Sie wächst und gedeiht, die Leiharbeit

Regelmäßig veröffentlich die Bundesagentur für Arbeit einen Bericht über die Lage der Leiharbeitsbranche – bei der BA als „Zeitarbeit“ tituliert. Die neuste Ausgabe von Aktuelle Entwicklungen der Zeitarbeit wurde nun im Juli 2017 publiziert. In der Zusammenfassung des neuen Berichts bilanziert die BA bekannte Strukturmerkmale:

»Im Jahr 2016 waren 991.000 Leiharbeitnehmer in Deutschland sozialversicherungspflichtig oder ausschließlich geringfügig beschäftigt. Der Anteil der Leiharbeitnehmer an der Gesamtbeschäftigung liegt bei knapp 3 Prozent. Mehr als jeder zweite Leiharbeiter übt eine Helfertätigkeit aus (bei allen Beschäftigten: jeder Fünfte). Die Mehrzahl der Zeitarbeitnehmer ist männlich und jünger. Personen ohne Berufsabschluss sind anteilig deutlich häufiger vertreten als bei den Beschäftigten insgesamt. Auch der Ausländeranteil ist in der Zeitarbeit höher. 15 Prozent der Zugänge in Arbeitslosigkeit aus Beschäftigung am ersten Arbeitsmarkt und 14 Prozent der Beschäftigungsaufnahmen erfolgen aus bzw. in die Zeitarbeitsbranche. Die Bruttoarbeitsentgelte in der Zeitarbeit liegen deutlich unter den im Durchschnitt über alle Branchen erzielten Entgelten.« (BA 2017: 4).

Markus Krüsemann hat sich die Zahlen der BA genauer angeschaut und in diesem Beitrag verarbeitet: Auch 2016 hohe Wachstumsdynamik bei der Leiharbeit. Darin berichtet er:

»In den Betrieben und Unternehmen der Überlassungsbranche haben die Sektkorken sicher längst schon geknallt, denn das vergangene Jahr bescherte ihnen erneut traumhafte Wachstumsraten, und mit einem Personalpool auf Rekordhöhe lassen sich auch 2017 sicher wieder satte Gewinne einfahren. Hatten die Branchenführer noch im Mai 2016 nur „ein minimales Marktwachstum von 2,9 Prozent“ für 2016 erwartet, so mussten sie die im Januar 2017 veröffentlichten Zahlen aus der Bundesagentur für Arbeit für das erste Halbjahr 2016 schon optimistischer gestimmt haben. Mit einem dort ausgewiesenen Beschäftigungswachstum von 4,6 Prozent (gegenüber der ersten Jahreshälfte 2015) und einem Juni-Rekordwert von über eine Mio. LeiharbeiterInnen blieben die Anbieter klar auf dem seit Mitte 2013 eingeschlagenen Wachstumskurs …

Die gestern von der Bundesagentur für Arbeit (BA) vorgelegten Zahlen zeugen von einem auch im zweiten Halbjahr 2016 anhaltenden Boom. So lag die Zahl der Leiharbeitsbeschäftigten Ende Dezember bei knapp 993.000, das sind gut 42.000 mehr Leihkräfte als im Vorjahresmonat. Das Plus von 4,4 Prozent reichte jedenfalls für den höchsten bislang gemessenen Dezemberwert.«

Krüsemann weist ausdrücklich darauf hin, dass man die Dynamik der Leiharbeitsbranche auch daran erkennen kann, dass sie in einem Umfeld wachsender regulärer sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung stattfindet – und deren Wachstumsraten dennoch übersteigt:

»Die Verleiher konnten mit dem insgesamt anziehenden Wachstum der Beschäftigung nicht nur Schritt halten, sondern überdurchschnittliche Steigerungsraten erzielen. Während die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten (Teil- und Vollzeit) zwischen 2013 und 2016 um nie mehr als 2,5 Prozent zulegen konnte, wartet die Beschäftigung in der Leiharbeit mit beeindruckenden halbjährlichen Wachstumsraten zwischen 3,5 und 7,6 Prozent auf.«

Der neue BA-Bericht Aktuelle Entwicklungen der Zeitarbeit enthält noch viele weitere hilfreiche Informationen über diese Branche, nicht nur die Beschäftigtenzahlen, sondern auch Daten zu den Beschäftigungsdauern oder den Entgelten.

Interessant und mit dem Anspruch möglichst großer Ausgewogenheit in Richtung auf Kritiker und Fans der Leiharbeit sind die Schlussbemerkungen im BA-Bericht (S. 23):

»Zeitarbeit ist eine feste Größe auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Die flexible Beschäftigung von Arbeitnehmern ermöglicht es den Unternehmen, ihren Personalbedarf zügig an Auftragsschwankungen anzupassen. Daher ist die Leiharbeit im Vergleich zu anderen Branchen auch durch eine überdurchschnittlich hohe Dynamik und Fluktuation gekennzeichnet: Beschäftigungsverhältnisse werden häufiger geschlossen bzw. beendet, die durchschnittliche Beschäftigungsdauer ist deutlich kürzer.

Für die Leiharbeitnehmer geht die große Flexibilität der Arbeitnehmerüberlassung mit Risiken, wie einem erhöhten Risiko aus Beschäftigung heraus arbeitslos zu werden, einher. Andererseits bietet die Zeitarbeit Beschäftigungschancen für Menschen, die aufgrund einer vergleichsweise großen Arbeitsmarktferne – beispielsweise aufgrund niedriger formaler Qualifikationen oder Phasen von Nichterwerbstätigkeit – bei der Beschäftigungssuche Probleme haben.«

Die Befürworter der Leiharbeiter weisen immer wieder auf die auch von der BA angesprochene „Chancen-Dimension“ der Leiharbeit gerade für diejenigen Arbeitnehmer hin, die ansonsten Schwierigkeiten haben, auf dem „normalen“ Arbeitsmarkt Fuß fassen zu können.

Das hat auch Auswirkungen da, wo arbeitslose Menschen aufschlagen: In den Arbeitsagenturen und Jobcentern. Beispiel: Jede dritte Vermittlung der Arbeitsagentur führt in Leiharbeit: »2016 führte jede dritte Vermittlung der Bundesagentur für Arbeit (BA) Arbeitslose in Leiharbeit. Zudem wurden 5 Prozent dieser Vermittlungen von der BA finanziell bezuschusst.« Die Zahlen basieren auf der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen.
Die Entwicklung war in den letzten Jahren rückläufig und es werden anteilig etwas weniger Arbeitslose in Leiharbeit vermittelt, was natürlich auch und vor allem damit zu tun hat, dass aufgrund der Arbeitsmarktentwicklung der eine oder die andere jetzt Chancen auf eine „normale“ Anstellung hat, die früher gezwungen waren, in die Leiharbeit zu gehen.

Für die Arbeitslosen in den Agenturen und Jobcentern hat die Leiharbeit noch an einer anderen Stelle große Bedeutung – bei den Stellenangeboten der BA selbst: So entfallen immer noch fast ein Drittel der offenen Stellen bei den Arbeitsagenturen und Jobcentern auf die Leiharbeitsbranche. Die regionalen Unterschiede sind dabei erheblich. In manchen Gegenden ist jedes zweite Stellenangebot ein Leiharbeitsverhältnis – diese Zahlen müssen vor dem Hintergrund gesehen werden, dass der Anteil der Leiharbeit an der Gesamtbeschäftigung bei gut 3 Prozent liegt.

Aus der aktuellen Berichterstattung dazu beispielsweise dieser Artikel von Jan-Dirk Franke: Ein Drittel der offenen Stellen in Sachsen kommt aus Leiharbeit: » Mehr als jede dritte bei den Arbeitsagenturen im Freistaat gemeldete offene Stelle (35 Prozent) kommt aus der sogenannten Arbeitnehmerüberlassung. Der Anteil ist in den letzten Jahren gestiegen, im Jahr 2011 lag er noch bei 27 Prozent, wie Zahlen der Bundesagentur für Arbeit (BA) belegen.« Am Ende des Beitrags findet sich allerdings ein einschränkender Hinweis auf die Aussagekraft der Anteilswerte seitens der BA selbst: Öfters meldeten verschiedene Zeitarbeitsfirmen freie Stellen für ein und denselben Entleiher. Dadurch kann es zu Doppel- und Mehrfachmeldungen kommen. Man sollte an dieser Stelle die BA ergänzen: Oftmals melden die Leiharbeitsfirmen auch deutlich mehr offene Stellen, als sie haben. Zum einen wohl wissend, dass sie die sowieso nicht besetzt bekommen, zum anderen aber auch, weil sie vor allem an die Profile potenziell geeigneter Arbeitsloser kommen wollen.

