Einige Solo-Selbständige in Deutschland proben den Aufstand gegen die Rentenversicherung und andere möchten gerne rein

Also früher war die Welt irgendwie noch einfacher – jedenfalls aus der heutigen Perspektive, die natürlich immer auch eine verzerrte sein muss. Da gab es die große Masse der abhängig Beschäftigten, in Arbeiter und Angestellte sortiert und auf der anderen Seite der Medaille die Selbständigen. Bei den Selbständigen hatte man zum einen die vielen kleinen Kümmerexistenzen, die mit ihrem Laden mehr schlecht als recht über die Runden gekommen sind. Zum anderen die „normalen“ Selbständigen, die ein Unternehmen betrieben, in dem wiederum andere Menschen eine abhängige Beschäftigung gefunden haben. Und weil man normalerweise davon ausgehen konnte, dass so ein Selbständiger – von manchen politischen Kräften auch Kapitalist genannt – genügend Einkommen aus der Verwertung der Arbeitskraft seiner Arbeiter und Angestellten ziehen konnte, wurde unterstellt, dass hier keine „soziale Schutzbedürftigkeit“ gegeben sei, die eine Einbeziehung in die gesetzliche Sozialversicherung, die ja eine Arbeitnehmerversicherung ist, begründen könnte. Also hat man folgerichtig argumentiert, dass diese Selbständigen alleine in der Lage sind, für ihre Absicherung im Krankheitsfall zu sorgen und für eine eigene Alterssicherung beispielsweise in Form einer Lebensversicherung oder anderer Modelle vorzusorgen.

Es gab dann im Laufe der Zeit eine gewisse notwendige „Übergriffigkeit“ seitens der Sozialpolitik, die auch selbständige Existenzen wie Handwerker unter bestimmten Bedingungen unter das weite Dach der sozialen Sicherung zog, weil man hier eine offensichtliche „Schutzbedürftigkeit“ erkannt hat. Aber die meisten Selbständigen blieben weiter außerhalb des Systems und auf eigene Strategien der Absicherung angewiesen, was sie natürlich auch von einer entsprechenden Beitragszahlung befreit hat.

Nun gibt es seit vielen Jahren einen Trend, der quer zu der klassischen Vorstellung von einem Selbständigen mit einem Unternehmen und mehreren Beschäftigten liegt – gemeint ist der Trend hin zu den Solo-Selbständige, also Selbständige, die nur über sich selbst verfügen und keine weiteren Mitarbeiter beschäftigen. Und da gibt es – wie immer im Leben – echte Erfolgsgeschichten, aber auch viel Schatten.

So veröffentlichte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin 2013 einen Beitrag von Karl Brenke unter der Überschrift Allein tätige Selbständige: starkes Beschäftigungswachstum, oft nur geringe Einkommen:

»In den vergangenen beiden Jahrzehnten ist die Zahl der Selbständigen in Deutschland kräftig gestiegen. Dies ist fast ausschließlich auf die Entwicklung bei allein tätigen Selbständigen (Solo-Selbständigen) zurückzuführen. Besonders stark hat sich dabei die Zahl selbständiger Frauen erhöht. Auch wenn ein Teil der Solo-Selbständigen hohe Einkünfte erzielt, liegt das mittlere Einkommen dieser Erwerbstätigengruppe unter dem der Arbeitnehmer. Viele kommen über Einkünfte, wie sie Arbeitnehmer im Niedriglohnsektor beziehen, nicht hinaus. Der Anteil der Geringverdiener unter den Solo-Selbständigen ist zwar seit Mitte der letzten Dekade gesunken, er liegt aber immer noch bei knapp einem Drittel oder etwa 800 000 Personen.«

Schon hier gibt es Hinweise, dass für einen Teil dieser überaus heterogenen Gruppe der Solo-Selbständigen eine offensichtliche Schutzbedürftigkeit konstatiert werden muss, die dann nicht annähernd adäquat bearbeitet wird, wenn man sie zusammenwürfelt mit den anderen, die es auch gibt und die gut leben (und vorsorgen) können von ihrer Selbständigkeit. Das Problem ist eben die doch sehr große Streuung zwischen oben und unten (vgl. dazu auch den Beitrag Diesseits und jenseits der Kümmerexistenz. Arme und reiche (Solo)Selbständige, die vielen dazwischen und die Frage, was sich denn wie lohnt vom 11. Februar 2015).

Die Frage der individuellen Schutzbedürftigkeit einer selbständigen Existenz ist das eine. Das vermischt sich aber mit einem weiteren Problem, das unter dem Begriff der „Scheinselbständigkeit“ bekannt und kritisch diskutiert wird. Dahinter verbirgt sich ein recht einfaches Grundproblem: Wenn die gesamte Architektur des Systems der sozialen Sicherung in Form der verpflichtenden Sozialversicherung am Tatbestand der abhängigen Beschäftigung aufgehängt wird, mit den daraus resultierenden Abgabenfolgen für die Arbeitgeber (neben den weiteren Pflichten, die aus einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis resultieren, wie beispielsweise Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Kündigungsschutzbestimmungen usw.), dann leuchtet es unmittelbar ein, dass aus der Tatsache, dass Selbständige auf eigenes Risiko arbeiten (müssen) und keine solche Bindungswirkung beim Arbeitgeber entfalten, da sie immer nur als Auftragnehmer tätig sind und sein können, die auf Rechnung arbeiten (müssen), ein gewisser Anreiz entsteht, bisher von eigenen Mitarbeitern durchgeführte Arbeiten zu substituieren durch selbständige Auftragnehmer.

Ein klassisches Beispiel aus der Vergangenheit waren dann solche Fälle wie die aus der Unternehmens-Logistik, wo bislang angestellte Fahrer von Lastkraftwagen „outgesourct“ wurden und sich selbständig machen „durften“, in dem sie den LKW gekauft und als selbstständige Fahrer betrieben haben – und dann das gleiche gemacht haben wir vorher, allerdings in einem ganz anderen Beschäftigungsstatus und für die Auftraggeber zu deutlich besseren Konditionen, hat man sich doch der „Last“ der eigenen Beschäftigten entledigt. Zugleich waren alle unternehmerischen Risiken ausgelagert auf den Solo-Selbständigen und oftmals befand sich dieser in der überaus unangenehmen Situation, dass er nur einen Auftraggeber hatte bzw. hat, den solche Fälle gibt es auch heute, so dass er diesem Auftraggeber natürlich auch bedingungslos ausgeliefert war und ist.

Der Gesetzgeber hat versucht, diese höchst problematische Entwicklung einzudämmen, in dem er den Tatbestand der „Scheinselbständigkeit“ mit für den Auftraggeber empfindlichen Sanktionen belegt hat – also eigentlich. Denn wie immer tobt sich der Teufel aus im Detail und das ist hier die Frage, wann denn der Tatbestand der „Scheinselbständigkeit“ erfüllt ist, aus der dann beispielsweise die teure Folge einer Nachzahlung vorenthaltener Sozialversicherungsbeiträge resultieren kann.
Dazu schauen wir bei der Deutschen Rentenversicherung (DRV) nach, die versucht, uns das zu erläutern, denn die prüft ja auch in der Praxis, ob eine Scheinselbständigkeit vorliegt oder nicht. Als Merkmale für eine Scheinselbstständigkeit werden uns diese Kriterien serviert:

– die uneingeschränkte Verpflichtung, allen Weisungen des Auftraggebers Folge zu leisten
– die Verpflichtung, bestimmte Arbeitszeiten einzuhalten
– die Verpflichtung, dem Auftraggeber regelmäßig in kurzen Abständen detaillierte Berichte zukommen zu lassen
– die Verpflichtung, in den Räumen des Auftraggebers oder an von ihm bestimmten Orten zu arbeiten
– die Verpflichtung, bestimmte Hard- und Software zu benutzen, sofern damit insbesondere Kontrollmöglichkeiten des Auftraggebers verbunden sind,

denn, so die DRV, derartige »Verpflichtungen eröffnen dem Auftraggeber Steuerungs- und Kontrollmöglichkeiten, denen sich ein echter Selbstständiger nicht unterwerfen muss.«

Diese Kriterien hören sich klarer an als sie erscheinen. Und genau hier setzt eine aktuelle Protestbewegung an, die sich gegen eine Subsumtion unter einer derart verstandene „Schein“-Selbständigkeit wehrt, denn man sieht sich auch bei Erfüllung einiger dieser Kriterien dennoch als selbständig bzw. als freiberuflich tätig an.

