien rezipierte überdurchschnittliche Betroffenheit eben erst einmal nicht den „Normalfall“ der Studierenden, also diejenigen, die Anfang 20 sind. Ein differenzierter Blick ist vor allem deshalb bedeutsam, weil man ansonsten die falschen Schlussfolgerungen zieht. Offensichtlich ist es so, dass ab 30 die Bewältigung des mit einem Studium verbundenen Drucks deutlich schwerer fällt als in den jüngeren Jahrgängen. Dann spielten entscheidende Prüfungen, Fragen der Studienfinanzierung und womöglich auch Kinder eine treibende Rolle als Stressfaktoren. Das würde aber in der Konsequenz bedeuten, dass eine Hilfestellung für diese kleine Gruppe an Studierenden eher ansetzen müsste an Rahmenbedingungen wie der finanziellen Unterstützung oder des Angebots an einer entlastenden und zugleich die Ausbildung ermöglichenden Betreuungsinfrastruktur.

Aber grundsätzlich sollte man sich vor einer durchaus naheliegenden Schlussfolgerung hüten, die scheinbar so gut passt in eine Fundamentalkritik an den (tatsächlich oder angeblich) pathologischen Strukturen unserer Leistungsgesellschaft. Also die doch offensichtliche Überforderung eines Teils der Studierenden dadurch zu verringern, dass man den Druck auf sie reduziert, die Anforderungen absenkt, sie dann doch noch ans Ziel kommen lässt, in dem man schlichtweg beide Augen zudrückt. Man muss sehen, dass es sich bei einem Studium eben auch um einen offiziellen Ausbildungsweg handelt, der mit einem staatlich lizenzierten Abschluss endet, der Zugang eröffnet zu bestimmten Tätigkeiten und Positionen (und damit auch Vergütungen), die andere nicht bekommen (können).

Man kann das kritisieren, aber Fakt ist: Ein Hochschulstudium bildet in der Gesamtschau auf die bestehenden Ausbildungsstrukturen (immer noch) das „obere“ Ende der Bildungshierarchie ab und insofern muss es notwendigerweise selektiv sein und auch einen Teil der Teilnehmer am Ende aussondern. Unabhängig von der Einstellung gegenüber Prüfungen – die als Selektionsfallbeil wirken können – und damit letztendlich dem exkulpierenden Gesicht des Bildungssystems – so lange wir uns in diesem System bewegen, kann es keinen Sinn machen, den Erfolg gerade des Systems am oberen Ende der Bildungshierarchie daran zu messen, dass alle, die reingehen, auch erfolgreich, also mit Abschluss, wieder rauskommen und das dann auch noch unbeschadet.

Aber vielleicht erledigt „das System“ diese Aufgabe selbst. Und wieder einmal spielt Geld und seine Anreizwirkung hierbei eine Rolle. Als Beispiel dafür sei auf den Artikel 4000 Euro für jeden Absolventen hingewiesen. Man sollte über die (möglicherweise und wie so oft sicher nicht geplanten, sich aber einstellenden) Nebenwirkungen einer als „gut“ daherkommenden Idee einmal genauer nachdenken. Ausgangspunkt ist das diagnostizierte Problem der Studienabbrüche. Denn wenn ein Teil der Studierenden unterwegs verloren geht und nicht zum Abschluss gelangt, dann ist das eine Ressourcenverschwendung, die eingesetzten Mittel haben ja nicht zu dem anvisierten Ergebnis geführt.

