Sie haben es ja auch nicht leicht, die Dienstleistungsgewerkschafter von ver.di. An gefühlt tausend Fronten gleichzeitig sind sie gefordert und im Einsatz. Man denke an dieser Stelle nur zurück in das Streikjahr 2015. Die Postler wurden in den Arbeitskampf geführt, die Sozial- und Erziehungsberufe ebenfalls – große, teilweise mehrwöchige Arbeitskämpfe. Daneben die vielen kleinen Scharmützel mit den Arbeitgebern, jeder kennt die „Und ewig grüßt das Murmeltier“-Streikaktionen bei Amazon, um den Konzern in die Tarifbindung zu zwingen, was bislang an diesem abperlt wie Spucke auch Teflon. Sie haben wahrlich harte Jahre hinter sich, nicht nur aufgrund dessen, was man als Tertiarisierung der Arbeitskonflikte bezeichnet, also die Verlagerung der Auseinandersetzungen von der Industrie in den Dienstleistungsbereich (vgl. dazu ausführlicher den Beitrag Jetzt die Dienstleistungen als – ambivalente – Speerspitze der Arbeiterbewegung? Von der Tertiarisierung der Streiks, Häuserkämpfen und „Organizing“ als Hoffnungsträger vom 13. Januar 2017), sondern bereits die Geburt dieser Riesengewerkschaft im Jahr 2001 waren mit ganz erheblichen und lang andauernden Wehen verbunden und die Organisation hat bis heute unter den Folgen der Vereinigung ganz unterschiedlicher Vorgänger-Gewerkschaften mit ganz eigenen Kulturen und Menschen zu leiden.
2001 hatten sich in der bislang größten Gewerkschaftsfusion der bundesdeutschen Geschichte die Gewerkschaften Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV), Handel, Banken, Versicherungen (HBV), Deutsche Postgewerkschaft (DPG), IG Medien sowie die Deutsche Angestelltengewerkschaft (DAG) zusammengetan. Das war ein konflikthaftes Zusammenwachsen von ganz unterschiedlichen Gewerkschaften – in denen es teilweise bis zum Schluss erhebliche Widerstände gegen die Großfusion gegeben hat. Man reagierte darauf wie man es in solchen Organisationen erwarten kann – über die Ausgestaltung der Organisationsstruktur sollten auch die letzten Skeptiker bedient und eingebunden werden. Das ist eine Vorgehensweise, die wir auch aus anderen Organisationen kennen, beispielsweise den Kirchen – und die eines auf alle Fälle schafft: Komplexität und Reibungsenergie.
Es entstanden 13 branchenbezogene Fachbereiche wie auch Ortsvereine und ehrenamtliche Vorstände mit eigenen Budgets auf allen Ebenen. Hinzu kam eine weitere Dimension: Personengruppen von Erwerbslosen über Arbeiter, Jugend, Beamte, Selbstständige, Meister, Techniker, Ingenieure bis hin zu Migranten und Senioren können sich in den Bezirken konstituieren und mit Sitz und Stimme in die Vorstandsgremien einbringen. Die nebenstehende Abbildung von ver.di selbst verdeutlicht auf einen Blick, mit was für eine mehrdimensional angelegten Matrix-Organisation wir es zu tun haben. Und das hat man ja nicht aus Spaß an der Komplexitätssteigerung gemacht, sondern um möglichst alle irgendwie „mitzunehmen“ oder ihnen wenigstens das Gefühl zu geben. Und hinter den ganzen Klimmzügen stand damals eine strategische Überlegung, der man auch in vielen Teilen der Wirtschaft begegnen kann: die geballte Kraft der schieren Größe sollte „Marktvorteile“ erschließen, man wollte wesentlich durchsetzungsfähiger werden als im Gehäuse der alten und kleineren Gewerkschaften. Aber: Mit anfänglich 2,8 Millionen Mitgliedern war ver.di die größte Mitgliedsorganisation des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). Doch heute ist die Dienstleistungsgewerkschaft mit rund zwei Millionen Mitgliedern deutlich schwächer als die IG Metall.
Der Mitgliederschwund lässt sich zum einen auf externe Faktoren zurückführen, so verschwanden aufgrund der technischen Entwicklung viele Jobs in der Druckindustrie, die ohne Zweifel eine gewerkschaftliche Hochburg war. Aber auch Mitgliederverluste aufgrund mangelnder Identifikation mit dem Kunstgebilde einer „Dienstleistungsgewerkschaft“, in der ganz viele unterschiedliche Branchen und Berufe organisiert werden müssen, waren zu verzeichnen. Aus finanziellen Gründen wurde die personelle Betreuung der Mitglieder in der Fläche ausgedünnt.