Die enorme regionale Varianz bei den Anteilswerten verweist darauf, dass natürlich auch die Branchenentwicklung regional ganz erheblich divergieren kann. Gleichsam als Negativbeispiel kann man Bremen anführen, vgl. dazu beispielsweise den Deutschlandfunk-Beitrag Leben wie ein Tagelöhner – Bremen ist Hauptstadt der Leiharbeiter: »Der Anteil der Leih- beziehungsweise Zeitarbeiter ist nirgends so hoch wie in dem kleinen Stadtstaat Bremen. Vor fünf Jahren lag er bei ungefähr fünf Prozent. Tendenz steigend. Bislang ist es nicht gelungen, die Leiharbeit einzudämmen. Stattdessen nimmt die Zahl der prekären Jobs weiter zu.«

Die offensichtlich trotz der angeblich existenzbedrohenden Regulierung seitens der Politik florierende und expandierende Branche hat mittlerweile erhebliche Probleme, genügend Arbeitskräfte für die Aufträge zu rekrutieren. Da überrascht es nicht, dass sie Ausschau hält nach neuen Quellen für die Rekrutierung von Leiharbeitern. Dass man dabei ein Auge auf die Flüchtlinge geworfen hat, überrascht dann auch nicht mehr – vgl. dazu ausführlicher die Darstellung in dem Beitrag Bleiben sie länger fern oder kommen sie an? Flüchtlinge und der Arbeitsmarkt. Und die scheinbar besondere Rolle der Leiharbeit vom 21. Juli 2017.

Das wird dann in Teilen der Medienberichterstattung unterfüttert mit solchen Berichten: Vom Flüchtling zum Zeitarbeiter: »Die gescholtene Zeitarbeitsbranche wird für immer mehr Geflüchtete zum Tor in den Arbeitsmarkt. Einer von ihnen ist Maher Younes. Weil es mit dem Elektriker so gut läuft, stellt sein Arbeitgeber weitere Flüchtlinge ein«, so Harald Schumacher in seinem Artikel.

Die BA selbst schreibt in ihrem Bericht zum Thema Entgelte (S. 19): »Die erzielten Bruttoarbeitsentgelte von Leiharbeitnehmern sind unterdurchschnittlich … Sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigte der Kerngruppe erhielten im Jahr 2016 im Mittel (Median) ein monatliches Bruttoarbeitsentgelt von 3.133 €. Der mittlere Verdienst der Leiharbeitnehmer war mit 1.816 € um 42 Prozent niedriger. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass sich die Beschäftigungsstruktur in der Arbeitnehmerüberlassung von der der Beschäftigten insgesamt merklich unterscheidet. So übt in der Zeitarbeit gut die Hälfte aller Vollzeitbeschäftigten (ohne Auszubildende) eine Helfertätigkeit aus (54 Prozent; Beschäftigte insgesamt 12 Prozent), die generell mit einer niedrigeren Entlohnung verbunden ist. Die mit überdurchschnittlichen Verdiensten verbundenen Spezialisten- und Expertentätigkeiten kommen in der Arbeitnehmerüberlassung hingegen vergleichsweise selten vor.«

Aber auch, wenn man das berücksichtigt und einen Blick auf das gleiche Qualifikationsniveau wirft, zeigen sich erhebliche Verdienstunterschiede. So bekommen Leiharbeiter im wichtigen Helferbereich 28 Prozent weniger als Helfer, die nicht über Leiharbeit beschäftigt sind.

Ein „Gedenktag“ für den gebeutelten Steuerzahler? An sich unsinnig und dann auch noch kalendarisch aufgeblasen

»Steuern sind eine Last oder gar existenziell bedrohlich, sie bestrafen den Bürger, er wird gemolken oder gejagt, und wenn er kein Schlupfloch findet, all dem im eigenen Land zu entkommen, so muss er fliehen, in eine Oase oder ins Asyl – so oder ähnlich denken wir über Steuern. Zumindest spiegelt das unser Sprachgebrauch wider. Der Frame von Steuern als bedrohliche Einschränkung der individuellen Freiheit wird durch eine ganze Heerschar von Metaphern erweckt. Einige muten zunächst vielleicht unverfänglich an oder so überzogen, dass sie nicht ernst gemeint sein können. Und doch spiegeln alle eine Denkweise über Steuern wider, die uns zumindest nachdenklich werden lassen sollte.« So Elisabeth Wehling in ihrem Beitrag Von viel Leid und wenig Freud. Reden über Steuern. Zu diesen Erzählungen, dessen Wirkkraft man nicht unterschätzen sollte, zählt der „Steuerzahlergedenktag“, der schon von der Begrifflichkeit ein echtes Trauerspiel verspricht. So platzierte der Bund der Steuerzahler (BdSt) diese Meldung: Von 1 Euro bleiben nur 45,4 Cent: »Der Steuerzahlergedenktag 2017 ist am Mittwoch, den 19. Juli. Nach Berechnungen des Bundes der Steuerzahler (BdSt) arbeiten die Bürger und Betriebe ab 03:27 Uhr wieder für ihr eigenes Portemonnaie. Das gesamte Einkommen, das die Steuer- und Beitragszahler vor diesem Datum erwirtschaftet haben, wurde rein rechnerisch an den Staat abgeführt. Damit liegt die Volkswirtschaftliche Einkommensbelastungsquote im Jahr 2017 bei voraussichtlich 54,6 Prozent – diese Quote ist so hoch wie noch nie! Von jedem verdienten Euro bleiben also nur 45,4 Cent zur freien Verfügung übrig.« Viele Medien haben das aufgegriffen und übernommen. Der gierige Staat nimmt den rechtschaffenen Bürgern das hart erarbeitete Geld weg und verschwendet es, so die naheliegenden Assoziationen, die vielen durch den Kopf gehen. Wenn es denn stimmen würde.

Aber Gott sei es gedankt gibt es Wissenschaftler, die noch rechnen können. Und die mal nachgerechnet haben, ob das eigentlich stimmt mit diesem „Steuerzahlerdenktag“. Zu dieser Kategorie gehört Stefan Bach vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. Sein Urteil in der kompakten Variante: »Wie jedes Jahr ruft der Bund der Steuerzahler auch jetzt seinen Gedenktag aus. Die Berechnung allerdings ist falsch und nichts anderes als vulgärökonomischer Populismus.« Das begründet er in seinem Beitrag Die Tea Party lässt grüßen.

Das Konzept des Steuerzahlergedenktags ist verkorkst und geht in weiten Teilen von falschen Annahmen aus, meint Stefan Bach. Der Gang seiner Argumentation:

»Um seinen Gedenktag zu ermitteln, berechnet der Bund der Steuerzahler eine sogenannte Einkommensbelastungsquote. Dazu werden die gesamten Steuern und Abgaben ins Verhältnis zum Volkseinkommen gesetzt – also die Summe aller Löhne, Gewinne und Vermögenseinkommen. Diese Belastungsquote liegt für das Jahr 2017 bei 54,6 Prozent – „die höchste Quote, die wir in der Bundesrepublik je gehabt haben“, sagt der Präsident des Bundes der Steuerzahler, Reiner Holznagel.«

Auf dieser Grundlage ist man auf den heutigen 19. Juli gekommen. Aber, so der erste Einwand:

»Das Volkseinkommen ist die falsche Bezugsgröße. Denn bei der Berechnung dieser Größe sind die indirekten Steuern schon abgezogen – also die Mehrwertsteuer, die Verbrauchsteuern und die Grundsteuern. In den vergangenen Jahrzehnten wurden die Mehrwertsteuer und die Ökosteuern beträchtlich erhöht und im Gegenzug die Einkommensteuer und die Sozialbeiträge gesenkt. Auch wenn sich insoweit die gesamten Staatseinnahmen gar nicht erhöht haben, bedeutet das für die Berechnung des Steuerzahlerbundes: Das Volkseinkommen ist gesunken und die Belastungsquote somit gestiegen.«

Und nun geht es den Kalender rückwärts. Hätte der Steuerzahlerbund stattdessen das Nettonationaleinkommen genommen – da sind die indirekten Steuern noch nicht abgezogen -, dann »läge die Belastungsquote für das laufende Jahr nur noch bei 48,3 Prozent und der Steuerzahlergedenktag wäre schon am 25. Juni gewesen.« Aber dabei bleibt Bach nicht hängen:

»Zweiter dicker Rechenfehler: Sozialabgaben sind keine Steuern. Zu großen Teilen sind sie Versicherungsbeiträge, die private Vorsorge ersetzen. Den Beiträgen heute stehen Leistungen in der Zukunft gegenüber, denn wer beispielsweise mehr in die Rentenkasse einzahlt, bekommt im Alter eine höhere Rente. Allerdings wird in den Sozialkassen auch viel umverteilt, siehe Mütterrente oder Rente mit 65, und bei der Kranken- und Pflegekasse zahlt man auf sein Bruttoeinkommen, obwohl jeder die gleichen Leistungen bekommt.