Nun wird der eine oder die andere einwerfen an dieser Stelle: Es gibt doch viele und höchst unterschiedlich zu gewichene Gründe für einen Studienabbruch. Die Information, dass beispielsweise 25 Prozent und mehr der Studierenden „abbrechen“, vernebelt eigentlich mehr als es uns weiterhilft. Denn darunter fallen beispielsweise Studierende, die – Gott sein Dank für sich selbst und für die Gesellschaft – am Anfang des aufgenommenen Studiums merken, dass das nichts für sie ist. Und wenn die das Studium abbrechen, heißt das noch lange nicht, dass sie deswegen auf eine akademische Ausbildung verzichten, wenn sie schlichtweg das Studienfach und/oder den Hochschulort wechseln und einen neuen Versuch starten. Zu den Studienabbrechern zählen auf der einen Seite die, die an den problematischen Rahmenbedingungen scheitern (beispielsweise Probleme bei der Vereinbarkeit von Studium und Familie), die es ansonsten vielleicht gut geschafft hätten. Aber eben auch diejenigen, die schlichtweg nicht in der Lage sind, den Anforderungen eines Studiums gerecht zu werden – und wenn die abbrechen, dann ist das zwar ein Scheitern, heißt aber noch lange nicht, dass das per se schlecht ist, denn möglicherweise erweisen sie sich in anderen Ausbildungsstrukturen als überaus erfolgreich (man schaue nur auf die durchaus positiven Erfahrungen, die gemacht worden sind mit Studienabbrechern, denen man eine „klassische“, also duale Berufsausbildung vermittelt hat). Aber um es ganz deutlich und ohne politisch korrekte semantische Verkleisterungen zu sagen: Das Scheitern muss zu einem Hochschulstudium dazu gehören, man muss auch auflaufen und das bescheinigt bekommen können, dass man den Anforderungen nicht gewachsenen ist.

Diese sicherlich kontrovers diskutierbaren Hinweise zeigen eines auf alle Fälle: Wir haben es hier mit einer hochkomplexen Gemengelage zu tun, die man tunlichst nicht über einen Kamm scheren sollte. Aber der Reiz für Bildungspolitiker scheint groß zu sein, genau das zu tun:
»Mehr als jeder vierte Student schmeißt sein Studium hin, Nordrhein-Westfalen will das jetzt ändern: Das Land zahlt seinen Hochschulen künftig einen Erfolgsbonus für jeden Absolventen – 4.000 Euro pro Abschluss.« Die Hochschulen sollen also angereizt werden, mehr dafür zu tun, einem Teil der Studierenden die Scheiternserfahrung zu ersparen. Auch hierfür sind die angesprochenen „rohen“ Zahlen zu den Studienabbrechern Ausgangspunkt dafür, „etwas“ tun zu müssen:»Nach Berechnungen des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) schließt bundesweit etwa ein Drittel der Studenten an Universitäten und knapp ein Viertel an Fachhochschulen das Studium nicht ab. Vor allem Fächer wie Mathematik, Physik, Chemie und Ingenieurwissenschaften sind betroffen«, kann man auch dem Artikel 4000 Euro für jeden Absolventen entnehmen.

Allein schon der differenzierende Hinweis auf die besonders betroffenen Fächer eröffnet zugleich, wenn man denn will, eine realistische, also nicht einfache Sicht auf das Phänomen Studienabbruch, denn die Anforderungen, beispielsweise hinsichtlich der erforderlichen Mathematik, sind in diesen Studiengängen sehr hoch. Nun kann man zugespitzt formuliert zwei Schlussfolgerungen ziehen: Zum einen wäre die Frage der Studienbedingungen bis hin zur (Nicht-)Pädagogik des Lehrpersonals ein Ansatzpunkt. Vielleicht also gelingt es über bessere Bedingungen, mehr Studierenden die Untiefen der Mathematik verstehbar zu machen und sie dann auch noch zu einem Abschluss zu führen. Das wäre der unbedingte Auftrag, die eigene Institution zu überprüfen und auch Konsequenzen zu ziehen, wenn die Ausbildungsqualität zu niedrig ist. Aber auf der anderen Seite könnte man auch durchaus zeitgeistig sagen, wir senken die Anforderungen, die zu immer auch beschämenden Scheiternserfahrungen führen können, einfach ab, weil nun mal bei vielen jungen Menschen die Kenntnisse in der Mathematik schlecht sind. Aber wir alle als Nutzer einer Brücke, eines Freizeitparks oder was auch immer werden unbedingt erwarten dürfen und müssen, dass die Ingenieure rechnen können, ob das nun angenehm ist oder nicht.

Zurück zu dem Vorstoß aus Nordrhein-Westfalen: »Nach Angaben des Ministeriums ist NRW das erste Bundesland, das ein stark auf den Studienerfolg ausgerichtetes Prämienmodell einführt. Die rot-grüne Landesregierung in Düsseldorf hatte bereits in ihrem Koalitionsvertrag festgelegt, die Abbrecherquote senken zu wollen. Anfang vergangenen Jahres hatte Wissenschaftsministerin Schulze mit den Fachhochschulen verabredet, dass dort künftig 20 Prozent weniger Studenten abbrechen sollen.«