Und wie immer in Deutschland gibt es einen eigenen Verband für diese Angelegenheiten: Der Verband der Gründer und Selbstständigen (VGSD). Und dieser Verband hat eine Petition ins Leben gerufen, die mittlerweile von mehr als 10.000 Personen unterzeichnet worden ist. Über diese Petition

»fordert (der Verband) einen „Schluss der Hexenjagd“ der Deutschen Rentenversicherung gegen vermeintlich „Scheinselbstständige“. „Auch wer fair bezahlt wird und gut fürs Alter vorsorgt, dem unterstellt die Deutsche Rentenversicherung (DRV) mittlerweile Scheinselbstständigkeit“, so Verbandsgründer Andreas Lutz, Diplom-Kaufmann und Solo-Selbstständiger in München. Der Verband fordert „klare Kriterien“ für Selbstständigkeit, die sich auch an den Arbeitsbedingungen seiner Klientel, vor allem Wissensarbeitern, orientieren müssten«, berichtet Barbara Dribbusch in ihrem Artikel Solisten gegen die Sozialgesetze.

Das Problem sind die zitierten Kriterien, die für eine Schein-Selbständigkeit sprechen (sollen). »Viele selbstständige Softwareentwickler, Coaches und Datenkaufleute, die für ein bestimmtes Projekt und einen bestimmten Zeitraum von einer Firma eingekauft werden, erfüllen diese Kriterien, ohne sich allerdings als „Scheinselbstständige“ brandmarken lassen zu wollen.« Dribbusch zitiert in ihrem Artikel als Beispiel den selbständigen IT-Berater Alexander Kriegisch.

Er »arbeitet als Projektmanagement-Coach in Firmen vor Ort, sein Tageshonorar liegt bei 1.000 Euro und höher. Als er mit vielen anderen Freiberuflern an einem Auftrag der Telekom arbeitete, ließ das Bonner Unternehmen die Auftragsverhältnisse durch Juristen prüfen – und kam zu dem Schluss, dass die Selbstständigen in den Augen der Deutschen Rentenversicherung als „Scheinselbstständige“ gelten könnten, was hohe Nachzahlungen von Sozialversicherungsbeiträgen nach sich gezogen hätte.
In der Folge verloren einige der Leute den Auftrag, andere wiederum mussten sich über eine Zeitarbeitsfirma zu schlechteren Konditionen anstellen lassen, um dann wieder für die Telekom arbeiten zu können. Kriegisch verließ das Projekt. „Ich wollte kein Scheinangestellter sein“, sagt er.«

Aber es ist nicht nur die IT-Branche, aus der diese Probleme berichtet werden. Selbst in der Pflege wird man damit konfrontiert, wie Barbara Dribbusch an einem Beispiel berichtet:

»Auch Marten Wiersma, Krankenpfleger mit Intensivpflegeausbildung und 61 Jahre alt, möchte lieber als Freiberufler in Kliniken eingesetzt werden und nicht festangestellt sein, erst recht nicht bei einer Zeitarbeitsfirma. Als Freiberufler käme er auf 8.000 Euro Bruttohonorar im Monat, als Angestellter einer Zeitarbeitsfirma hingegen nur auf 4.000 Euro brutto, berichtet Wiersma.
Der Krankenpfleger arbeitete unter anderem auch an einer Klinik in Duisburg als Selbstständiger. In einer Betriebsprüfung wurde dort Scheinselbstständigkeit festgestellt, die Klinik trennte sich von den Leuten. Es sei daraufhin schwieriger geworden, als Freiberufler zu arbeiten, erzählt Wiersma.«

Aber wo die Sonne ist (oder angeblich scheint), da gibt es auch Schatten: »Im schlecht zahlenden Kulturbereich etwa arbeiten viele selbstständige Publizisten, Lektoren und Musiktherapeuten auf Honorarbasis und sehnen eine Festanstellung mit Kündigungsschutz und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall herbei – während die Situation der hochbezahlten Spezialisten im wirtschaftsnahen IT-Bereich ganz anders ist.«

Oder man denke – gerade vor dem aktuellen und absehbar anhaltenden Hintergrund der massiven Zuwanderung von Flüchtlingen nach Deutschland – an die Situation der ebenfalls meistens als selbständige Existenzen arbeitenden Lehrkräfte für Integrations- und Sprachkurse, die mit Hungerhonoraren abgegolten werden.

Das Thema bewegt die Politik mal wieder. Thomas Öchsner berichtet in seinem Artikel Rente für alle über aktuelle Vorstöße des Sozialflügels der CDU: »Die Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft Deutschlands (CDA) will eine Pflicht zur betrieblichen Altersvorsorge einführen. Dies geht aus dem Entwurf der CDA für ihr neues Grundsatzprogramm hervor, das die Parteigruppe im November bei ihrer Bundestagung verabschieden will.« Und die CDA bleibt nicht stehen beim Thema betriebliche Altersvorsorge, sondern erweitert das:

»Für Selbständige will der Arbeitnehmerflügel der CDU daher eine „verpflichtende Basisabsicherung“ in der Rentenversicherung einführen, „damit niemand im Alter der Grundsicherung und damit dem Steuerzahler anheimfällt“. Die frühere Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen war mit ähnlichen Plänen gescheitert. Damals gab es einen Proteststurm von Selbständigen, die sich gegen ein solche „Zwangsabsicherung“ wehrten.«

Das ist das Dilemma: Die Freiberufler und Solo-Selbständigen, die genügend verdienen, können sich tatsächlich selbst absichern und viele tun das natürlich auch. Aber die Hungerleider unter diesem Dach können das gar nicht, auch wenn sie es wollten. Und wenn man jetzt eine Zwangsabsicherung für die angesprochene Basisabsicherung in der Rentenversicherung einführen würde, dann bedeutet das natürlich: Beitragszahlung. Aber genau auf den Verzicht auf eine solche basiert das heutige Geschäftsmodell vieler armer Schlucker, die als Solo-Selbständige versuchen, den Kopf über dem Wasser zu halten. Denn nur dann können sie Aufträge und damit Einnahmen generieren, von denen sie die laufenden Ausgaben halbwegs bestreiten können – aber eben nicht die zusätzlichen Ausgaben, die mit einer entsprechenden Absicherung, ob sie nun privat oder eben gesetzlich erfolgt, verbunden wären. Also werden die aus purer Not Amok laufen müssen, während die anderen, auf der Sonnenseite der Selbständigkeit befindlichen Personen ebenfalls Sturm laufen, weil es ihre persönlichen Einnahmen belasten würde.

Wie erwähnt, bereits Ursula von der Leyen (CDU) ist als Arbeitsministerin an dieser Frage gescheitert. Wir dürfen mit Interesse verfolgen, ob die durch Mindestlohn und Rentenpaket schon reichlich angeschossene gegenwärtige Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) noch Kraft und Ideen haben wird, diesen gordischen Knoten zu durchschlagen. Wetten würde ich darauf nicht, obgleich der Klärungsbedarf mehr als auf der Hand liegt.

