Dieses Jahr wird sicher einen besonderen Platz im Archiv der Geschichte der Arbeitskämpfe bekommen – nicht nur wegen der Streiks der Lokführer und den zwischenzeitlich wieder auf dem Boden aufgeschlagenen Arbeitskampfaktionen der Piloten der Lufthansa, sondern auch wegen einer Serie von Kopfnüssen, die seitens der Gewerkschaft Verdi wegzustecken waren. Gemeint ist hier zum einen der Arbeitskampf bei der Deutschen Post DHL, der sich vor allem und am Ende erfolglos gegen eine Verlagerung der Paketzustellung in Billigtöchter gerichtet hat. Und zum anderen – angesichts seiner grundsätzlichen Bedeutung besonders schmerzhaft – der Streik im Sozial- und Erziehungsdienst, in der Öffentlichkeit immer verkürzend als „Kita-Streik“ tituliert, was aber unvollkommen ist, denn es ging (und geht) auch um die Beschäftigten in der Jugendhilfe, der Behindertenhilfe und anderen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit, die aber irgendwie immer untergehen in der Berichterstattung.
Die Fachkräfte des Sozial- und Erziehungsdienstes in kommunalen Einrichtungen wurden im Frühjahr – nicht nur von Verdi, sondern auch von der GEW – in einen unbefristeten Arbeitskampf geschickt mit der Forderung nach einer strukturellen Aufwertung ihrer Berufe im Tarifgefüge. Es handelte sich also nicht um eine „normale“ Lohnrunde, sondern um die Durchsetzung des Ziels, die Fachkräfte hinsichtlich ihrer Eingruppierung nach oben zu heben. Damit sollte den gestiegenen Anforderungen und der Bedeutung ihrer Arbeit endlich auch spürbar Tribut gezollt werden. Die Forderungssumme der strukturellen Verbesserungen beliefen sich alles in allem auf gut zehn Prozent. Es soll an dieser Stelle gar nicht um die taktisch-strategische Bewertung gehen, ob man damit die Trauben nicht zu hoch gehängt hat. Zweifel an der Sinnhaftigkeit angesichts der realen Bedingungen gab es durchaus auch im Gewerkschaftslager vor dem Arbeitskampf, beispielsweise auf Seiten der GEW, die sich eher ein Stufen-Modell gewünscht hätte.
Der zentrale Punkt hinsichtlich der besonderen Bedeutung des letztendlich ausgerufenen unbefristeten Arbeitskampfes muss darin gesehen werden, dass es um einen Bereich geht, bei dem ein Erfolg von Streikaktionen ganz erhebliche Folgewirkungen auch auf andere Felder personenbezogener Arbeit haben würde – gerade die Pflegekräfte haben den Streik sehr intensiv beobachtet (und viele sicher auch die Daumen gedrückt), denn sie haben das gleiche Problem wie streikende Erzieher/innen oder Sozialarbeiter: Der Arbeitskampf trifft nicht unmittelbar ein oder mehrere Unternehmen, deren Produktion lahmgelegt wird, sondern erst einmal diejenigen, die den Fachkräften anvertraut sind – also Kinder, Behinderte oder eben Pflegebedürftige. Und da fällt streiken schon mal per se sehr schwer, denn es ist verständlicherweise nicht einfach, hilflose und sorgebedürftige Menschen im wahrsten Sinne des Wortes „liegen zu lassen“.
Insofern hätte man diesen Weg mehr als intensiv vorbereiten müssen – nicht nur angesichts der Tatsache, dass die, gegen die der Arbeitskampf gerichtet war, also die kommunalen Arbeitgeber, anders als „normale“ Unternehmen, bei denen sich Streikfolgen sofort in der eigenen Schatulle schmerzhaft bemerkbar machen, nicht unmittelbar getroffen werden (können), sondern primär die Kinder und deren Eltern. Die Arbeitgeber – und das haben sie auch in extensio gemacht – können sich erst einmal zurücklehnen und abwarten, haben sie doch keinen unmittelbaren Schaden (vor allem nicht, wenn sich nach einer gewissen Dauer die wachsende Wut der unmittelbar Betroffenen fast ausschließlich gegen die Streikenden richtet). Ganz im Gegenteil, durch die Streiktage können sie sogar noch Geld sparen, weil das die von ihnen zu tragenden Personalkosten reduziert (hat). Insofern hätte man neben einer sorgfältig vorbereiteten Streikwelle (auch durch die Einbindung der anderen Gewerkschaften als Unterstützer und gewissermaßen Schutzschild) vor einem unbefristeten Arbeitskampf die scheinbar nicht einfache und logische Frage stellen müssen: Halten wir das auch durch, wenn das mediale Sperrfeuer nach anfänglicher Sympathie einsetzt?