Man könnte jetzt etwas pikiert einwenden, dass sich das irgendwie anhört wie die Planvorgaben des ZK für Bildungsabschlussoutput der Hochschul-Kombinate. Aber ernsthafter: Was kann es bedeuten, wenn man lesen muss, die Wissenschaftsministerin habe mit den Fachhochschulen verabredet, »dass dort künftig 20 Prozent weniger Studenten abbrechen sollen«? Die optimistische Variante geht so: Alle strengen sich jetzt in den NRW-FHs ganz doll an, um die potenziellen Studienabbrecher zu identifizieren und vor dem fatalen Schritt eines Studienabbruchs zu bewahren. Die einen bekommen einen Krippenplatz für die Kinder, die anderen so lange Mathe-Nachhilfe, bis sie aufgeben. Es gibt allerdings auch eine zweite Variante, die leider weitaus realistischer erscheint für jeden, der in diesem System gearbeitet hat oder gar arbeitet: Die Anforderungen werden Schritt für Schritt abgesenkt. Wenn man Durchfallquoten hatte von 30 oder 40 Prozent, dann kann man eine Reduzierung der damit verbundenen Abbrecherquoten um 20 Prozent schnell und wirksam erreichen, in dem man die Durchfallquoten abgesenkt. Wenn das nicht von den Studierenden selbst geleistet werden kann, dann muss man eben nachhelfen. Und wenn der Fachbereich, in dem die Studierenden eingeschrieben sind, ein unmittelbares und erhebliches finanzielles Interesse hat bzw. gemacht bekommt, wie durch die neue Prämie in NRW, dann muss man doch keine ökonomische Studie in Auftrag geben, um sich vorzustellen, in welche Richtung sich die Systeme begeben werden.

Die Mittel für diese neue Prämie holt sich NRW aus dem „Hochschulpakt“, ein milliardenschweres Bund-Länder-Programm, mit dem zusätzliche Studienplätze finanziert werden. Die Hochschulen im bevölkerungsreichsten Bundesland erhalten künftig 18.000 Euro für jeden zusätzlichen Studienanfänger, zudem die Erfolgsprämie für Absolventen. Die Anreizwirkung wird eintreten, das kann man prognostizieren.

Aber man kann und muss zugleich ein Riesen-Fragezeichen hinsichtlich der Sinnhaftigkeit solcher letztendlich nur vulgärökonomisch fundierter Anreizmodelle setzen. Und man sollte eines nie vergessen: Man kann Anforderungen und Hürden immer recht einfach absenken – sollte sich das aber als Irrweg erweisen, dann wird es kaum möglich sein, wieder zurück zu gehen auf Start. Das ist wie eine Rutschbahn nach unten. Das kann sich zu einem echten Problem auswachsen für das Bildungssystem an sich, aber auch für die Abnehmer, also beispielsweise die Arbeitgeber und die Anforderungen auf vielen Arbeitsplätzen. Darüber hinaus werden aber auch den jungen Menschen möglicherweise fatale Hinweise gegeben, dass man sich nicht zusätzlich anstrengen muss, dass man auch so irgendwie durchkommen wird, dass immer das System oder andere verantwortlich sind, immer weniger bis gar nicht aber man selbst.

Zur Änderung des Asylrechts. Geduldete werden mehr geduldet, zugleich wird die andere Seite der „Willkommenskultur“ geschärft: Mehr einsperren, Internierung, Flucht als Verbrechen