Nimmt man deshalb vereinfachend an, dass die Sozialbeiträge nur zur einen Hälfte Steuern sind und zur anderen Hälfte Versicherungsbeiträge, dann liegt die gesamtwirtschaftliche Belastungsquote bezogen auf das Nettonationaleinkommen nur noch bei 38,9 Prozent – der Steuerzahlergedenktag wäre schon am 22. Mai gewesen.«

Aber auch hier ist noch nicht Schluss: »Der Staat zahlt auch Steuern an sich selbst – Mehrwertsteuer auf seine Einkäufe und Investitionen, Ökosteuer auf seinen Energieverbrauch, Kfz-Steuer für seine Fahrzeuge, Grundsteuer für seine Immobilien oder Unternehmen- und Einkommensteuern auf seine Kapitalerträge. Hier kommen schätzungsweise 50 Milliarden Euro im Jahr zusammen. Zieht man die vom Steueraufkommen ab, liegt die Steuerbelastungsquote nur noch bei 37,1 Prozent – der Steuerzahlergedenktag wäre schon am 15. Mai gewesen.«

Wie heißt es so schön im Volksmund – einer geht noch. Und einen weiteren Punkt hat Bach noch vorzutragen – er argumentiert volkswirtschaftlich, denn die Zahlung von Abgaben ist ja keine Einbahnstraße (was aber die Skandalisierungsversuche des Steuerzahlerbundes suggerieren – weggenommen und versenkt): »Steuern und Sozialbeiträge sind das Geld der Gesellschaft. Damit finanziert der Staat die öffentlichen Güter und Leistungen, die für das Funktionieren einer modernen Volkswirtschaft und den sozialen Ausgleich unabdingbar sind. Insoweit bekommen Bürger und Unternehmen das Geld wieder zurück.«

Stefan Bach verkennt nicht die unbestreitbare Tatsache, dass es viele Reibungsverluste und Ineffizienzen des staatlichen Handelns gibt (wie übrigens in der profitorientierten Privatwirtschaft auch). Vor diesem Hintergrund kalkuliert Bach so:

»Diese staatlichen Effizienzreserven zu messen ist methodisch schwierig – aber mehr als zehn Prozent der gesamtwirtschaftlichen Einkommen machen sie sicher nicht aus.«

Wenn man so rechnet, dann läßt sich mit Bach das folgende Fazit ziehen: »Der wirkliche Steuerzahlergedenktag liegt also spätestens Anfang Februar. Das ist noch vor Karneval und Fasching. Helau und alaaf!«

Und noch eine Anmerkung zum skandalisierenden und effektheischende Getöse, dass die Belastungsquote „so hoch wie noch nie“ sei. Ein Blick auf die Abgabenquoten seit 1960 relativiert das doch ganz erheblich. Was aber auch diese Gesamtdarstellung verwischt sind die erheblichen Streuungen, die wir auf der Ebene der einzelnen Haushalte und deren Belastungsprofile haben. Und da wäre ein genauerer Blick auf die Verschiebungen zwischen einzelnen Belastungsarten im komplexen System der Steuern und Sozialabgaben und deren Verteilungswirkungen relevant und übrigens weitaus aufschlussreicher als die Konstruktion eines imaginären deutschen Abgabenbelasteten, den es so gar nicht geben kann. Wenn man da genauer hinschaut, dann zeigen sich erhebliche Verwerfungen, die auch sozialpolitisch brisant sind. Dazu genauer beispielsweise mein Beitrag Der Mythos vom (stark) progressiven deutschen Steuersystem. Darin findet man diese Argumentation:

Die starken Schultern müssen eine höhere Last tragen als die ökonomisch schwachen Haushalte. Zu diesem Zweck gibt es die Progression in den Steuertarifen – und außerdem werden die unteren Einkommen entweder vollständig oder zumindest anteilig von der Besteuerung ausgenommen.
Auf den ersten Blick scheint dieses Prinzip in der deutschen Steuerpolitik auch tatsächlich zu greifen. Die Einkommens- und Unternehmenssteuern sind hierzulande stark progressiv: Geringverdiener müssen aufgrund von Freibeträgen nichts zahlen, in der Mitte der Verteilung beträgt die Belastung nur rund 5%, beim obersten Zehntel steigt sie auf 25% und beim Top-Prozent auf 35% der Bruttohaushaltseinkommen. Deshalb und wegen der großen Einkommensunterschiede kommt die ärmere Hälfte der Haushalte lediglich für knapp 4% der Einnahmen aus der Einkommensteuer auf, während auf das reichste Zehntel 59% und auf das reichste Hundertstel 26% entfallen. So weit, so gut.

Nur eine Anmerkung zu der ja immer wieder vorgetragenen Argumentation, dass die Reichen ganz besonders durch die Progression im System der direkten Steuern belastet werden: Dabei sollte nicht außer Acht gelassen werden, „dass die vorliegenden Daten die Steuerprogression bei sehr Reichen überzeichnen“, wie es in der Studie weiter heißt. So würden viele größere Familienunternehmer oder Superreiche einen Großteil ihrer Jahreseinkommen in den Unternehmen stehen lassen oder in Holdinggesellschaften, Stiftungen oder „familiy offices“ thesaurieren. „Würde man diese einbehaltenen Gewinne berücksichtigen, auf die nur Unternehmenssteuern gezahlt werden, läge die effektive Einkommensteuerbelastung des reichsten Prozents der Steuerpflichtigen wohl deutlich niedriger“ (vgl. dazu die Studie Wer trägt die Steuerlast in Deutschland? Steuerbelastung nur schwach progressiv von Stefan Bach, Martin Beznoska und Viktor Steiner).

Bei genauerer Betrachtung ist das deutsche Steuersystem allerdings bei weitem nicht so progressiv, wie es zunächst scheint. Denn um die tatsächliche Belastung der Haushalte zu messen, darf man nicht nur die direkten Steuern wie etwa die Einkommenssteuer betrachten, sondern muss zusätzlich auch die sogenannten indirekten Steuern berücksichtigen, zu denen beispielsweise die Mehrwert-, die Kfz- oder die Tabaksteuer gehören. Diese indirekten Steuern machen knapp die Hälfte des gesamten Steueraufkommens in Deutschland aus.

Und es gibt noch einen weiteren Faktor, der bei der Ermittlung der Gesamtbelastung berücksichtigt werden muss: die Sozialbeiträge.

Man kann zeigen, dass in den unteren Einkommensschichten die Verteilungswirkung von direkten und indirekten Steuern sogar regressiv ist.

Dass das deutsche Steuersystem überhaupt etwas Progressives hat, ist den Sozialbeiträgen geschuldet: Die Abgaben für die Gesundheitsversorgung, Rentenbeiträge etc. fallen in den mittleren Einkommensschichten proportional höher aus als in den unteren und oberen Schichten der Einkommenspyramide.

Und die Studie von Bach/Beznoska/Steiner (2016) liefert einen interessanten Hinweis auf die realen Umverteilungen der zurückliegenden Jahre – und zwar von unten nach oben: So ist das ärmste Zehntel zwischen 1998 und 2015 um 5,4% des Bruttoeinkommens mehrbelastet worden, wogegen das reichste Zehntel um 2,3% entlastet wurde, das reichste Hundertstel sogar um 4,8%.
Fazit: In den letzten zwei Jahrzehnten haben Besserverdiener also von den Reformen bei der Einkommenssteuer profitiert, während weniger gut betuchte Haushalte von den Anhebungen der Mehrwertsteuer und der Energiesteuern eindeutig negativ betroffen waren. Die viel zitierten „starken Schultern“ durften sich also über eine politische Lockerungsmassage freuen – aus verteilungspolitischer Sicht ist das allerdings ein ernüchternder Befund.

So was allerdings will der Bund der Steuerzahler am konstruierten „Steuergedenktag“ 2017 dann lieber nicht hören.

David und Goliath in der Welt der Krankenversicherungsleistungen. Teilweise erhebliche Unterschiede bei Leistungsbewilligungen und -ablehnungen

Es ist ein Wesensmerkmal der meisten sozialpolitischen Bereiche, dass es eine große Asymmetrie gibt zwischen denen, die auf Leistungen angewiesen sind und diese in Anspruch nehmen wollen bzw. müssen, und den großen Sozialleistungsträgern, die eben nicht nur als Dienstleistungsscharnier fungieren, sondern nach ganz eigenen und seit vielen Jahren zunehmend auch betriebswirtschaftlichen Steuerungsvorgaben arbeiten (müssen). Und neben der berechtigten Abwehr von Leistungsmissbrauch (und damit Schädigung der Solidargemeinschaft) kann es gerade dann, wenn die Träger im Wettbewerb stehen und Kosten „drücken“ müssen, dazu kommen, dass man versucht ist, auch berechtigte Leistungserwartungen der Mitglieder oder „Kunden“, wie die heute so oft genant werden, zu verweigern oder zumindest den Zugang zu erschweren. Nun wird sich das angedeutete Spannungsverhältnis zwischen den beiden Seiten niemals vollständig auflösen lassen, aber gerade bei sozialpolitischen Leistungen, die ja oftmals von existenzieller Bedeutung sind, ist es wichtig, dass man genau hinschaut, wenn David (der einzelne Versicherte, Patient, Klient) auf Goliath (die großen Krankenkassen, die Jobcenter, die Jugendämter usw.) trifft, denn die Kräfteverhältnisse sind hier immer ungleich verteilt und die vielen Kleinen benötigen Schutz vor immer möglicher administrativer Willkür.

Im Bereich der Krankenkassen geht es nicht nur um das laut Umfragen „höchste Gut“ der Menschen, also Gesundheit bzw. dessen Infragestellung durch Unfall oder Erkrankung, sondern auch um eine wahrhaft unüberschaubare Vielzahl von Leistungen. Im Krankenhaus operiert zu werden oder vom niedergelassenen Vertragsarzt Medikamente verordnet zu bekommen – das fällt den meisten Menschen sicher sofort ein, wenn es um das Leistungsspektrum der Krankenkassen geht. Aber da gibt es noch zahlreiche andere Leistungen – von den Heil- und Hilfsmitteln, den Vorsorge- und Rehamaßnahmen, häusliche Krankenpflege und vieles mehr. Und gerade in diesen Bereichen wird immer wieder auch in den Medien von Ablehnungen, Verweigerungen, Hinhalte-Taktiken der Krankenkassen gegenüber einzelnen Versicherten berichtet. Nur stellt sich dann immer auch die Frage, ob es sich hierbei um bedauernswerte Einzelfälle handelt oder ob das öfter vorkommt und vielleicht sogar einem Muster folgt.