Die einen rein, die anderen ins Lager? Zur Ambivalenz einer erwartbaren Zwangsläufigkeit im Umgang mit Flüchtlingen

Die hier besonders interessierende Frage soll gleich an den Anfang gestellt werden: Kann es ein Gleichgewicht geben zwischen der fürsorgenden Aufnahme der einen und der gleichzeitigen Abschreckung und „Entsorgung“ der anderen Flüchtlinge, die nach Deutschland gekommen sind? Oder wird sich eine – auch mediengetriebene – Schlagseite entwickeln?

Es wird in diesen Tagen nun wahrlich viel, zuweilen auch fast schon im Sinne einer Überdosis berichtet über die neue Völkerwanderung, die sich in Bewegung gesetzt hat und deren Ausläufer tagtäglich in großer Zahl Deutschland erreichen. Auch wenn man zuweilen den Eindruck bekommen muss, es gibt nur zwei Seiten einer Medaille der Reaktion der Menschen, die hier schon leben – also entweder die vielen, die sich engagieren, die vor Ort in den Flüchtlingshilfeinitiativen arbeiten, die Menschen mit Wasser und anderen Dingen sofortversorgen, wenn diese – wie in Berlin – auf eine völlig überforderte Verwaltung treffen und auf der anderen Seite die verbohrten Rassisten und Rechtsextremen, die Flüchtlingsunterkünfte in Brand setzen und in den sozialen Netzwerken kübelweise ausländerfeindliche Gülle ausgießen.

Aber – auch wenn das hier nicht thematisch vertieft werden soll und kann – man muss schon auch darauf hinweisen, dass es eine große schweigende bzw. sich zurückhaltende Mehrheit der Mitte gibt, die am besten symbolisiert wird von der Bundeskanzlerin Merkel, denn Hand aufs Herz: Hat man von ihr schon irgendetwas gehört zu diesem nicht nur aktuell brisanten, sondern auf lange absehbare Zeit zutiefst gesellschaftspolitischen Thema wie Flüchtlinge? Hat sie wenigstens irgendeine weg- bzw. zurückweisende Rede gehalten? Nein, sie wartet wie immer eigentlich ab, auf welche Seite die gesellschaftlichen Pendel ausschlagen. Aber darum soll es gar nicht gehen, sondern um die Frage: Was machen wir mit den einen, auf die man sich einstellen wird müssen, weil sie hierbleiben können (das sind also die „guten Flüchtlinge“) und auf der anderen Seite die vielen Menschen aus Ländern, in die sie wieder zurückgeschickt werden müssen, weil sie keinen wirklichen bzw. akzeptierten Asylgrund vorweisen können. Und die Zahlen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) über die Herkunft derjenigen, die im ersten Halbjahr 2015 einen Erstantrag auf Asyl gestellt haben, verdeutlichen, dass fast jeder dritte Antrag von Menschen aus Ländern des Balkans gestellt wurde, für die man von einer Anerkennungsquote von unter einem Prozent ausgehen muss. So gut wie alle werden also wieder zurück müssen.

Genau an dieser Stelle stellt sich die Frage, wie man damit umgehen kann, soll und vor allem – unabhängig, das sei hier besonders hervorgehoben, wie man das findet – umgehen wird. Die Rahmenbedingungen führen zu einer gewissen Zwangsläufigkeit im Umgang mit den Flüchtlingen, die sich entwickeln wird in einem dreidimensionalen Raum zwischen „guten“, „nicht vermeidbaren“ und „abzustoßenden“ Flüchtlingen. Es geht also um Selektionsprozesse (solange „unberechtigte“ Flüchtlinge nach Deutschland kommen (können)). Die sind nicht nur grundsätzlich ambivalent, sondern sie können – wenn sie sich einmal in Bewegung gesetzt haben – ein Eigenleben annehmen, das dann zurückschlagen kann und wird auf die anderen, also die „guten“ oder „nicht vermeidbaren“ Flüchtlinge, die man länger behalten wird und muss.

Die angedeutete Entwicklungslinie wird im bestehenden System münden müssen in einem sich herausbildenden und auch gewissermaßen sich verselbständigenden Lagersystem. Vorreiter hierbei sind wieder einmal die Bayern. Die setzen das jetzt in die Tat um, was bislang eher wie eine akademische Debatte dahergekommen ist.

„Unerwünschte Flüchtlinge“ müssen in Geisterstadt – das kann man der Presse entnehmen. Und die Konkretisierung folgt auf dem Fuße: »In der schäbigen Kaserne in Manching wird die bundesweit erste Unterkunft für Asylbewerber aus Südosteuropa eröffnet. Zweck des „Balkanzentrums“: Die Flüchtlinge schnellstmöglich heimzuschicken.« Am Rande der oberbayerischen Ortschaft Manching wird in einer schäbigen ehemaligen Bundeswehr-Kaserne das erste „Aufnahme- und Rückführungszentrum“ für Balkanflüchtlinge in Betrieb gehen. Ein zweites „Aufnahme- und Rückführungszentrum“ für chancenlose Asylbewerber vom Balkan wird in Bamberg eröffnen.
»In der Kaserne selbst sollen 500 Balkanflüchtlinge untergebracht werden, in Dependancen außerhalb weitere 1000.«

Die Menschen werden dort also konzentriert, um über diese institutionelle Weichenstellung effizienter und effektiver abschieben zu können: »Anders sein als in Standardunterkünften wird die behördliche Präsenz: Neu hinzukommen sollen 200 Staatsdiener, die die möglichst schnelle Bearbeitung der Asylverfahren garantieren sollen – Mitarbeiter des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, Bundespolizei, medizinisches Personal, Richter.« Vor dem Hintergrund der Effizienzlogik ist das folgende Zitat nicht falsch: »Ziel ist es, die Asylverfahren innerhalb von vier bis sechs Wochen zu beenden. Sämtliche behördlichen Verwaltungsvorgänge von der Ersterfassung bis zur Zustellung des abgelehnten Asylantrags sollen an Ort und Stelle stattfinden.«
Die beabsichtigte Wirkung der Manchinger Unterkunft liegt auf der Hand: die Abschreckung neuer Asylbewerber aus dem Westbalkan bereits in den Heimatländern.