Hinzu kommt eine weitere erhebliche Restriktion des Agierens über einen Arbeitskampf: Im Kita-Bereich sind lediglich ein Drittel der Plätze und Einrichtungen in kommunaler Trägerschaft, der große Rest hingegen wird von „freien Trägern“ betrieben, unter denen die konfessionell gebundenen Träger die große Mehrheit stellen. Aber bei denen gibt es kein Streikrecht für deren Mitarbeiter (die dort als „Dienstnehmer“ bezeichnet werden). Auch wenn die Erzieher/innen dieser Einrichtungen gerne mitkämpfen wollen, sie können es nicht, ihre Rolle beschränkt sich auf die eines Zaungastes, der nur die Daumen drücken kann.
Dennoch ist man in einen unbefristeten Streik eingetreten. Der Ablauf ist bekannt. Nach einigen Wochen wurde der Arbeitskampf unterbrochen, da eine Schlichtung einberufen wurde. Am 23. Juni 2015 gab es eine Einigungsempfehlung der Schlichtungskommission. Die Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) schreibt dazu auf ihrer Webseite: »Die beiden Schlichter in den Tarifverhandlungen für den Sozial- und Erziehungsdienst, Georg Milbradt und Herbert Schmalstieg, haben am 23. Juni 2015 ihren einvernehmlichen Schlichterspruch in Bad Brückenau vorgestellt. Inhalt: Differenzierte Erhöhungen für die unterschiedlichen Gehaltsgruppen, aber keine Steigerung um die von den Gewerkschaften geforderten durchschnittlichen zehn Prozent.«
Die Gewerkschaften, deren Verhandler der Schlichtungsempfehlung zugestimmt hatten, haben dann ihre Basis diskutieren und im Sommer abstimmen lassen über dieses Ergebnis – mit fatalen Folgen, denn eine große Mehrheit hat den Schlichterspruch abgelehnt. Damit gerieten die Gewerkschaften, vor allem aber die federführende Organisation Verdi, in eine überaus unangenehme Situation, mussten sie doch nach diesem Votum in erneute Verhandlungen mit den kommunalen Arbeitgebern eintreten und zugleich die Möglichkeit erneuter Streikaktionen vorbereiten – wohl wissend, dass es diesmal noch schwerer werden würde, über Streiks etwas erreichen zu können, das spürbar über der Schlichtungsempfehlung liegen würde, was offensichtlich von der Basis erwartet wurde. Das alles wurde in diesem Blog bereits dargestellt und auch kommentiert, so in dem Beitrag Zwischen „ausgelaugter Gewerkschaft“ und dem Nachtreten derjenigen, die das Streikrecht schleifen wollen vom 10. August 2015 sowie kurz vorher Die Gewerkschaftsspitze allein zu Haus? Das Ergebnis der Mitgliederbefragung zum Schlichtungsergebnis im Streik der Sozial- und Erziehungsdienste und das „Fliegenfänger“-Problem der Verdi-Führungsebene vom 8. August 2015.
Aber die Arbeitgeberseite war gnädig – man vertagte die neue Runde an Verhandlungen bis nach der Wiederwahl von Frank Bsirske als Vorsitzender der Gewerkschaft Verdi und gab dann einige kleinere kosmetische Verbesserungen an die aus ihrer Sicht schon längst ausgehandelte Angelegenheit. Ergebnis dieser Verhandlungsrunde war dann die Tarifeinigung für die Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst vom 30. September 2015. Interessierte Leser mögen einfach mal die beiden Papiere mit den neuen Tabellenwerten nebeneinander legen.