Die Bundestagsabgeordneten haben im Mai 1993 ein Zeichen gesetzt. Sie haben das Grundgesetzt geändert – und zwar ganz vorne, wo eigentlich eherne Grundrechte verankert sind. Es waren bewegte Zeiten, denn hunderttausende Menschen waren vor dem Krieg in Jugoslawien nach Deutschland geflohen, gleichzeitig kamen viele Asylbewerber aus anderen Teilen der Welt und nicht zu vergessen die Zuwanderung seitens der so genannten „Spätaussiedler“ aus der zerfallenden Sowjetunion. Und die mussten alle irgendwie untergebracht und versorgt werden. Parallel durchlief das Land eine mehr als verstörende und ganze Biografien entwertende Wiedervereinigung mit einem Arbeitsmarkt in Ostdeutschland, der gleichsam auseinandergerissen war. In dieser brodeligen Gemengelage kamen ausländerfeindlich motivierte Brandanschläge auf Asylbewerberheime und andere Unterkünfte, in denen Ausländer lebten, hinzu. Die Namen Mölln und Rostock-Lichtenhagen sowie Solingen seien hier nur stellvertretend für die damalige Zeit genannt. Die Politiker hatten Angst, dass ihnen der innenpolitische Laden um die Ohren fliegen könnte. Doch statt sich vor die Menschen zu stellen, die nach Deutschland gekommen sind, hat man ein anderes Zeichen gesetzt. Die damalige Regierung aus Union und FDP verabschiedete mit Unterstützung der SPD ein Gesetz, welches das Grundrecht auf Asyl faktisch abgeschafft hat. Eine große Koalition der Abschottung. Im Dezember 1992 hatten sich Union, FDP und die eigentlich oppositionelle SPD auf eine Neuregelung des Asylrechts verständigt (vgl. dazu auch die Hintergrundinformationen in diesem Beitrag: Einschränkung des Asylrechts 1993). Das Ziel: Die Verfahren sollten beschleunigt und ein „Asylmissbrauch“ verhindert werden. Dazu sollte der ursprünglich schrankenlose Satz in Artikel 16 („Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“) gestrichen und durch einen Artikel 16a ersetzt werden. Als gleichsam perfide technokratische „Spitzenleistung“ erwies sich die Operationalisierung der angestrebten Abschottung, also wie man die Zugbrücke hat hochziehen wollen: So wurde die so genannte „Drittstaatenregelung“ eingeführt, die besagt: Wer über ein EU-Land oder ein anderes Nachbarland Deutschlands einreist, hat keinen Anspruch auf Asyl und kann sofort abgewiesen werden. Die meisten Flüchtlinge scheitern auf diese Weise bereits an den Grenzen Deutschlands. Und um das wasserdicht zu bekommen: Auch Flüchtlinge aus „sicheren Herkunftsstaaten“, also Ländern, in denen keine Verfolgung oder unmenschliche Behandlung droht, haben keinen Anspruch auf Asyl. Dieser kurze Exkurs in die Zeit von vor über zwanzig Jahren ist notwendig, um das, was man nunmehr gemacht hat, besser einordnen zu können.

Das Bundesinnenministerium hat einen Gesetzesentwurf zur „Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung“ vorgelegt, der im Bundestag zur Verabschiedung stand und von der Mehrheit heute auch angenommen wurde. »Hinter dem technischen Ausdruck verbirgt sich ein perfides Vorhaben: Die Bundesregierung will die Inhaftierung von Schutzsuchenden dramatisch ausweiten«, so Maximilian Popp in seinem Kommentar Flucht als Verbrechen. Die Perfidie des Ansatzes wird in den folgenden Zeilen erkennbar:

»Künftig sollen Flüchtlinge, die mithilfe von Schleppern nach Deutschland gelangen, die Grenzkontrollen umgehen, ihren Pass verloren haben oder falsche Angaben gegenüber Behörden machen, weggesperrt werden können. Also mehr oder weniger alle. Das Gesetz ist der größte Einschnitt in die Flüchtlingsrechte seit dem Asylkompromiss 1993.«

Popp zitiert den Bundesinnenminister Thomas de Maizière, der behauptet, die Härte gegenüber Neuankömmlingen sei nötig, um „die Zustimmung zur Zuwanderung und der Aufnahme von Schutzbedürftigen in Deutschland zu sichern“. Auch wenn er diese Zuordnung für einem Minister „unwürdig“ hält, sie folgt natürlich im bestehenden System durchaus einer bestimmten Logik, die man nicht sofort von der Hand weisen kann.

Carolin Weidemann hat in ihrem Artikel Bundesregierung will mehr Flüchtlinge einsperren dargelegt, was die gesetzlichen Neuregelungen auf der dunklen Seite des Asylrechts beinhalten. Dazu muss man wissen, dass die Zahl der Abschiebehäftlinge gesunken ist, vor allem seit der Bundesgerichtshof im Sommer 2014 die Inhaftierung von europäischen Binnenflüchtlingen, sogenannte Dublin-Fälle, weitgehend verboten hat. Genau das aber will die Bundesregierung nun wieder ändern:

»Gemäß des Dublin-Abkommens dürfen sich Schutzsuchende lediglich in jenem europäischen Land um Asyl bewerben, das sie zuerst betreten. Wer trotzdem nach Deutschland weiterflieht, soll, nach dem Willen der Bundesregierung, unmittelbar nach der Einreise interniert werden können.