Man wird davon ausgehen können und müssen, dass die Welt in solchen Lagern ihre Eigendynamik annehmen wird. Die sich schließenden Verwaltungsroutinen werden „effizienter“ im Sinne der beabsichtigten Wirkung, man wird das am Anfang ummänteln mit der legitimierenden und prima facie auch nicht von der Hand zu weisenden Argumentation, dass man darüber den notwendigen Freiraum schaffen können für die „echten“ Flüchtlinge, denen man helfen will und/oder muss. 
Aber man sollte sich keinen Illusionen hingeben: Die Erfahrungen, die man mit diesem Weg der Exklusion sammeln wird, werden diffundieren in die Welt der „anderen“ Flüchtlinge. Man mag nur einmal den folgenden Gedankengang nachvollziehen: Was unterscheidet eigentlich den Armutsflüchtling aus einem Staat des Westbalkans – also vor unserer Haustür – von einem Noch-mehr-Armutsflüchtling aus Afrika? Letztendlich – zynisch formuliert – „nur“ der Grad des Elends. Das auf dem Balkan ist schon vergleichsweise schlimm, aber das in Afrika bedeutend schlimmer. Aber je nach Entwicklung der Flüchtlingszahlen wird früher oder später die Argumentation dahingehend verlagert, dass man die Frage aufwerfen wird, ob wir denn wirklich alle diese Menschen aufnehmen können? Was, wen ein humaner Umgang mit ihnen – der grundsätzlich gesehen niemals zur Disposition stehen darf, wenn man noch irgendwelche europäischen Grundwerte in sich hat – aufgrund der Masse und der Überforderung der „abgemagerten“ öffentlichen Strukturen bei uns nicht mehr realisierbar ist? Muss man dann nicht die Erfahrungen mit den Vorläufern, also den Armutsflüchtlingen aus unserem EU-Vorgarten, übertragen auf die anderen? Wobei an dieser Stelle eher zu erwarten ist, dass man die schon seit längerem immer wieder vorgetragene Forderung nach einer „Außenverlagerung“ des Problems in den Blickpunkt nehmen wird, also beispielsweise die Einrichtung von Flüchtlingslagern in den nordafrikanischen Staaten, um die Probleme, die unauflösbar immer mit Lagern verbunden sind, gleichsam über den Weg des „Outsourcing“ aus den Augen und damit aus den Sinn zu bekommen. Der Preis dafür wird zum einen eine engere Bindung der Maghreb-Staaten an die EU und vor allem natürlich der Transfer von Finanzmitteln in diese der Festung Europa vorgelagerten Gebiete sein. 
Apropos eigene Welt der Lager. Das betrifft eben nicht nur die, die abgeschoben werden sollen, sondern insgesamt die Flüchtlinge, die in den Strudel der kompletten Überlastung vor Ort geraten. Zu welchen Deformationen das führen kann, wird deutlich erkennbar an den Berichten über die Lage im österreichischen Erstaufnahmezentrum in Traiskirchen. Dort herrscht Chaos. „Österreich verletzt fast alle Menschenrechtskonventionen“, so hat Maria Sterkl ihren Artikel überschrieben. Sie bezieht sich auf einen Bericht von Amnesty International über die Zustände in diesem Lager. „Ich habe so etwas in Österreich nicht für möglich gehalten“, mit diesen Worten wird Heinz Patzelt von Amnesty International zitiert.

»Allein in der Betreuungsstelle müssten 1.500 Asylsuchende im Freien schlafen, heißt es. Laut Innenministerium sind auch 449 unbegleitete Kinder und Jugendliche obdachlos.« Es gebe keinen ausreichenden Schutz für besonders hilfsbedürftige Gruppen wie Minderjährige ohne Eltern, Neugeborene, Schwangere und Kranke.

»Unerträglich sei, dass es zahlreiche Hilfsangebote von Privaten gebe, die abgewehrt würden. 20 Medizin-NGOs, darunter Ärzte ohne Grenzen, hätten sich bereiterklärt, gratis ärztliche Hilfe im Lager anzubieten – doch die Lagerleitung habe dies abgelehnt … Eine Traiskirchnerin, die Flüchtlingen ein Zelt durchs Zaungitter reichen wollte, damit sie nicht unter freiem Himmle schlafen müssten, sei vom Sicherheitspersonal des Lagers weggeschickt und sogar mit Anzeige bedroht worden.« Aber warum ist das so, mit welcher Begründung?

Dafür sei die ORS (privates Unternehmen, das vom Ministerium für den Lagerbetrieb engagiert wurde) zuständig. 
Auch in den Deutschland vorgelagerten Länder gibt es Entwicklungen in Richtung auf Lagerbildung. Wieder einmal besonders unrühmlich hierbei Ungarn: Ungarn verbannt Flüchtlinge aus den Städten: »Das Kabinett wolle die Unterkünfte nicht mehr in den bewohnten Gebieten haben, erklärte ein Sprecher des Innenministeriums. Übergangsunterkünfte würden als Zeltlager eingerichtet, sagte der Stabschef von Ministerpräsident Viktor Orbán, János Lázár. Eines davon werde an der Grenze zu Serbien eingerichtet. Dann werde die örtliche Bevölkerung „nicht gestört durch die Massen an Flüchtlingen“, sagte Lázár.«

Schöne neue Apple-Welt auf der Sonnenseite der Gesundheitskasse? Ein Update zur schleichenden Entsolidarisierung des Versicherungssystems

Bereits im November 2014 wurde hier ein Beitrag veröffentlicht, der sich kritisch mit einem im Entstehen befindlichen neuen Trend in der „Gesundheitslandschaft“ beschäftigt hat: Irgendwann allein zu Haus? Ein weiterer Baustein auf dem Weg in eine Entsolidarisierung des Versicherungssystems, zugleich ein durchaus konsequentes Modell in Zeiten einer radikalen Individualisierung, so ist der Artikel überschrieben. Wer gesund lebt, zahlt weniger für die Krankenversicherung: Erstmals bietet ein Konzern günstigere Verträge an, wenn Kunden nachweisen, dass sie Sport treiben und zur Vorsorge gehen. »Als erster großer Versicherer in Europa setzt die Generali-Gruppe dafür künftig auf die elektronische Kontrolle von Fitness, Ernährung und Lebensstil. Das Kalkül des Unternehmens scheint auf der Hand zu liegen: Wer gesund lebt, kostet den Krankenversicherern weniger Geld. Im Gegenzug erhalten willige Verbraucher Vergünstigungen, gleichsam als Anreiz, sich entsprechend zu verhalten.« Der Vorstoß kam also aus den Reihen der privaten Krankenversicherungen, aber die Warnung vor einer möglichen Ausbreitung in den Bereich der Sozialversicherungssysteme wurde bereits damals ausgesprochen: »… auch unter dem Dach des Sozialversicherungssystems gibt es immer wieder Diskussionen über den Umfang des Leistungskatalogs und sehr gerne werden immer wieder die doch offensichtlichen Ungerechtigkeiten zitiert, die entstehen, wenn Menschen sich beispielsweise bewusst in schwere Gefahr begeben oder durch ihr Verhalten (z.B. Rauchen, Alkohol trinken usw.) zu hohen Kosten beitragen, die dann von der Solidargemeinschaft aller Versicherten mitfinanziert werden müssen, auch wenn sich die bislang ganz anders verhalten und gehandelt haben. Das wird dann hinsichtlich der möglichen Konsequenzen diskutiert unter dem Stichwort Ausgliederung aus dem gesetzlichen Leistungskatalog. Wenn man denn will, kann man ja Zusatzversicherungen abschließen, wird die Botschaft lauten – oder eben einfach das risikobehaftete Verhalten ändern, wenn man sich das nicht leisten kann. Und schon wieder würde scheinbare „Freiwilligkeit“ in einen faktischen Zwang transformiert.«

Vor diesem Hintergrund muss man natürlich aufhorchen, wenn man mit solchen Meldungen konfrontiert wird: Unter der Überschrift Zuschuss von der Gesundheitskasse berichtet Kurt Sagatz: »Die AOK Nordost bezuschusst sogar den Kauf einer Apple Watch … Bis zu 50 Euro gewährt die Kasse ihren Mitglieder dafür in jedem zweiten Kalenderjahr. Und weil die Apple Watch ebenfalls über die nötigen Funktionen wie unter anderem einen Pulsmesser verfügt, gibt es den Kassenzuschuss auch für Apples neuestes Technikgadget.«

Außerdem erfahren wir, dass die AOK Nordost auch Apps bezuschusst, »die Daten aus den oben genannten Kategorien erheben können – auch im Rahmen des AOK- Gesundheitskontos.«
In dem Artikel Die Kasse trainiert mit von Irene Berres und Nina Weber wird zum einen Bezug genommen auf das bereits angesprochene „Vitality-Programm“ der Generali-Versicherung, das gesundheitsbewusstes Verhalten mit einer App messen und belohnen soll, um dann darauf hinzuweisen: »Viele Krankenkassen prüfen aktuell, ob sie ähnliche Angebote einführen sollen.«

Aber auch im Krankenkassenlager ist die Meinung gespalten zwischen Befürwortern und Kritikern der neuen Entwicklung:

»Die IKK Südwest etwa lehnt grundsätzlich „die finanzielle Bezuschussung von Lifestyle-Produkten durch die Solidargemeinschaft der gesetzlichen Krankenversicherungen ab“.
Die AOK Bremen/Bremerhaven hingegen weist darauf hin, dass es zu den Zielen der Krankenkassen zählt, ihren Versicherten die Vorteile einer gesunden Ernährung und regelmäßiger Bewegung zu vermitteln. Gerade Jugendliche und junge Erwachsene wollten dafür „Zugangswege nutzen, welche auch den Interessen ihres Alters entsprechen“.«

Diese Entwicklungen werden schon registriert und bewertet: Politiker kritisieren Zuschuss für Apple Watch, die das aber scheinbar alle einordnen unter der Rubrik Stilblüten des Krankenkassenmarketings und weniger den konzeptionellen Ansatz dahinter sehen (wollen), vielleicht auch deshalb, weil das noch weit weg erscheint und nur in allerersten, schemenhaften Umrissen erkennbar ist.