Auch den Patientenbeauftragten der Bundesregierung bewegt dieses Thema – schon allein deshalb, weil bei ihm natürlich viele Fälle landen, wo ein David aus der Masse der Versicherten Beschwerde führt gegen einen Goliath der Krankenversicherungswelt. Also wollte man von dort aus mehr wissen.

»Das Thema Leistungsbewilligungen und -ablehnungen durch gesetzliche Krankenkassen steht immer wieder im Fokus der öffentlichen Diskussion. Aus den Beschwerden von Versicherten bei der Geschäftsstelle des Patientenbeauftragten geht hervor, dass viele Betroffene eine Leistungsablehnung oftmals nicht nachvollziehen können, auch wenn sich die Entscheidungen der Krankenkassen im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften des SGB V begründen lassen. Des Weiteren wird vielfach – insbesondere von Seiten der Patientenorganisationen – kritisiert, dass Krankenkassen die beantragten Leistungen von Patientinnen und Patienten verspätet, pauschal und ohne Einzelfallprüfung ablehnen würden«, so heißt es in der Ausgangsbeschreibung für eine Studie, die man dann in Auftrag gegeben hat.
Da bezüglich der Anzahl der Leistungsbewilligungen und -ablehnungen – mit der Ausnahme der sog. KG 5- Statistik des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) für den Bereich der Vorsorge- und Rehabilitationsmaßnahmen – keine amtlichen Statistiken zu Verfügung stehen, sollte anhand einer empirischen Analyse ein neutraler und sachlicher Überblick über die Leistungsbewilligungen und -ablehnungen der gesetzlichen Krankenkassen erstellt werden.

Dabei geht es um diese wichtigen Fragen:

1) Wie häufig werden Leistungsanträge von den Krankenkassen bewilligt bzw. abgelehnt? Welche Leistungsbereiche sind häufig von Ablehnungen betroffen?
2) Wie und in welchem Umfang werden die Versicherten über die Gründe für eine Bewilligung bzw. Ablehnung eines Leistungsantrags informiert? Wie verständlich sind diese Informationen für die Versicherten?
3) Wie häufig kommt es zu Fristüberschreitungen nach § 13 Abs. 3a SGB V? Wie sind die Versicherten über die Regelungen des § 13 Abs. 3a SGB V informiert?
4) Wie häufig kommt es zu Widersprüchen oder Klagen? Wie erfolgreich sind Widersprüche und Klagen?

Herausgekommen ist diese Ausarbeitung:

Monika Sander, Martin Albrecht, Verena Stengel, Meilin Möllenkamp, Stefan Loos und Gerhard Igl (2017): Leistungsbewilligungen und -ablehnungen durch Krankenkassen. Studie für den Beauftragten der Bundesregierung für die Belange der Patientinnen und Patienten sowie Bevollmächtigten für Pflege, Berlin: IGES Institut, Juni 2017.

Es gibt auch eine Kurzfassung der Studie.

Susanne Werner hat ihren Artikel zu den Ergebnissen der Studie so überschrieben: Rätselhafte Vielfalt bei den Leistungen: Ob eine Leistung bewilligt wird oder nicht, hängt laut einer aktuellen Studie ganz erheblich von der Kasse ab. Über alle Leistungsbereiche hinweg lehnen die Kassen im Durchschnitt 5,2 Prozent der beantragten Leistungen ab. Einzelne Leistungsbereiche aber fallen durch besonders viele Absagen auf. Beispielsweise zeigen sich die Kassen auch bei den stationären Präventionsleistungen wie etwa Vorsorgekuren oder Mutter-Vater-Kind-Angeboten zugeknöpft. Etwa jedem dritten Antrag auf eine entsprechende präventive Maßnahme wurde 2015 eine Absage erteilt.

Als die Ergebnisse der Studie veröffentlicht wurden, fand der Patientenbeauftragte – mittlerweile als Gesundheits- und Arbeitsminister in die neue nordrhein-westfälische Landesregierung gewechselt – deutliche Worte: Neue Studie zur Bewilligung von Leistungsanträgen. Staatssekretär Laumann kritisiert gravierende Unterschiede zwischen Leistungsbereichen und Krankenkassen:

»Die Studie zeigt insbesondere, dass es bei der Bewilligung und Ablehnung von Leistungsanträgen teils erhebliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Leistungsbereichen und den unterschiedlichen gesetzlichen Krankenkassen gibt. Nach Ansicht von Staatssekretär Laumann sind diese Unterschiede größtenteils nicht nachvollziehbar und gehören unverzüglich abgestellt.«

 Das muss man mit Zahlen belegen können, also lesen wir weiter:

»So wird beispielsweise bei den Leistungen im Bereich der Vorsorge und Rehabilitation im Durchschnitt fast jeder fünfte Antrag (18,4 Prozent) von den Krankenkassen abgelehnt. Die Spannbreite der Ablehnungsquoten der einzelnen Krankenkassenarten liegt dabei zwischen 8,4 und 19,4 Prozent. Gegen rund jede vierte Leistungsablehnung in dem Versorgungsbereich wird Widerspruch eingelegt (24,7 Prozent). Und weit mehr als jeder zweite eingelegte Widerspruch (56,4 Prozent) ist erfolgreich oder zumindest teilweise erfolgreich, indem der Antrag schließlich doch wie beantragt oder mit anderer Leistung bewilligt wird. Bei der medizinischen Vorsorge für Mütter und Väter trifft das sogar auf sage und schreibe fast drei von vier Widersprüchen zu (72,0 Prozent).«
Man sollte an dieser Stelle mit Blick auf den Klageweg zur Sozialgerichtsbarkeit auf die Größenordnung hinweisen: 46.000 Streitfälle aus dem Bereich der Krankenversicherung wurden von deutschen Sozialgerichten verhandelt. Dabei hatte jede vierte Klage Erfolg.

Die Schlussfolgerungen von Laumann aus den nun vorliegenden Studienergebnissen werden von ihm so auf den Punkt gebracht:

„Wenn – wie bei den Leistungsanträgen zur Vorsorge und Rehabilitation – weit mehr als jeder zweite Widerspruch erfolgreich ist, kann bei der Bewilligungspraxis etwas nicht stimmen. Es ist auch nicht zu erklären, wieso die Ablehnungsquoten bei Anträgen auf Hilfsmittel für chronische Wunden zwischen den einzelnen Krankenkassen zwischen 3,8 und 54,7 Prozent regelrecht auseinanderklaffen. Die Krankenkassen dürfen erst gar nicht den Verdacht aufkommen lassen, dass sie bestimmte Leistungen zunächst einmal systematisch ablehnen, obwohl die Menschen einen klaren gesetzlichen Anspruch darauf haben. Das untergräbt massiv das Vertrauen in die Krankenkassen.“

Kritik ist das eine – und sie ist offensichtlich angebracht. Aber welche gesundheitspolitischen Schlussfolgerungen kann und muss man daraus ziehen? Dazu der bisherige Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Karl-Josef Laumann, durchaus konkret:

„Vor allem müssen die Krankenkassen in Zukunft verpflichtet werden, die Daten zu den Leistungsbewilligungen und –ablehnungen zu veröffentlichen. Außerdem müssen sie die Patienten besser über das Verfahren der Leistungsbeantragung und das Widerspruchsverfahren informieren sowie die Gründe für eine Ablehnung verständlicher als bisher darlegen. Damit würde die Wahlfreiheit der Bürger gestärkt, sich ganz bewusst für oder gegen eine Krankenkasse zu entscheiden“, sagt Laumann. Er wiederholt zudem seine Forderung, dass Patienten bei Leistungsanträgen nach Ablauf der Entscheidungsfrist nicht nur einen Kostenerstattungsanspruch, sondern einen Anspruch auf die Sache selbst haben und die Krankenkassen diesen bezahlen müssen.

Zwischen „digitalem Taylorismus“, osteuropäischen Ersatzlagern und einer beginnenden Menschenentleerung durch Automatisierung. Ambivalente Arbeitswelten am Beispiel Amazon

Die Gewerkschaft ver.di führt seit Jahren einen irgendwie aussichtslos erscheinenden Kampf gegen einen Konzern, in dessen amerikanischer DNA die grundsätzliche Ablehnung von Gewerkschaften und deren Tarifverträge tief eingebrannt ist. Es geht, wie man unschwer erraten kann, um Amazon – und dieses Unternehmen steht wie kaum ein anderes für die (nett formuliert) Ambivalenzen eines Teils der modernen Arbeitswelt, vor allem aus europäischer, erst recht aus deutscher Sicht. Auf der einen Seite steht dieses sich über den Globus ausbreitende Unternehmen für die Schattenseiten einer als menschenfeindlich charakterisierten Arbeitswelt, mit einem totalen Zugriff auf die Arbeitnehmer und einer bis ins Detail optimierten Effiziensteigerungsstrategie, zu der auch das Einatmen und Ausspucken befristet Beschäftigter für die Saisongeschäftsteile des Online-Handels gehört, inklusive der angesprochenen Verweigerung einer Einordnung in die Tarifwelt. Auf der anderen Seite wird immer wieder auch darauf hingewiesen, dass das Unternehmen nicht die niedrigsten Löhne zahle und vor allem, dass es auch Menschen, die beispielsweise seit Jahren arbeitslos waren und die in vielen anderen Unternehmen nicht mal in die Nähe eines Vorstellungsgesprächs kommen, eine Chance auf Beschäftigung gibt.