Als Haftgründe gelten laut Gesetzesvorhaben:
falsche oder unvollständige Angaben gegenüber den Behörden,
ein fehlender Pass,
Geldzahlungen an Schlepper
oder die Umgehung von Grenzkontrollen bei der Einreise.
Kurz: alle unvermeidlichen Begleiterscheinungen der Flucht.«

Auch der mittlerweile überarbeitete Entwurf zielt vor allem darauf: eine Ausweitung der Abschiebehaft und die Herstellung der dafür notwendigen rechtlichen Voraussetzungen. Die Einwände gegen dieses Ansinnen reichen vom Bundesrat, der „gravierende negative Auswirkungen“ auf die Betroffenen herausstellt bis hin zu der Feststellung, dass in den vergangenen Jahren trotzt sinkender Zahlen an in Abschiebehaft befindlichen Menschen keineswegs weniger Abschiebungen vollzogen wurden, was ja als These sofort in den Raum gestellt wird, wenn man die Leute nicht wegsperrt.

Martin Kaul weist in seinem Artikel Schneller und mehr ausweisen auf eine weitere erhebliche Verschärfung hin:

»So sollen Ausländerbehörden künftig etwa mit einem neu geschaffenen „Ausreisegewahrsam“ Flüchtlinge zu deren einfacherer Abschiebung bis zu vier Tage lang festnehmen können. In der Vergangenheit durften Ausländer, die nicht von den Behörden „geduldet“ sind, im Rahmen der Abschiebehaft auch schon festgesetzt werden. Allerdings mussten dafür weitere Gründe vorliegen. Hierbei wurde zumeist das Argument der Fluchtgefahr herangezogen.
Mehr Wiedereinreiseverbote
Mit dem neu geschaffenen Ausreisegewahrsam entfallen solche weiteren Gründe. Hier reicht es im Wesentlichen, dass die Ingewahrsamnahme die Abschiebung vereinfachen kann.«

Und in einem kann man sich ja auf Juristen verlassen – sie können einem Schwarz als Weiß verkaufen, so auch hier: Die vereinfachte Ingewahrsamnahme sei sogar „gut“ für die Betroffenen und eigentlich nur in deren Interesse, denn so könnten Nachtabholungen von Familien vermieden werden, die in der Öffentlichkeit und bei den in diesem Feld engagierten Menschen auf besondere Proteste gestoßen sind. Weitere Verschärfungen sind in den Gesetzesänderungen enthalten, z.B.: Ermittlungen aufgrund aufenthaltsrechtlicher Straftaten braucht die Staatsanwaltschaft nicht mehr zuzustimmen. Wiedereinreiseverbote sollen ebenfalls leichter ausgesprochen werden können. Das richtet sich etwa gegen „Personen aus Staaten des Westbalkans“, wie es beim Innenministerium heißt. Gemeint sind vor allem Sinti und Roma.

Das reiht sich ein in weitere Bausteine einer partiell abschreckenden Ausgestaltung des Umgangs mit bestimmten Flüchtlingen. Stellvertretend hierfür die Ausführungen nicht irgendeinen unmaßgeblichen Menschen, sondern des Präsidenten des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Manfred Schmidt, der in einem Interview der FAZ ausführt, das monatliche Taschengeld in Höhe von 140 Euro sollte für Asylsuchende aus sicheren Herkunftsländern gestrichen werden. Damit werde der Anreiz für Migranten vor allem aus dem westlichen Balkan gesenkt.

„Wir müssen Menschen, die vermutlich kein Asyl bekommen, sagen, dass sie vom ersten Tag in Deutschland an kein Taschengeld erhalten. Dann würde der Zustrom schnell abnehmen.“

Die 140 Euro, die es in Deutschland während des Asylverfahrens als Taschengeld gebe, seien in etwa der durchschnittliche Monatsverdienst in Südserbien.