Florentine Fritzen bringt aber die eigentliche Frage, die wir uns stellen müssen, in ihrem Artikel Meine Pulsfrequenz gehört mir auf den Punkt:

»Wollen wir so eine Gesellschaft? In der jene profitieren, die sich vermessen lassen, die Gesundheit für quantifizierbar halten, die Daten preisgeben, weil sie „nichts zu verbergen haben“? Das Wort von der Solidargemeinschaft ist altmodisch. Aber auch das sind wir noch: eine Gemeinschaft, in der die Starken den Schwachen helfen, den wirklich Kranken. Es darf nicht geschehen, dass Krankheit als selbstverschuldetes Scheitern von Leuten begriffen wird, die es versäumt haben, ihre Fitness-Ziele zu erfüllen.
Zum Glück sind wir davon weit entfernt. Aber wir sollten es im Kopf behalten. Genauso wie die Tatsache, dass wir Individuen sind, nicht ein Heer berechenbarer Wesen. Das Individuelle lässt sich nicht aus Pulswerten, Kalorienzahlen und erklommenen Treppenstufen ermitteln. Dieses Bewusstsein darf nicht verlorengehen.«

Dem ist nicht viel hinzuzufügen. Außer vielleicht das hier: In der Jetzt-Wirklichkeit der meisten Menschen gibt es mit Krankenkassen ganz andere Probleme – und die sollten auch vor dem Hintergrund der Geldmittel gesehen werden, die hier für Wearables uns sonstiges Gedöns ausgegeben werden. Und diese Realität heißt oftmals Verweigerung von handfesten Leistungen. Ein Beispiel von vielen dazu: Caritas und Diakonie werfen DAK Leistungsverweigerung vor, konnte man Anfang August der Presse entnehmen. »n Dutzenden Fällen soll die Kasse die Zahlung für ärztlich verordnete Leistungen verweigert haben, die von ambulanten Pflegediensten übernommen werden. Es geht unter anderem um Insulingaben und das Anziehen von Kompressionsstrümpfen. „Die Kasse will Patienten zwingen, dass Verwandte oder Nachbarn diese Leistungen übernehmen“, sagte Caritasdirektor Andreas Meiwes. Hintergrund: Die DAK hat offenbar Fragebögen an Patienten verschickt, in denen gefragt wird, ob Angehörige, Freunde oder Nachbarn Pflegemaßnahmen übernehmen könnten.«

Und noch etwas lernt man bei diesem Beispiel: »Die DAK erklärte auf Nachfrage, sie habe den umstrittenen Fragebogen zurückgezogen. Er werde überarbeitet.« Man kann schon auch was erreichen, wenn man es zu einem öffentlichen Thema macht und dagegen angeht.

An sich ein guter Tag für viele Pflegebedürftige und ihre Angehörige. Mehr Leistungen und – diskussionsbedürftige – Weichenstellungen. Gleichzeitig twittert der #Pflegestreik mit sich selbst

Mit einem umfassenden Reformanspruch geht das Pflegestärkungsgesetz II einher, das vom Bundeskabinett am heutigen Mittwoch angeschoben wurde. Mehr Hilfe für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen, so hat der Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe die Erläuterungen seines Ministeriums zur Pflegerform überschreiben lassen. Das Gesetz soll am 1. Januar 2016 in Kraft treten und es enthält auch den – gefühlt seit Jahrzehnten angekündigten – neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff, der mit einem neuen Begutachtungsverfahren zum 1. Januar 2017 kommen soll. Bereits Anfang 2015 wurde mit dem Ersten Pflegestärkungsgesetz die Unterstützung für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen ausgeweitet und jetzt wird noch mal was nachgelegt. Und keiner soll behaupten, es gehe hier um Peanuts: Insbesondere Menschen mit Demenz und psychischen Störungen eine bessere Pflege erhalten. Sie haben künftig Anspruch auf die gleichen Leistungen wie Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen. Die bislang drei Pflegestufen werden durch fünf Pflegegrade ersetzt. Bis zu 500.000 Menschen können nach Angaben des Ministers mittelfristig durch die Reform zusätzliche Unterstützung erhalten. Auch die pflegenden Angehörigen werden bedacht: »Wer für die Pflege aus dem Beruf aussteigt, erhält künftig von den Pflegekassen dauerhaft Beiträge zur Arbeitslosenversicherung. Bislang werden Beiträge nur während der maximal sechsmonatigen gesetzlichen Pflegezeit übernommen. Auch werden betreuenden Angehörigen in Zukunft höhere Ansprüche an die gesetzliche Rentenkasse gutgeschrieben«, kann man dem Artikel Bundeskabinett beschließt grundlegende Pflegereform entnehmen.

»Finanziert wird die zweite Stufe der Reform mit einer erneuten Anhebung des Beitragssatzes um 0,2 Beitragssatzpunkte zum 1. Januar 2017. Bereits zu Beginn dieses Jahres war er mit Inkrafttreten des ersten Pflegestärkungsgesetzes um 0,3 Punkte gestiegen. Beide Erhöhungen bringen zusammen rund fünf Milliarden Euro für zusätzliche Leistungen«, kann man dem Artikel Demenzkranke haben Anspruch auf höhere Leistungen entnehmen.

Es gibt auch kritische Stimmen: Zum großen Wurf hat es wieder nicht gereicht, kommentiert Wolfgang Prosinger. Neben den unbestreitbar positiven Aspekten der neuen Pflegereform identifiziert er die folgenden Schwachstellen:

»Die Entlastungen für die Angehörigen sind jedenfalls entschieden zu gering ausgefallen. Und eine Aufstockung des Personals für die stationäre oder ambulante Pflege ist ganz und gar nicht in Sicht … Auch das unsinnige, weil irreführende Bewertungssystem von Pflegeheimen ist nicht abgeschafft worden, genauso wenig wie das nicht gerade humane System der Pflege im Minutentakt. Ebenso wenig hat sich das Gesundheitsministerium an die Aufwertung des Berufs der Altenpfleger herangetraut. Aufwertung hieße auch bessere Bezahlung. Der physische und psychische Einsatz von Pflegern und deren beschämende Entlohnung stehen noch immer in einem krassen Missverhältnis zueinander.«

Damit spricht Prosinger tatsächlich einige diskussionsbedürftige Punkte an.