Man kann allerdings die Entwicklung von Amazon auch als Chiffre verstehen für grundsätzliche Fragen, wohin die Reise auf einem Teil des Arbeitsmarktes geht. Und nicht nur dort: Offensichtlich halten aus andere Branchen das Geschäftsmodell von Amazon für eine erfolgversprechende Schablone, hierzu beispielsweise dieser Artikel: Aus dem Aldi der Lüfte soll das Amazon des Reisens werden: »Schnell, billig, rücksichtslos – mit dem Konzept hat die irische Fluglinie Ryanair die Luftfahrt revolutioniert. Nun baut Konzernchef Michael O’Leary sie zum digitalen Tourismuskaufhaus aus.« Dahinter steht auch eine gewisse Bewunderung des bisherigen Entwicklungsmodells von Amazon, dazu beispielsweise dieser Artikel von Thorsten Schröder: Amazon ist überall: »Ein reiner Onlinehändler? Von wegen. Der Konzern aus Seattle dominiert eine ganze Reihe von Branchen. Das Netz und seine Nutzer sind längst abhängig von ihm.« Die bisherige Geschichte von Amazon ist nicht nur eine des gewaltigen Größenwachstums und der Realisierung der damit verbundenen Größenvorteile, sondern Amazon breitet sich systematisch in vor- und nachgelagerte Bereiche aus, wenn es denn passt. Vgl. dazu am Beispiel der Paketdienste den Beitrag Die Amazonisierung der Gesellschaft schreitet voran und Amazon stellt die Systemfrage auch bei den Paketdiensten vom 18. Februar 2016.

Aber zurück zu dem hier besonders interessierenden Thema der Beschäftigung und der Arbeitsmarktbedeutung von Amazon. Ein Teil der harschen Kritik an Amazon ist eine Folge des bisherigen Geschäftsmodells, in den großen Verteilzentren des Online-Händlers, da, wo also die Welt der Daten in realwirtschaftlichen Distributionsprozesse übersetzt werden muss, viel menschliche Arbeitskraft einzusetzen, hoch standardisiert und möglichst schnell und möglichst kostengünstig. Und das muss natürlich Folgen haben für die Organisation des Arbeitsprozesses an sich, was aus betriebswirtschaftlicher Sicht und aus Sicht der Betroffenen und der Arbeitnehmervertreter anders bewertet wird.

Die eine, kritische Perspektive kann man beispielsweise diesem Interview mit einem Gewerkschafter entnehmen: „Amazon will alleine entscheiden“: »Thomas Voss erklärt, wie die Amazon-Angestellten unter dem digitalisierten Taylorismus leiden.« Der Mann ist Fachgruppensekretär für den Versand- und Onlinehandel bei der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi. Er beginnt mit einer kompakten Zusammenfassung der beobachtbaren Entfaltung des Geschäftsmodells von Amazon – und warum dieses Unternehmen so enorm erfolgreich ist:

»Bei Amazon gibt es keine Grenzen, im Gegenteil. Das erklärte Vorhaben von Amazon-Gründer Jeff Bezos ist es, in den entscheidenden Märkten ein Monopol durchzusetzen. Dafür investiert Amazon auf Teufel komm raus in neue Geschäfte: In Deutschland hat Amazon etwa den früheren Baumarktführer OBI abgelöst, ist unlängst in den Handel mit frischen Lebensmitteln eingestiegen und will bald auch mit Autos handeln. Zusätzlich zu den Handels­tätigkeiten produziert der Konzern bereits eigene TV-Serien oder Smartphones und vergibt Kredite an Unternehmen … Bei Amazon erledigen die Kunden zentrale Arbeitsschritte des Einzelhandels per Mausklick. Sie tätigen die Bezahlung selbst und beraten sich gegenseitig durch Produktbewertungen. Die Kosten für ausgebildete Fachkräfte wie Kassierer oder Berater fallen somit weg. Amazon kann sich dadurch auf die Optimierung der logistischen Tätigkeiten konzentrieren. Hier verbindet das Unternehmen die Instrumente der Digitalisierung mit einer tayloristischen Arbeitsteilung.«

Nun wird sich dem einen oder anderen zwei Fragen stellen: Was muss man sich unter der Verbindung von Digitalisierung mit einer tayloristischen Arbeitsteilung vorstellen und warum wird das dann von vielen Menschen gemacht, wo doch ansonsten in der Industrie der Bewegungsimpuls bei standardisierten Prozessen in Richtung Automatisierung geht?

Beginnen wir mit der „Verbindung von Digitalisierung mit einer tayloristischen Arbeitsteilung“:

»Die Waren werden in Lagerhallen so groß wie mehrere Fußballfelder nach dem Chaosprinzip gelagert. Der Computer teilt die Lagerpositionen der Produkte auf den Regalen so ein, dass so wenig Platz wie möglich benötigt wird. Folglich gibt es keine Abteilungen für Warengruppen; die Zahnbürste liegt neben dem Autoreifen und den Kondomen. Einige Angestellte packen den ganzen Tag die ankommenden Waren aus, registrieren sie per Handscanner und andere räumen sie dann auf Anweisung ihres Handscanners in die Regale. Die sogenannten Picker holen die bestellten Produkte aus den Regalen und weitere Beschäftigte kümmern sich um das Beladen der Lkws. Durch die kleinen, vom Handscanner gesteuerten Arbeitsschritte erzielt Amazon mit viel weniger Menscheneinsatz bedeutend größere Umsätze als konkurrierende Einzelhändler.«

Thomas Voss beschriebt die aus seiner Sicht fatalen Folgen für die Beschäftigten so: »Sie müssen ihren Kopf komplett ausschalten, um die extrem monotonen Tätigkeiten acht Stunden lang ausführen zu können. Die Leistungsvorgaben sind dabei enorm: Ein Picker muss rund zwei Produkte pro Minute aus den Regalen nehmen und in eine kleine Plastikwanne legen. Er rennt computergesteuert durch die Lagerhallen und wird dabei permanent kontrolliert, denn die Daten des Handscanners stehen den Vorgesetzten jederzeit zur Verfügung. Überdurchschnittlich viele Amazon-Angestellte leiden an psychischen Erkrankungen, was wir unter anderem auf die monoton kontrollierten Abläufe zurückführen. Die Amazon-Bosse haben darauf ihren Interessen entsprechend reagiert: Sie verteilen Gesundheitsprämien, damit man krank zur Arbeit geht.«

Stichwort „Gesundheitsprämie“: »Fieber, Rücken, Magen-Darm: Krankheiten sind bekanntlich ein Teil des Lebens. Doch der Versandhändler Amazon will sich nicht so mit ihnen abfinden. Mitarbeiter, die nicht so oft krank sind, sollen eine Prämie bekommen – allerdings nur, wenn das gesamte Team mitzieht«, so Martin Scheele in seinem Artikel Gold für Gesunde. Um den Krankenstand in seinen Logistikzentren zu senken, gibt es beim Online-Versandhändler Amazon seit vergangenem Jahr eine Anwesenheitsprämie für die Mitarbeiter. Die Mitarbeiter bekommen aktuell in fünf der neun Versandzentren als Bestandteil einer aus mehreren Komponenten bestehenden Erfolgsprämie auch mehr Geld, wenn sie sich seltener krank melden.

Nun kann man schon darüber diskutieren, ob solche Prämien für das Fehlen krankheitsbedingter Ausfalltage wirklich sinnvoll sind – man kann sich viele Gegenargumente vorstellen, selbst betriebswirtschaftliche im engeren Sinne, beispielsweise wenn sich kranke Mitarbeiter zur Arbeit schleppen oder andere Kollegen anstecken, nur um den eigenen Bonus nicht zu gefährden. Aber Amazon legt gleich noch eine ordentliche Schippe drauf:

»Dabei koppelt Amazon diesen Gesundheitsteil an einen Gruppenbonus. Um die maximal mögliche Prämie von zehn Prozent des monatlichen Bruttogehaltes zu erhalten, zählen nicht nur die Krankheitstage des einzelnen Mitarbeiters, sondern auch der Krankenstand des gesamten Teams, in dem er arbeitet. Jeder, der sich krank meldet, gefährdet damit nicht nur seinen eigenen Bonus, sondern schwächt auch den Wert, den seine Kollegen erreichen können.«

Peter Fahrenholz kommentiert die Vorgänge bei Amazon unter dieser Überschrift: Perfide. Der Versandhändler stigmatisiert kranke Mitarbeiter: »Bestandteil des Systems ist ein sogenannter Gruppenbonus. Wer krank wird, schadet automatisch auch seinen Kollegen, denn er zieht damit den Wert des ganzen Teams nach unten. Auf raffinierte Weise wird die Belegschaft dazu gebracht, selber dafür zu sorgen, dass es möglichst wenig Krankmeldungen gibt – da braucht kein Chef mehr den Buhmann spielen. Krankheit ist in der Welt von Amazon nicht nur ein persönliches Schicksal, sondern sie wird zu einem sozialen Makel. Wer krank ist, so die Logik, schadet der Gemeinschaft.«
Wieder zurück zu den Ausführungen von Thomas Voss das System Amazon aus seiner Sicht betreffend:

»Amazon bezahlt nicht die billigsten Gehälter in Deutschland, das muss man sagen. Von den zehn bis zwölf Euro Stundenlohn kann man einigermaßen leben – wenn man eine Familie hat, wird es schon schwieriger. Bei Amazon ist in erster Linie eine hohe Flexibilität bei der Anzahl der Beschäftigten entscheidend, da die Bestellvolumina stark schwanken. Rund 15 Prozent der Belegschaft haben Teilzeitjobs und 20 Prozent sind befristet angestellt, normalerweise für ein Jahr. Für die Weihnachtszeit kommen nochmals 100 Prozent Saisonkräfte hinzu, um für zwei Monate die Umsatzgipfel zu bewältigen. Amazon hat seine Standorte ganz gezielt in strukturschwachen Gebieten mit hoher Arbeitslosigkeit errichtet. Dort können Arbeiter ohne wirkliche Qualifizierung Arbeit finden.«

Natürlich wird der Gewerkschafter auch konfrontiert mit der Frage nach den seit Jahren ablaufenden – und bislang hinsichtlich des eigentlichen Ziels erfolglosen – Streikaktionen bei Amazon in Deutschland. Er versucht, in einem ersten Schritt die Haben-Seite herauszustellen (»In sieben der neun Standorte Deutschlands wird die Arbeit regelmäßig niedergelegt. Mittlerweile ist fast ein Drittel der Amazon-Belegschaft hierzulande gewerkschaftlich organisiert. Das ist beachtlich hinsichtlich des hohen Anteils von Angestellten mit Teilzeit- oder befristeten Verträgen«), um dann zum eigentlichen Kern des Problems vorzustoßen:

»Unser Problem ist, dass wir es mit einem globalen Titan zu tun haben: Wenn deutsche Standorte die Arbeit niederlegen, kann Amazon die Lieferungen innerhalb von zwei bis drei Stunden nach Polen oder in die Tschechische Republik auslagern. Die dortigen ­Standorte dienen ausschließlich der ergänzenden Belieferung des deutschen Marktes. Wenn ­deutsche Standorte streiken, ist es also gut möglich, dass die bestellte Bohrmaschine aus ­Polen versandt wurde – der Kunde merkt keinen Unterschied. Wir können Amazon am besten unter Druck setzen, wenn aus unserem deutschen Arbeitskampf ein europäischer wird.«

Hier sind wir an einer ganz zentralen Problemstelle angekommen: Die grenzüberschreitende Organisation der logistischen Welt von Amazon ermöglicht es, den (möglichen) Druck im Inland durch Arbeitskampfmaßnahmen aufzufangen und zu kompensieren. Und dass es den Beschäftigten in Tschechien oder Polen noch schlechter geht als den in Deutschland muss wohl nicht besonders herausgestellt werden – vgl. dazu und den ersten Versuchen einer Gegenwehr bereits den Beitrag Die gnadenlose Effizienzmaschine hinter Amazon wird gefeiert und beklagt. Und in Polen spürt man die handfesten Folgen, wenn man ein kleines Rädchen in der großen Maschine ist vom 18. Juli 2015. Nun ist es aber bereits in Deutschland – wie wir in den vergangenen Jahren haben lernen müssen – schwer, die Beschäftigten bei Amazon in nennenswerten Umfang zu organisieren oder gar zu Arbeitsniederlegungen zu bewegen. Da muss man ehrlich bilanzieren. Wenn dann noch, wie von Voss angesprochen, die eigentliche „Lösung“ in einem „europäischen Arbeitskampf“ liegen müsste (was man durchaus nachvollziehen kann), dann wird klar, dass das eine nur herkulisch zu nennende Aufgabe ist, deren Realisierungswahrscheinlichkeit nicht besonders hoch angesetzt werden sollte.

Aber da war doch noch eine andere Frage offen: Warum wird das eigentlich von so vielen Menschen gemacht, wo doch ansonsten in der Industrie der Bewegungsimpuls bei standardisierten Prozessen in Richtung Automatisierung geht?

Diesen Impuls kennt und folgt natürlich auch Amazon, wie man diesem Beitrag von Joachim Hofer entnehmen kann: Wenn das Regal Räder bekommt: »Wo früher Menschen zu Regalen eilten, um Windeln, Smartphones und Bücher einzusammeln, sind nun Hunderte von Robotern im Einsatz.«
Das neueste Logistikzentrum von Amazon im nordenglischen Manchester  ist eine Blaupause, wie es bald in zahlreichen anderen Verteilzentren des US-Konzerns aussehen wird.

»Durch die Roboter liefere Amazon schneller, günstiger, zuverlässiger. „Auf derselben Fläche bringen wir wesentlich mehr Ware unter“ … Das ist ein enormer Vorteil, denn in vielen Ländern tobt ein Kampf um die Grundstücke. Auch in Deutschland. „Große Einzelhändler suchen gerade gigantische Flächen“, sagt Kuno Neumeier, Chef des Münchener Logistikimmobilien-Beraters Logivest. Die quadratischen Regale in Manchester stehen dicht gedrängt, die breiten Gänge für die Mitarbeiter braucht es nicht mehr. Die orange-schwarzen Roboter fahren einfach unter die gut zwei Meter hohen Regale, heben sie an. Anschließend geht es im Eiltempo zu den Leuten am Rand des Lagers. Die Arbeiter nehmen die bestellten Produkte heraus, reichen sie an jene Kollegen weiter, die dann die Pakete schnüren. Die Regale samt Roboter sind da schon wieder verschwunden. Die Transportmaschinen …  können gut 300 Kilo schultern. Mehr noch: statt riesiger, hoher Hallen lassen sich die Regale jetzt in vergleichsweise niedrigen Räumen anordnen. So lagert Amazon in Manchester die Artikel auf drei Stockwerken und kann dadurch eine größere Auswahl vorhalten.«
Dieser Ansatz wird gerade ausgerollt. In Deutschland baut Amazon für 90 Millionen eine hochautomatisierte Filiale in Winsen, südlich von Hamburg. Der Konzern beteuert, dass durch die Roboter kein Job verloren gehe; zumindest nicht bei Amazon. Das ist ein wichtiger Punkt, den man bei einer korrekten Berechnung der Arbeitsplatzeffekte berücksichtigen muss – der Jobverlust bei den Konkurrenten von Amazon, die sich dessen Effizienz geschlagen geben müssen.

Nur als Anmerkung sei hier darauf hingewiesen, dass die Frage der Beschäftigungseffekte gar nicht so einfach zu beantworten ist. Dazu der Artikel E-Commerce as a Jobs Engine? One Economist’s Unorthodox View: Der Ökonom Michael Mandel behauptet, »that the move toward e-commerce is creating more jobs than are being lost in the brick-and-mortar retailing industry — and that these new jobs are paying much higher wages than traditional retail jobs.«
In den sechs neuen Robo-Standorten, die dieses Jahr in Europa öffnen, sollen langfristig 8.000 Arbeitsplätze entstehen. In Winsen hat Amazon 1.000 Stellen zu besetzen.

»Der Konzern verlässt sich auf Technik, die er sich durch die Übernahme des amerikanischen Roboterherstellers Kiva vor fünf Jahren ins Haus geholt hat. Die Geräte baut Amazon selbst, weltweit drehen in dem Konzern 80.000 Roboter ihre Runden; jedes neue Lager braucht ein paar Tausend zusätzlich. Auch die Software entwickelt Amazon selbst. Die Roboter orientieren sich mit Hilfe von QR-Codes auf dem Boden.«

Aber auch das gehört – noch – zur Wahrheit: »Amazon ist allerdings weit davon entfernt, den gesamten Versand zu automatisieren. So sind die Regale in Manchester nur mit handlicher Ware bestückt. Wenn es sperrig wird, müssen nach wie vor die Mitarbeiter ran, an anderen Standorten.« Insofern eröffnet  das Fallbeispiel hier auch einen Blick auf das derzeit immer wieder aufgerufen Grundsatzthema Beschäftigungsfolgen der Digitalisierung. Die sind gar nicht so einfach und vor allem nicht einseitig zu bestimmen.

Was das für die Arbeitnehmer und die Gewerkschaften bedeutet? Auf alle Fälle wird am Beispiel Amazon ein mehrfaches Dilemma für die Gewerkschaften erkennbar: Zum einen rekrutiert man in Regionen mit einem noch hohen Arbeitsangebot Arbeitnehmer, grundsätzlich oder anfangs befristet, die oftmals froh sind, überhaupt wieder einen Job bekommen zu haben, was ihre Bereitschaft, sich in einer Gewerkschaft zu organisieren oder gar die Arbeit niederzulegen, sicher nicht befördert. Hinzu kommt ein skizziertes System der Ausweichlager in umgebenden Ländern, mit deren Hilfe Amazon Streikfolgen kompensieren kann. Und dann auch noch die mehr oder weniger offene Drohung, dass die Jobs demnächst wegautomatisiert werden könnten. Keine gute Ausgangslage für gewerkschaftliche Aktivitäten.

Diesen Kontext sollten all diejenigen berücksichtigen, die mehr von den Gewerkschaften erwarten oder die Erfolglosigkeit beklagen. Es geht immer auch um die realen Kräfteverhältnisse und dazu gehört auch der Organisationsgrad der Gewerkschaften, mithin die Bereitschaft der Arbeitnehmer, sich dort zu engagieren.