Nach monatelangem erbittertem Tarifstreit sieht der neue Kompromiss zwischen Gewerkschaften und kommunale Arbeitgeber bei der Bezahlung im Sozial- und Erziehungsdienst vor, dass die rund 240.000 dort Beschäftigten rückwirkend zum 1. Juli durchschnittlich 3,73 Prozent mehr Gehalt bekommen sollen – wenn denn die Gewerkschaftsmitglieder nun endlich zustimmen, die Erklärungsfrist für die Gewerkschaften läuft noch bis Ende Oktober 2015. Die Schlichtungsempfehlung aus dem Juni dieses Jahres beinhaltete Gehaltserhöhungen von durchschnittlich 3,19 Prozent.
Andreas Wyputta hat seinen Artikel zu den neuen Ergebnissen unter die Überschrift gestellt: Umverteilung unter Arbeitnehmern. Er kommt gleich im Untertitel seines Beitrags zu der zentralen Bewertung: Die kommunalen Arbeitgeber haben sich durchgesetzt. Der Präsident der Vereinigung der Kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA), Thomas Böhle, sieht sich als „klarer Sieger“ und wird mit diesen Worten zitiert:
»Der Kompromiss mit den Gewerkschaften entspreche „im Wesentlichen dem Schlichterspruch“. Mit 315 Millionen Euro zahlten Städte und Gemeinden nur 9 Millionen Euro mehr als von den Schlichtern vorgesehen.«
Um der missmutigen Gewerkschaftsbasis das neue Ergebnis schmackhaft zu machen, hat man zu einem nicht unbekannten Dreh gegriffen: Die oberen Lohngruppen bekommen eine geringe Gehaltserhöhung, untere sehen dafür mehr Geld. Man hat also ordentlich umverteilt, nicht aber das Volumen deutlich erhöht:
»Während die Schlichter Lohnerhöhungen zwischen 33 und 161 Euro vorsahen, haben die Arbeitnehmervertreter diese Spanne nun auf 98 bis 138 Euro kleinverhandelt. SozialarbeiterInnen im Allgemeinen Sozialdienst, denen zunächst eine Nullrunde gedroht hatte, sollen nach dem nun vorliegenden Kompromiss zwischen 30 und 80 Euro brutto mehr im Monat erhalten.«
Dass das jetzt am Ende bestätigt wird, dafür sorgt wahrscheinlich diese Besonderheit:
»Die Gewerkschaftsbasis wird in einer Urabstimmung bis Ende Oktober über den Kompromiss beraten … Um dem neuen Tarifvertrag Geltung zu verschaffen, müssen nur 25 Prozent der Gewerkschafter zustimmen – und nicht 50 wie bei der Mitgliederbefragung.«
Diese Erfahrungen werden bei der einen oder dem anderen Ernüchterung auslösen. Auf der anderen Seite muss man in der Tarifpolitik auch verlieren können, vor allem, wenn die Rahmenbedingungen so sind, wie sie sind. Man sollte das dann aber wenigstens nicht auch noch als „Eigentlich-Erfolg“ verkaufen. Glaubwürdigkeit schafft man anders.
Nachtrag am 07.10.2015: Das neue Herbstgutachten der Wirtschaftsforschungsinstitute ist unter dem Titel Deutsche Konjunktur stabil – Wachstumspotenziale heben veröffentlicht worden. In dem Artikel Das raten die Wirtschaftsforscher der Bundesregierung findet man diesen aufschlussreichen Passus:
„Moderne Volkswirtschaften wachsen in abnehmendem Maße durch Investitionen in Beton und in zunehmendem Maße durch Investitionen in Köpfe“, betonen die Forscher. „Hier gilt es, Wachstumspotenziale zu heben.“ Konkret wird vorgeschlagen, nicht nur die Zahl der Kita-Plätze zu erhöhen, sondern auch die Qualität der Betreuung zu erhöhen – vor allem für sozial benachteiligte Kinder.