Nehmen wir die von vielen begrüßte Ankündigung, das bisherige System der Pflegestufen zu ersetzen durch ein System der Pflegegrade Bisher haben wir vier Pflegestufen (also eigentlich drei plus der so genannten „Pflegestufe 0“ bei Feststellung einer erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz (insbesondere Demenz). Das soll durch fünf Pflegegrade abgelöst werden. Zum neuen System und seinen Unterschieden zum Status Quo erfährt man vom Ministerium: »In Zukunft werden körperliche, geistige und psychische Einschränkungen gleichermaßen erfasst und in die  Einstufung einbezogen. Mit der Begutachtung wird der Grad der Selbstständigkeit in sechs verschiedenen Bereichen gemessen und – mit unterschiedlicher Gewichtung – zu einer Gesamtbewertung zusammengeführt.« Vereinfacht gesagt: „Gleichbehandlung“ der Einschränkungen und damit weg von der bisherigen Engführung auf einen rein somatischen Pflegebedürftigkeitsbegriff und zweitens weg von der Defizit- und hin zur Ressourcenorientierung („Grad der Selbständigkeit“). Das hört sich erst einmal gut an. Aber es lohnt sich, hier einmal genauer und durchaus auch kritisch hinzuschauen. Das Versprechen des neuen Systems lautet ja, dass es jetzt darum geht, die (noch verbliebene) Selbständigkeit zu taxieren und daran die Hilfeleistung zu taxieren.

Letztendlich ist das aber auch nur die andere Seite dessen, was bislang als „defizitorientierter“ Ansatz kritisiert wurde, denn es gilt: Das Begutachtungssystem wird auch in Zukunft die zentrale Aufgabe haben, Bedarfe und aus deren Grad abgeleitet dann die entsprechenden Hilfevolumina zuzuteilen (oder eben auch zu begrenzen oder zu verweigern). Und was soll jetzt wirklich anders sein als vorher? Die Einschränkungen und ihre Intensität lösen eine entsprechende Einstufung und damit verbundene Mittel aus.

Nur wenige Beiträge in der Pflegedebatte greifen diese Punkte kritisch-ablehend auf. Ein Beispiel wäre der Artikel Warnung vor dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff aus dem Pflege-Selbsthilfeverband. Dort findet man die folgenden Hinweise:

»Im Ergebnis hat dieser Ansatz jedoch den Effekt, dass sich jene finanziell belohnt sehen, die Pflegebedürftigkeit verstärken, hingegen andere bestraft sehen, die sich erfolgreich um Aktivierung und Wiedererlangung der Selbstständigkeit bemühen. Nach wie vor wird Pflege, die den Bedürftigen bedürftiger werden lässt besser bezahlt als solche die seine Selbstständigkeit fördert. Wie das alte, so wirkt auch das neue Verfahren entgegen der eigentlichen Zielsetzung des Pflegeversicherungsgesetztes: Es fördert den Pflegebedarf und behindert Prävention, Aktivierung und Rehabilitation.«

Und auch bei einem anderen Hoffnungspunkt wird in dem Artikel Wasser in den Wein gegossen – bei der Hoffnung, dass mit dem neuen Pflegebedürfigkeitsbegriff endlich die zerstörerische „Minutenpflege“ abgeschafft wird. Für das „aber“ an dieser Stelle wird ein ausgewiesener Pflege-Experte zitiert:

»Heinz Rothgang von der Universität Bremen … spricht von jähen Enttäuschungen, die vorprogrammiert seien. „Der Wissenschaftler räumte mit weiteren Mythen rund um den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff auf. So führe dieser nicht, wie vielfach erhofft, zur Abschaffung der so genannten Minutenpflege.“«

Viele kritische Stimmen heute in den Medien haben darauf hingewiesen, dass eines der drängendsten Probleme im Bereich der Pflege nicht adressiert wird mit der Gesetzgebung – der Personalmangel und die Frage, ob und wie es gelingen kann, ausreichend Fachkräfte für die Pflege zu gewinnen. Nun könnte man an dieser Stelle sehr viel empirisch gesichertes Material anführen, das zu einer Bestätigung der Skepsis beitragen würde.

Aber man kann es auch anders machen und lediglich einen Satz zitieren, der dem Artikel Wirtschaft sucht Arbeitskräfte: Diese Branchen hoffen auf die Flüchtlinge entnommen ist. »Die deutsche Wirtschaft sieht in dem Zustrom von Flüchtlingen vor allem Chancen: Viele Unternehmen wollen gut qualifizierte Asylbewerber einstellen – etwa als Bäcker oder Stuckateure. Wenn die Politik sie lässt«, können wir dort lesen. Und welche Branchen sich besondere Hoffnungen machen. Aus allen Ecken werden positive Erwartungen laut. Und dann am Ende des Artikels dieser eine Satz:

»Nur in den Pflegeberufen sind die Arbeitsbedingungen nach Ansicht des zuständigen Verbandes so schlecht, dass sie auch für Flüchtlinge unattraktiv seien.«

Den sollte man sich ausschneiden, um das in den Worten einer tradierten Arbeitstechnik zu benennen. Mehr muss man gar nicht sagen oder schreiben.

Und die Pflegekräfte selbst? Die machen tagaus tagein ihren Job, sie arbeiten oftmals unter skandalös schlechten Bedingungen. Wenn sie denn aufbegehren, dann erfolgt das eher im Modus der „Privatisierung“, also als individuelle Reaktion, beispielsweise durch Flucht aus dem Arbeitsfeld Pflege, durch Bemühungen, durch Aufstieg den Bedingungen an der Pflegefront zu entkommen, bei nicht wenigen anderen durch Krankheit und innerer Kapitulation.

Und ein Teil der Pflegekräfte twittert sich den Frust über die real existierenden Arbeitsbedingungen aus der Seele. Schon seit längerem – und heute war wieder so ein Höhepunkt – wird unter dem Hashtag #Pflegestreik versucht, zum einen auf die Bedingungen aufmerksam zu machen, zum anderen aber auch immer wieder daran zu erinnern, was wäre, wenn die Pflege mal streiken würde. Und viele wollen genau das, sie fordern ihn ein, den Pflegestreik.

Dann aber auch wieder aggressiv-empörte Reaktionen auf die wahrgenommene Nicht-Reaktion des Themas in den Medien und der Politik. Man wird einfach nicht gehört. Durchaus naheliegend die Vermutung: man wird nicht für voll genommen. Denn bei allen Problemen aus Sicht der Betroffenen – der Laden läuft doch (noch). Keine Ausfälle, keine katastrophalen Zustände aufgrund eines für die Öffentlichkeit offensichtlichen Personalmangels und wenn der mal an die Oberfläche kommt, dann kann man das als Einzelprobleme kleinschreddern.

In dieser Gemengelage könnte man durchaus zur der logischen Schlussfolgerung kommen, dass es dann wohl wirklich an der Zeit ist, durch einen echten Arbeitskampf der Welt zu zeigen, welche katastrophalen Auswirkungen ein Streik des Pflegepersonals hätte. Und im Prinzip hätten die Pflegekräfte eine gewaltige Schlagkraft bei einem flächendeckenden Streik, denn innerhalb kürzester Zeit würde in unserer Gesellschaft in Millionen von Familien vieles zusammenbrechen.
Im Prinzip heißt aber eben auch – nicht unbedingt in der Realität. Denn die Pflegekräfte sind durchaus mit zahlreichen analogen Rahmenbedingungen konfrontiert wie die Fachkräfte in den Kindertageseinrichtungen oder den Jugendämtern oder den Jugendhilfeeinrichtungen, die erst vor kurzem erste Erfahrungen sammeln konnten mit einem unbefristeten Streikversuch. Und letztendlich gescheitert sind, wenn man das aktuelle Desaster um den von den Gewerkschaftsmitgliedern mit großer Mehrheit abgelehnten, von der Gewerkschaftsspitze vorher bei den Verhandlungen aber durchgewunkenen Schlichterspruchs betrachtet und der leider erwartbaren Reaktivierung in Form punktueller, tageweiser Streiks, die den Arbeitgebern noch weniger weh tun werden als die mehrwöchigen Streikaktionen vor der Schlichtung. Irgendwann wird man das abbrechen.