Das kann man derzeit beobachten am Beispiel der Tarifeinigung in der Systemgastronomie. Wer bei Starbucks Kaffee zubereitet oder bei McDonald’s Burger brät, bekommt ab August mehr Geld. Dies sieht ein neuer Tarifvertrag für rund 100.000 Beschäftigte der Systemgastronomie vor, auf den sich die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) und der Bundesverband der Systemgastronomie in der Nacht zum Freitag einigten – allerdings erst durch eine Schlichtung. Zum Bundesverband der Systemgastronomie gehören unter anderem McDonald’s, Burger King, Starbucks, Nordsee, Autogrill, Tank und Rast, Kentucky Fried Chicken und Pizza Hut. Allein rund 58.000 Beschäftigten arbeiten bei McDonald’s in Deutschland.

Die Vereinbarung sieht laut NGG Lohnerhöhungen zwischen 7,3 und 8,7 Prozent in drei Stufen vor. Die Laufzeit des Tarifvertrags: bis Ende 2019.

Ab dem 1. August liegt das Einstiegsgehalt bei Schnellrestaurants bei neun Euro und damit 16 Cent mehr als der gesetzliche Mindestlohn in Höhe von 8,84 Euro pro Stunde.

Der Verhandlungsführer und stellvertretende Vorsitzende der NGG, Guido Zeitler, wird mit diesen Worten zitiert: „Damit haben wir ein wichtiges Ziel erreicht: Die anstrengende und verantwortungsvolle Arbeit in der Systemgastronomie ist mehr wert als Mindestlohn“. Nun kann man an dieser Stelle auf den ersten Blick tatsächlich skeptisch die Frage stellen, ob 16 Cent mehr als Mindestlohn für die Arbeit in der Systemgastronomie als Erfolg gefeiert werden kann – oder ob das nicht eigentlich viel zu wenig, mithin eine Niederlage ist.

Es war ein langer Kampf. Die NGG war mit einer Forderung von sechs Prozent mehr Geld für alle Beschäftigte und Einstiegslöhnen deutlich oberhalb des Mindestlohns von 8,84 in die Verhandlungen gegangen. Nach vier ergebnislosen Tarifverhandlungen hatten sich die Verhandlungspartner auf eine Schlichtung geeinigt, die nun zur Einigung führte. Dabei muss man auch berücksichtigen, dass der Organisationsgrad der NGG in der Systemgastronomie – nun ja – überschaubar ist, was natürlich auch deren Möglichkeiten, beispielsweise durch Streiks die Arbeitgeber zu beeindrucken, einschränkt. Wenn nur 10 oder 15 Prozent der Beschäftigten überhaupt organisiert sind, dann wissen auch die Arbeitgeber sehr genau um das tatsächlich nicht oder nur in Spurenelementen vorhandene Druckpotenzial der Gewerkschaft.

Raus aus der Matrix und wegen Umbau geschlossen? In der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di soll die Struktur der Organisation radikal umgebaut werden

Sie haben es ja auch nicht leicht, die Dienstleistungsgewerkschafter von ver.di. An gefühlt tausend Fronten gleichzeitig sind sie gefordert und im Einsatz. Man denke an dieser Stelle nur zurück in das Streikjahr 2015. Die Postler wurden in den Arbeitskampf geführt, die Sozial- und Erziehungsberufe ebenfalls – große, teilweise mehrwöchige Arbeitskämpfe. Daneben die vielen kleinen Scharmützel mit den Arbeitgebern, jeder kennt die „Und ewig grüßt das Murmeltier“-Streikaktionen bei Amazon, um den Konzern in die Tarifbindung zu zwingen, was bislang an diesem abperlt wie Spucke auch Teflon. Sie haben wahrlich harte Jahre hinter sich, nicht nur aufgrund dessen, was man als Tertiarisierung der Arbeitskonflikte bezeichnet, also die Verlagerung der Auseinandersetzungen von der Industrie in den Dienstleistungsbereich (vgl. dazu ausführlicher den Beitrag Jetzt die Dienstleistungen als – ambivalente – Speerspitze der Arbeiterbewegung? Von der Tertiarisierung der Streiks, Häuserkämpfen und „Organizing“ als Hoffnungsträger vom 13. Januar 2017), sondern bereits die Geburt dieser Riesengewerkschaft im Jahr 2001 waren mit ganz erheblichen und lang andauernden Wehen verbunden und die Organisation hat bis heute unter den Folgen der Vereinigung ganz unterschiedlicher Vorgänger-Gewerkschaften mit ganz eigenen Kulturen und Menschen zu leiden.

2001 hatten sich in der bislang größten Gewerkschaftsfusion der bundesdeutschen Geschichte die Gewerkschaften Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV), Handel, Banken, Versicherungen (HBV), Deutsche Postgewerkschaft (DPG), IG Medien sowie die Deutsche Angestelltengewerkschaft (DAG) zusammengetan. Das war ein konflikthaftes Zusammenwachsen von ganz unterschiedlichen Gewerkschaften – in denen es teilweise bis zum Schluss erhebliche Widerstände gegen die Großfusion gegeben hat. Man reagierte darauf wie man es in solchen Organisationen erwarten kann – über die Ausgestaltung der Organisationsstruktur sollten auch die letzten Skeptiker bedient und eingebunden werden. Das ist eine Vorgehensweise, die wir auch aus anderen Organisationen kennen, beispielsweise den Kirchen – und die eines auf alle Fälle schafft: Komplexität und Reibungsenergie.

Es entstanden 13 branchenbezogene Fachbereiche wie auch Ortsvereine und ehrenamtliche Vorstände mit eigenen Budgets auf allen Ebenen. Hinzu kam eine weitere Dimension: Personengruppen von Erwerbslosen über Arbeiter, Jugend, Beamte, Selbstständige, Meister, Techniker, Ingenieure bis hin zu Migranten und Senioren können sich in den Bezirken konstituieren und mit Sitz und Stimme in die Vorstandsgremien einbringen. Die nebenstehende Abbildung von ver.di selbst verdeutlicht auf einen Blick, mit was für eine mehrdimensional angelegten Matrix-Organisation wir es zu tun haben. Und das hat man ja nicht aus Spaß an der Komplexitätssteigerung gemacht, sondern um möglichst alle irgendwie „mitzunehmen“ oder ihnen wenigstens das Gefühl zu geben. Und hinter den ganzen Klimmzügen stand damals eine strategische Überlegung, der man auch in vielen Teilen der Wirtschaft begegnen kann: die geballte Kraft der schieren Größe sollte „Marktvorteile“ erschließen, man wollte wesentlich durchsetzungsfähiger werden als im Gehäuse der alten und kleineren Gewerkschaften. Aber: Mit anfänglich 2,8 Millionen Mitgliedern war ver.di die größte Mitgliedsorganisation des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). Doch heute ist die Dienstleistungsgewerkschaft mit rund zwei Millionen Mitgliedern deutlich schwächer als die IG Metall.

Der Mitgliederschwund lässt sich zum einen auf externe Faktoren zurückführen, so verschwanden aufgrund der technischen Entwicklung viele Jobs in der Druckindustrie, die ohne Zweifel eine gewerkschaftliche Hochburg war. Aber auch Mitgliederverluste aufgrund mangelnder Identifikation mit dem Kunstgebilde einer „Dienstleistungsgewerkschaft“, in der ganz viele unterschiedliche Branchen und Berufe organisiert werden müssen, waren zu verzeichnen. Aus finanziellen Gründen wurde die personelle Betreuung der Mitglieder in der Fläche ausgedünnt.

Einen differenzierten und lesenswerten Blick aus der Perspektive der im Arbeitgeber-Institut der deutschen Wirtschaft angesiedelten „Gegner-Beobachtung“ hat Hagen Lesch in seinem Beitrag Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di – Tarifpolitische Entwicklungen und Herausforderungen Anfang des Jahres 2017 publiziert:

»Fünfzehn Jahre nach der Gründung fällt die ver.di-Bilanz eher gemischt aus. Die Anzahl der Mitglieder sank um 27 Prozent und die Tarifbindung ging in einzelnen Tarifbereichen spürbar zurück. So sank der Anteil der tarifgebundenen Arbeitnehmer im westdeutschen Handel von 69 Prozent im Jahr 2000 auf zuletzt 42 Prozent. Darüber hinaus geriet die Organisation durch die Bildung von Spartengewerkschaften unter Druck und sie musste sich vermehrt Forderungen der Arbeitgeber nach Veränderungen der Manteltarifverträge stellen. Die Gewerkschaft reagierte mit einer expansiveren Tarifpolitik, die mit einer Zunahme der Arbeitskämpfe einherging. Entstehende Konflikte wurden dazu genutzt, neue Mitglieder zu gewinnen. Tatsächlich hat sich der Mitgliederrückgang in den letzten Jahren verlangsamt und es gelang in vielen Tarifbereichen, wieder Anschluss an die allgemeine Lohnentwicklung zu finden.«

Aber wieder zurück in die Gegenwart und nochmals das „Streikjahr 2015“ aufrufend – die Auseinandersetzungen bei der Post und im Sozial- und Erziehungsdienst haben die Streikkassen strapaziert. Auch das ist – neben den sinkenden Mitgliederzahlen – sicherlich ein Grund dafür, dass ver.di nach Wegen sucht, sich organisatorisch neu aufzustellen, so die Annahme von Richard Färber in seinem Artikel Ver.di-Matrix Reloaded. In diesem Artikel wird berichtet über die anstehenden Umbaumaßnahmen in der Gewerkschaft. Er berichtet, dass die Zahl der Fachbereiche radikal von derzeit 13 auf nur noch vier reduziert werden soll, die dann zahlenmäßig etwa gleich stark wären. Nur der bisherige Fachbereich 3 (Gesundheit, soziale Dienste, Wohlfahrt und Kirchen) würde demnach künftig als Fachbereich mit dem Arbeitstitel Fachbereich D in der alten Form weiter existieren.