Die gesetzlichen Änderungen, die heute verabschiedet wurden, folgen einer ganz bestimmten und nicht unbekannten Logik: Schlechte Flüchtlinge, gute Flüchtlingen. Insofern gilt auch hier: Wo Schatten ist, muss auch Licht sein und insofern werben die Politiker der großen Koalition für die Änderungen mit dem Hinweis, es gebe doch auch zahlreiche Erleichterungen für Flüchtlinge, die bei uns sind, wenn auch nur als Geduldete. Dazu Martin Kaul in seinem Artikel:

»Vereinfachungen im Bleiberecht zielen vor allem auf jüngere und besonders gut integrierte Ausländer ab, die bislang nur geduldet wurden. Sie sollen künftig ein Bleiberecht erhalten können, wenn sie etwa unter 27 Jahre alt sind und mindestens 4 Jahre eine deutsche Schule besucht haben. Bislang mussten sie 6 Jahre Schulbesuch nachweisen.
Auch Familien, die für sich selbst aufkommen können, die ihre Treue zum Grundgesetz bekennen und mit einem Kind seit mindestens 6 Jahren in Deutschland wohnen, können ein Bleiberecht erhalten. Früher mussten es 8 Jahre sein.«

Es gibt also eine schrittweise Reduzierung der zu nehmenden Hürden, wenn man denn hier ist und geduldet wird. Die absehbare Verfestigung ihres Aufenthaltsstatus wird jetzt formal etwas schneller abgebildet. Man kann es auch so zusammenfassen, wie der Artikel Der Bundestag differenziert das Asylrecht weiter aus:

»Erleichterungen soll es für die rund 125 000 Geduldeten in Deutschland geben – also für jene Menschen, deren Asylantrag keinen Erfolg hatte, die aus verschiedenen Gründen aber nicht abgeschoben werden. Sie bekommen nun die Chance auf ein sicheres Bleiberecht. Voraussetzung ist: Der Betroffene lebt schon seit Jahren im Land, spricht ausreichend Deutsch und kann seinen Lebensunterhalt selber sichern.«

Und wie zögerlich man hier insgesamt ist, verdeutlicht nicht nur das Beispiel mit der „Etwas-Absenkung“ der Schwellenwerte, sondern vor allem auch der Nicht-Umgang mit den jungen Flüchtlingen, die man hat gewinnen und vermitteln können in eine Berufsausbildung. Man sollte meinen, offensichtlich eine win-win-Stutation für beide Seiten, dem Individuum wie auch dem Staat. Und in ungezählten Sonntagsreden wird doch derzeit landauf landab beschworen, wie wichtig es sei, gerade die jungen Menschen so schnell wie möglich in Arbeit bzw. vor allem in Ausbildung zu bringen. Aber wie heißt es so schön im erfahrungsgesättigten Volksmund: Links blinken und rechts fahren.

Der Wahrheitsgehalt dieser Weisheit wird auch hier dokumentiert: Chance vertan: Berlin kneift bei Bleiberecht für Azubis mit Duldung, so die Überschrift eines Artikels, der den Finger notwendigerweise auf die offene Wunde legt:

»Die Idee klang gut: Junge Flüchtlinge sollten bis zum Ende ihrer Ausbildung nicht abgeschoben werden. Das Ergebnis ist ernüchternd: Diese Jugendliche sollen nur eine Duldung bekommen und keinen Aufenthaltstitel. Erste Kritik kommt aus Rheinland-Pflalz, die initiatoren dieser Idee.«

Die Aufenthaltserlaubnis für die gesamte Dauer der Lehrzeit kommt nicht, statt dessen hat der Innenausschuss des Bundestages lediglich für eine Duldungsregelungen votiert – »die bereits nach heute geltendem Recht realisierbar ist.« Dabei ist die Begründung für die eigentlich angestrebte Verbesserung offensichtlich:

»Wenn man junge Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt integrieren wolle, müsse man ihnen und ihren Ausbildungsbetrieben garantieren, dass die Jugendlichen mindestens bis zum Ende ihrer Ausbildung in Deutschland bleiben dürfen.
Mit einer Duldung ist das nur bedingt gegeben. Denn die Duldung beschinigt lediglich, dass die Abschiebung vorerst nicht vollzogen werden kann, der Inhaber Deutschland aber eigentlich verlassen muss, sobald die Hinderungsgründe nicht mehr vorliegen. Junge Menschen mit Duldung haben es daher schwer, überhaupt einen Ausbildungsplatz zu finden.«

„Es wäre eine Frage des gesunden Menschenverstandes gewesen, Angebot und Nachfrage hier sinnvoll zusammenzuführen“, so das Argument der rheinland-pfälzischen Wirtschaftsministerin Eveline Lemke. Letztendlich hat das was damit zu tun, dass bei den Entscheidungsträgern immer noch explizit oder implizit der Abschottungsgedanke verankert ist.