Und die Pflege hat nicht nur vergleichbare Strukturprobleme wie die Sozial- und Erziehungsdienste, bei ihr sehen die noch krasser aus. Denn es handelt sich eben nicht um „klassische“ Streikmaßnahmen gegen Unternehmen, die die Streikfolgen unmittelbar und sofort zu spüren bekommen in der eigenen Schatulle. Anders ausgedrückt: Sowohl für Kitas wie auch für Pflegeeinrichtungen gilt der Tatbestand, dass man mit den Streiks die Eltern/Kinder bzw. die Pflegebedürftigen und deren Angehörige primär treffen würde, obgleich die Arbeitgeber gemeint sind. Die hingegen sind in einer wesentlich besseren Situation als privatwirtschaftliche Unternehmen, weil sie nur dann wirklich unter Druck geraten würden, wenn die gar nicht gemeinten, tatsächlich aber getroffenen Dritten ihre Wut gegen sie richten würden und nicht gegen die Streikenden.

Damit das nicht missverstanden wird – wenn man sich in der gegebenen Machtkonfiguration bewegt, dann wäre ein aufrüttelnder Arbeitskampf in der Pflege längst überfällig. Die berühmte „Eine-Million-Euro-Frage“ lautet hingegen: Wie bekommt einen solchen organisiert? Und wie verhindert man ein Desaster wie im Bereich der Sozial- und Erziehungsdienste. Das sind keine trivialen Fragen, aber sie müssen a) gestellt und b) bearbeitet werden. Denn das zeigen leider auch die Erfahrungen des Streiks der Sozial- und Erziehungsdienste: Wenn man das machen will oder meint zu müssen, dann hat man eigentlich nur einen Schuss frei und gerade deshalb sollte man sich vorher auf einer realistischen Basis klar sein darüber, wie man wieder raus kommen kann, wenn man irgendwo reingeht. Beispielsweise in einen Arbeitskampf.

Zwischen „ausgelaugter Gewerkschaft“ und dem Nachtreten derjenigen, die das Streikrecht schleifen wollen

Derzeit läuft in der Öffentlichkeit die Debatte über die
Bewertung der Ergebnisse der Mitgliederbefragungen zum Schlichterspruch im
Streik des Sozial- und Erziehungsdienstes. Sowohl bei ver.di wie auch bei der
GEW wurde der mit fast 70% abgelehnt – und das sorgt jetzt für viel Diskussion.

Pascal Beucker kommentiert in der taz mit Blick auf den Ende
September anstehenden Bundeskongress der Gewerkschaft ver.di, wo Frank Bsirske
für eine fünfte Amtszeit als Gewerkschaftschef kandidiert, sehr kritisch unter
der Überschrift Ausgelaugte
Gewerkschaft
: »Die aktuelle Verdi-Führung gibt eine schlechte Figur ab –
konzeptionslos und müde. Ein Neuanfang ist jedoch nicht in Sicht.«

Und weiter: »Das Motto des kommenden Verdi-Bundeskongresses soll
Optimismus verbreiten: „Stärke. Vielfalt. Zukunft.“ Ein Fall von Autosuggestion
… Um es deutlicher zu formulieren: Verdi befindet sich in einer veritablen
Krise. Das Führungspersonal um den Dauervorsitzenden Frank Bsirske, der seit
der Gründung von Verdi 2001 an der Spitze steht, und seine beiden
StellvertreterInnen Andrea Kocsis und Frank Werneke wirkt konzeptionslos und
ausgelaugt. Doch hoffnungsvolle Nachwuchskräfte, die an ihre Stelle treten
könnten, sind nicht in Sicht. Alle drei müssen nicht mal mit einer
Gegenkandidatur rechnen.«


Beucker trifft einen zentralen wunden Punkt, wenn er über
die eigentliche Notwendigkeit personeller Konsequenzen schreibt:

»Dafür spricht die dramatisch schlechte Figur, die die
Verdi-Spitze zuletzt in gleich zwei zentralen Arbeitskämpfen abgegeben hat: im
Tarifkonflikt im Sozial- und Erziehungsdienst und in der Auseinandersetzung bei
der Post. Das Ergebnis war das gleiche. In beiden Fällen hat die Führung ihre
Mitglieder in den unbefristeten Streik geführt – und ist dann jeweils zum
völligen Unverständnis ihrer kämpferischeren Basis vor den Arbeitgebern
eingeknickt.«

Er weist zudem darauf hin, dass hinter vorgehaltener Hand
spekuliert wird, dass der Gewerkschaftsspitze die Streikkosten, die auf 100
Mio. Euro geschätzt werden für die beiden großen Streiks, also bei der
Deutschen Post und den Sozial- und Erziehungsdiensten, schlichtweg zu teuer
geworden sind. Immerhin hat die Gewerkschaft ver.di allein in diesem Jahr bis
Juli 2015 nach Angaben von Bsirske auf einer Pressekonferenz am 10.08.2015 insgesamt
1,5 Mio. Streiktage bewältigen müssen. Die Ausführungen von Bsirske auf dieser
Pressekonferenz (vgl. dazu einen Ausschnitt als Video von Phoenix) sind
sehr aufschlussreich, weite Teile muss man werten als Versuch einer
Verteidigung gegen die durchaus naheliegende Überlegung, ob er nicht die
politische Verantwortung übernehmen sollte und müsste angesichts der
katastrophalen Bilanz der letzten großen Arbeitskämpfe (vgl. in diese Richtung
auch meinen Beitrag Die
Gewerkschaftsspitze allein zu Haus? Das Ergebnis der Mitgliederbefragung zum
Schlichtungsergebnis im Streik der Sozial- und Erziehungsdienste und das
„Fliegenfänger“-Problem der Verdi-Führungsebene
vom 8. August 2015).
Das sei – so Bsirske heute  gegenüber der
Presse– „völlig absurd“ und im übrigen bewertet er den völlig überhasteten
Abbruch des Streiks bei der Post als „absoluten Erfolg“ (vgl. hierzu aber
meinen Beitrag Das
Ende des Post-Streiks: Ein „umfassendes Sicherungspaket“ (für die,
die drin sind) und ein verlorener Kampf gegen die Billig-Post
vom 6. Juli
2015 mit einer ganz anderen Einschätzung). Man kann nur hoffen, dass sich die
Gewerkschaftsbasis gegen einen möglicherweise jetzt von oben verordneten Zustand
der organisationspolitischen Friedhofsruhe wehren wird.
Ganz anders hingegen muss diese Kommentierung gelesen werden
– und sie sollte aufmerksam gelesen werden von allen, die sich mit
gewerkschaftlichen Rechten, zu denen natürlich das Streikrecht gehört,
beschäftigen: Unter der sympathieheischenden Überschrift Verlierer
sind die Kinder
versucht Rainer Blasius in der FAZ zum einen, vor einer
Wiederaufnahme der Arbeitskampfmaßnahmen zu warnen (»Das alles wird auf dem
Rücken der Kinder ausgetragen, für die das Kita-Personal fürsorglich da sein
will«). Am Ende kommt er dann aber zum eigentlichen Anliegen – und man muss sich seine Formulierung in aller Ruhe zu Gemüte führen:

»Das unbotmäßige Verhalten der Gewerkschaften zeigt darüber
hinaus, dass das Streikrecht für öffentlich Tarifbeschäftigte neu geregelt
werden muss. Im Bereich der Daseinsvorsorge, zu dem Kitas zählen, müssen
Arbeitskämpfe eingeschränkt werden, damit das Wohl der Kleinsten besser
geschützt wird.«