Hintergrund ist ein Papier mit dem Titel Position des Bundesvorstands zur Zukunft der Fachbereiche in Ver.di. Darin wird versucht, die angestrebte Neuordnung inhaltlich zu begründen:

»Wir wollen uns für die bereits begonnenen und zukünftig noch bevorstehenden Branchenentwicklungen und Umwälzungen vieler Branchen insbesondere durch die Digitalisierung zukunftsgerecht aufstellen. Dies erfordert eine neue Betrachtung der ver.di-internen Abbildung der bisherigen Branchenzuschnitte innerhalb oftmals enger Fachbereichsgrenzen. Dabei sollen auch Unschlüssigkeiten in der bisherigen Struktur, die teils aus dem Gründungsprozess herrühren, teils durch unterschiedliche Branchenentwicklungen entstanden sind, auf den Prüfstand.«
Im weiteren Verlauf der Argumentation in dem Papier kommt man dann auf das wohl eigentliche Anliegen organisationsinterner Effizienz- und Effektivitätssteigerung zu sprechen:

»Gerade wenn wir die kollektive Arbeit erfolgreich weiterentwickeln wollen, brauchen wir ausreichend große Teamstrukturen und sinnvolle Führungsspannen in den Fachbereichen. Diese bieten Möglichkeiten zum Austausch und zu regelmäßiger Rückkoppelung und zur gegenseitigen Vertretung. Derzeit sind viele Ehren- und Hauptamtliche in etlichen Fachbereichen –  insbesondere in Flächenbezirken – weitgehend auf sich allein gestellt … Einzelsekretär/-innen von Fachbereichen für immer größere Betreuungsregionen sind genauso wenig sinnvoll, wie ein sich eher aus Zufälligkeiten ergebendes Stellen-Splitting einzelner Stellen zwischen mehreren Fachbereichen … Mit der Bündelung in vier große Fachbereiche soll eine sinnvolle Flächenpräsenz erreicht werden, in Betreuungsregionen für die jeweiligen Fachbereichssekretär/-innen, die mit angemessenen Wegezeiten zu bewältigen sind. Die vorgeschlagene Gliederung der Fachbereiche bietet die Möglichkeit zur Schaffung von Teamstrukturen in den Regionen und auf der Landesbezirksebene.«

Dass es organisatorischen Reformbedarf gibt, ist auch von außen betrachtet mehr als offensichtlich, wobei die vom Bundesvorstand versuchsweise in den Vordergrund geschobene inhaltliche Begründung mit der „Digitalisierung“ doch etwas bemüht daherkommt.

Den angesprochenen Reformbedarf kann man auch an diesem Beispiel ablesen: »Zusätzlich zur Zusammenlegung soll auch die Zuordnung der Berufe in die Fachbereiche überprüft werden. Tatsächlich konnte es bisher passieren, dass Beschäftigte, die dieselbe Arbeit leisten, in unterschiedlichen Fachbereichen angesiedelt waren. So ergeht es etwa den Kolleginnen und Kollegen im Erziehungsdienst, für die bislang je nach dem Träger der Kita verschiedene Verdi-Gliederungen zuständig sind. Bei der Vorbereitung gemeinsamer Aktionen erwies sich das in der Vergangenheit oft als Hindernis«, so Johannes Supe in seinem Artikel Verdi baut um. Er wirft allerdings auch diverse Fragen auf, die in den kommenden Monaten sicher diskutiert werden: »Wird von den Gewerkschaftssekretären nach der Zusammenlegung nicht eben doch erwartet werden, weitaus mehr Branchen zu betreuen als bislang? Zudem würden die künftigen Großgliederungen je von einer Person geleitet – die dann beispielsweise für Angelegenheiten in der Finanzbranche ebenso zuständig wäre wie für die bei Ver- und Entsorgung. Wird es da möglich sein, auf die Belange des Fachbereichs ähnlich detailliert einzugehen, wie das in der bisherigen Struktur der Fall war?«

Das neue Modell soll vom Bundeskongress 2019 beschlossen und dann zügig umgesetzt werden. Bereits 2018 beginnen turnusgemäß die Orgnisationswahlen innerhalb von ver.di und die werden dann natürlich im Schatten der anstehenden Organisationsreform stehen.

»Der Prozess dürfte in jedem Fall viele Energien binden, die dann möglicherweise nicht voll für Tarifrunden, Betriebskämpfe und politische Kampagnen zur Verfügung stehen«, prognostiziert Richard Färber in seinem Artikel und erinnert an die Zeit nach der Gründung von ver.di im Jahr 2001.  Angesichts der erheblichen Probleme in wichtigen Bereichen wie dem Einzelhandel, den Transportdiensten (vor allem Paketzustellung), im Kita-Bereich oder die unbedingt notwendige, allerdings aus unterschiedlichen Gründen bislang nicht wirklich erfolgreiche Expansion der Gewerkschaft nie Pflegebereich wären das keine guten Perspektiven.

Man muss die ambivalenten, teilweise kaum lösbaren dilemmatischen Herausforderungen für die Gewerkschaft ver.di deutlich benennen: Gerade der große Streik im Sozial- und Erziehungsdienst 2015, oft verkürzend als „Kita-Streik“ bezeichnet, hat gezeigt, dass es auf der einen Seite die Zielvorstellung gibt, die Erzieher/innen in den immer bedeutsamer werdenden Kindertageseinrichtungen tendenziell und streiktechnisch gesehen als „neue Müllmänner“ für kommende Tarifauseinandersetzungen im öffentlichen Dienstleistungsbereich in den Vordergrund zu schieben (vgl. hierzu genauer den Beitrag Erzieherinnen als „Müllmänner 2.0“? Der Kita-Streik stellt mehrere Systemfragen gleichzeitig vom 7. Mai 2015), zugleich bindest das natürlich enorme Ressourcen, die von den vielen anderen Branchen und Berufen mitfinanziert werden müssen – und das in einer Organisation, die aufgrund ihrer unglaublichen Heterogenität für viele Mitglieder keine unmittelbar aus der eigenen Zugehörigkeit ableitbaren Solidaritätsenergien produziert, weil da irgendwie alles und alle organisiert sind.

Man kann an dieser Stelle passend auch die Ausführungen von Hagen Lesch aus dem Arbeitgeber-Institut der deutschen Wirtschaft als „Mahnung“ einbauen:

»Als Multibranchengewerkschaft mit den meisten Tarifbereichen steht ver.di vor großen Herausforderungen. Das Hauptproblem dürfte sein, sich nicht in endlosen Kleinkonflikten wie beim Versandhändler Amazon zu verlieren. Angesichts der organisatorischen Breite führen Häuserkämpfe zu einem enormen personellen wie finanziellen Ressourcenverbrauch. Da einzelne Fachbereiche hiervon unterschiedlich betroffen sind, könnte dies langfristig den Zusammenhalt der Multibranchengewerkschaft gefährden.«

Und man muss auch darauf hinweisen dürfen, dass die Erfolge der beiden Großkonflikte des Jahres 2015 mehr als überschaubar, wenn nicht deprimierend waren (vgl. zu dieser explizit kritischen Sichtweise am Beispiel des „Kita-Streiks“ den Beitrag Da war doch noch was: Ein Arbeitskampf => ein Schlichtungsergebnis => dessen Ablehnung von unten => neue Verhandlungen nach der Wiederwahl des Vorsitzenden => eine Wiederauferstehung des Schlichtungsergebnisses, garniert mit kosmetischen Korrekturen vom 7. Oktober 2015 sowie zum letztendlich gescheiterten Streik bei der Deutschen Post den Beitrag Das Ende des Post-Streiks: Ein „umfassendes Sicherungspaket“ (für die, die drin sind) und ein verlorener Kampf gegen die Billig-Post vom 6. Juli 2015).

Man kann angesichts der Notwendigkeit gewerkschaftlichen Handelns gerade in den von ver.di betreuten Branchen, die sich im Zentrum einer erkennbaren Verschlechterung von Arbeitsbedingungen befinden (z.B. Einzelhandel, Paketdienste, Pflege), nur hoffen, dass der große Umbau der Organisation mit vielen Konsequenzen für einzelne Personen nicht zu den Effekten führt, die man oft in Konzernen beobachten kann, wenn ein Stoßtrupp von angeheuerten Unternehmensberatern alles und alle auf den Kopf gestellt hat und man den Powerpoint-Folien schöner neuer Organisationsstrukturen folgt und dann Jahre der Aufräumarbeiten braucht, wenn sich herausstellt, dass das innerhalb der Organisation zu zahlreichen Lähmungs- und Verweigerungseffekten geführt hat.