Hier wird etwas offensiv vorangetrieben, was sich seit der
Debatte über den Lokführerstreik der GDL sowie den Arbeitskampfaktionen der
Pilotengewerkschaft Cockpit bei der Lufthansa immer stärker im politischen Raum
konturiert (vgl. dazu den Beitrag Bayern
legt nach. Das Streikrecht auf der Rutschbahn nach unten. Erst das
Tarifeinheitsgesetz und jetzt die Forderung nach „obligatorischen
Schlichtungsverfahren“ in der „Daseinsvorsorge“
vom 10. Juli
2015).
Wie es im Fall der Sozial- und Erziehungsdienste – es sei an
dieser Stelle erneut darauf hingewiesen, dass es sich nicht nur um einen
Aufwertungsstreik der Kita-Beschäftigten handelt, sondern auch die Fachkräfte
beispielsweise in der Jugend- und Behindertenhilfe betroffen sind, die bei der
Schlichtung übrigens völlig leer ausgegangen sind – nun weitergehen wird, kann
man naturgemäß zum jetzigen Zeitpunkt nur spekulieren. Verdi-Chef Bsirske hat
bereits „unkonventionelle Streikmaßnahmen“ in Aussicht gestellt, wenn die nun
folgenden Verhandlungen mit den kommunalen Arbeitgebern keine Verbesserung des
Schlichtungsergebnisses bringen sollten, was ja mehr als plausibel ist, denn
warum sollten sich die Arbeitgeber in irgendeiner Form bewegen? Die
Formulierung „unkonventionell“ kann darauf hindeuten, dass es keine
unbefristeten Streiks mehr geben wird in einzelnen Einrichtungen, sondern eher
tageweise Arbeitskampfmaßnahmen stattfinden werden. Vgl. dazu auch das Interview des Deutschlandunks mit Gabriele Schmidt, Landesvorsitzende von Verdi in Nordrhein-Westfalen: „Wir werden zu neuen Streikformen greifen“, wo man allerdings keine substanziellen Hinweise findet, was das denn sein kann – „unkonventionelle Streikformen“. Sie diagnostiziert nur, dass man bislang nicht wirklich hat durchdringen können:

»Wir haben jetzt am Wochenende beraten, dass wir mit der Streikstrategie, mit der wir angefangen haben, so nicht weiterkommen. Wir haben den Streik ja begonnen, haben dauerhaft aufgerufen. Das hat zum Ergebnis geführt, dass wir so keinen zufriedenstellenden Tarifkompromiss erreichen konnten.
Wir haben 2009 mit einer tageweisen Streikstrategie auch sehr lange gestreikt und haben festgestellt, das ist nicht die glücklichste Streikvariante, und wir haben am Wochenende diskutiert, dass wir andere Streikvarianten brauchen.«

Allerdings muss man sehen, dass die Rahmenbedingungen für
neue Arbeitskampfmaßnahmen nicht besser geworden sind – eher ist vom Gegenteil auszugehen.
Dass die anfängliche Sympathiewelle in den Medien und bei vielen Bürgern bei
einer zweiten Welle niedriger ausfallen wird, das muss man annehmen. Aber hinzu
kommen die weiterhin ungelösten strukturellen Dilemmata, mit denen der
berechtigte Aufwertungskampf der Sozial- und Erziehungsdienste konfrontiert
ist:
  • Zum einen handelt es sich um einen „arbeitgeberfreundlichen“
    Arbeitskampf, denn anders als ein Streik bei einem Automobilhersteller oder
    einem anderen „normalen“ Unternehmen werden die kommunalen Arbeitgeber nicht
    direkt getroffen, sondern primär die Eltern (und ihre Kinder). Der ansonsten
    mit einem Streik verbundene massive ökonomische Druck auf den Arbeitgeber ist
    somit ausgeschaltet bzw. wenn überhaupt, dann nur indirekt erfahrbar, wenn die
    primär Betroffenen den Druck auf die kommunal Verantwortlichen richten würden,
    nicht aber auf die Streikenden selbst, was aber bereits am Ende der
    Streikaktionen vor der Schlichtung zu erleben war.
  • Zum anderen werden sich die kommunalen Arbeitgeber aus zwei
    für sie durchaus substanziellen und in deren Binnenraum auch nachvollziehbaren
    Gründen nicht bewegen in Richtung auf größere, spürbare Verbesserungen im
    Vergleich zu dem, was der Schlichterspruch enthält. Zum einen muss hier das
    strukturelle Grundproblem der Fehlfinanzierung der Kita-Systeme in den
    Bundesländern angesprochen werden, also die Tatsache, dass der größten
    Kostenblock auf die Kommunen entfällt, während der Bund viel zu wenig an der
    Regelfinanzierung beteiligt ist. Solange das „föderale Finanzierungsdilemma“
    nicht aufgelöst wird in Richtung auf eine deutlich stärkerer anteilige
    Bundesfinanzierung an den laufenden Kosten der Kitas, die im Wesentlichen
    Personalkosten sind, wird sich an der Blockadehaltung der Kommunen, von denen
    sich viele in einer überaus prekären Haushaltslage befinden, nichts ändern
    (können). Zum anderen leisten die kommunalen Arbeitgeber auch deshalb so einen
    Widerstand gegen eine strukturelle Aufwertung der Sozial- und Erziehungsdienste
    im Tarifgefüge (denn darum geht es ja, nicht um eine „normale“ Tarifsteigerungsrunde),
    weil ein wirkliches Entgegenkommen hier zu schweren Verwerfungen im gesamten
    Tarifgefüge führen würde mit der plausiblen Folge, dass dann auch andere
    Berufsgruppen im öffentlichen Dienst eine entsprechende Anpassung einfordern
    werden.

Außerdem ist eine weitere Besonderheit zu berücksichtigen,
die pessimistisch stimmt: Die Streikaktionen können sich nur auf den Bereich
der kommunalen Kitas beziehen, allerdings sind fast zwei Drittel der
Kita-Plätze in Hand der „freien Träger“, wobei die beiden Kirchen die größten
Player darstellen. Und die dort beschäftigten Fachkräfte dürfen – auch wenn sie
es wollten – gar nicht streiken.

Fazit: Auch wenn man die Aufwertungsforderung absolut
unterstützt und eine entsprechende Bewegung nach oben nur wünschen mag, in der
Gesamtschau sieht die Lage überaus schwierig aus und die
Erfolgswahrscheinlichkeit geht eher gegen Null. Allerdings war das auch schon
Anfang des Jahres vor Beginn der unbefristeten Streikaktionen die bekannte
Ausgangslage und man muss zu dem Ergebnis kommen, dass die Führungsebene der
Gewerkschaft strategisch eine kapitale Fehleinschätzung an den Tag gelegt hat.
Wenn man irgendwo reingeht, sollte man vorher wissen, wie man wieder rauskommt,
lautet eine der fundamentalen Weisheiten im Militärgewerbe, die sich aber auch
auf Arbeitskämpfe übertragen lässt. Man kann nur hoffen, dass die
Gewerkschaften die Erfahrungen aus diesem Jahr gründlich reflektieren und
letztendlich sollte man auch deutliche Konsequenzen ziehen, allein schon
deshalb, weil ansonsten innerhalb der Gewerkschaften erhebliche Frustrations-
und Rückzugseffekte eintreten könnten und werden.

Zugleich sollte man denjenigen, die diese objektiv nur als
Niederlage zu bezeichnende Entwicklung nutzen wollen, um darauf aufbauend ihre
eigentlichen Ziele, also eine Einschränkung des Streikrechts im Bereich der
öffentlichen Dienstleistungen voranzutreiben (was man auch sehen muss im
Kontext mit der faktischen Einschränkung des Streikrechts für Berufs- und Spartengewerkschaften
im Gefolge des „Tarifeinheitsgesetzes“), die rote Karte zeigen. Im Interesse
aller Gewerkschaften.