Einen differenzierten und lesenswerten Blick aus der Perspektive der im Arbeitgeber-Institut der deutschen Wirtschaft angesiedelten „Gegner-Beobachtung“ hat Hagen Lesch in seinem Beitrag Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di – Tarifpolitische Entwicklungen und Herausforderungen Anfang des Jahres 2017 publiziert:
»Fünfzehn Jahre nach der Gründung fällt die ver.di-Bilanz eher gemischt aus. Die Anzahl der Mitglieder sank um 27 Prozent und die Tarifbindung ging in einzelnen Tarifbereichen spürbar zurück. So sank der Anteil der tarifgebundenen Arbeitnehmer im westdeutschen Handel von 69 Prozent im Jahr 2000 auf zuletzt 42 Prozent. Darüber hinaus geriet die Organisation durch die Bildung von Spartengewerkschaften unter Druck und sie musste sich vermehrt Forderungen der Arbeitgeber nach Veränderungen der Manteltarifverträge stellen. Die Gewerkschaft reagierte mit einer expansiveren Tarifpolitik, die mit einer Zunahme der Arbeitskämpfe einherging. Entstehende Konflikte wurden dazu genutzt, neue Mitglieder zu gewinnen. Tatsächlich hat sich der Mitgliederrückgang in den letzten Jahren verlangsamt und es gelang in vielen Tarifbereichen, wieder Anschluss an die allgemeine Lohnentwicklung zu finden.«
Aber wieder zurück in die Gegenwart und nochmals das „Streikjahr 2015“ aufrufend – die Auseinandersetzungen bei der Post und im Sozial- und Erziehungsdienst haben die Streikkassen strapaziert. Auch das ist – neben den sinkenden Mitgliederzahlen – sicherlich ein Grund dafür, dass ver.di nach Wegen sucht, sich organisatorisch neu aufzustellen, so die Annahme von Richard Färber in seinem Artikel Ver.di-Matrix Reloaded. In diesem Artikel wird berichtet über die anstehenden Umbaumaßnahmen in der Gewerkschaft. Er berichtet, dass die Zahl der Fachbereiche radikal von derzeit 13 auf nur noch vier reduziert werden soll, die dann zahlenmäßig etwa gleich stark wären. Nur der bisherige Fachbereich 3 (Gesundheit, soziale Dienste, Wohlfahrt und Kirchen) würde demnach künftig als Fachbereich mit dem Arbeitstitel Fachbereich D in der alten Form weiter existieren.
Hintergrund ist ein Papier mit dem Titel Position des Bundesvorstands zur Zukunft der Fachbereiche in Ver.di. Darin wird versucht, die angestrebte Neuordnung inhaltlich zu begründen:
»Wir wollen uns für die bereits begonnenen und zukünftig noch bevorstehenden Branchenentwicklungen und Umwälzungen vieler Branchen insbesondere durch die Digitalisierung zukunftsgerecht aufstellen. Dies erfordert eine neue Betrachtung der ver.di-internen Abbildung der bisherigen Branchenzuschnitte innerhalb oftmals enger Fachbereichsgrenzen. Dabei sollen auch Unschlüssigkeiten in der bisherigen Struktur, die teils aus dem Gründungsprozess herrühren, teils durch unterschiedliche Branchenentwicklungen entstanden sind, auf den Prüfstand.«
Im weiteren Verlauf der Argumentation in dem Papier kommt man dann auf das wohl eigentliche Anliegen organisationsinterner Effizienz- und Effektivitätssteigerung zu sprechen:
»Gerade wenn wir die kollektive Arbeit erfolgreich weiterentwickeln wollen, brauchen wir ausreichend große Teamstrukturen und sinnvolle Führungsspannen in den Fachbereichen. Diese bieten Möglichkeiten zum Austausch und zu regelmäßiger Rückkoppelung und zur gegenseitigen Vertretung. Derzeit sind viele Ehren- und Hauptamtliche in etlichen Fachbereichen – insbesondere in Flächenbezirken – weitgehend auf sich allein gestellt … Einzelsekretär/-innen von Fachbereichen für immer größere Betreuungsregionen sind genauso wenig sinnvoll, wie ein sich eher aus Zufälligkeiten ergebendes Stellen-Splitting einzelner Stellen zwischen mehreren Fachbereichen … Mit der Bündelung in vier große Fachbereiche soll eine sinnvolle Flächenpräsenz erreicht werden, in Betreuungsregionen für die jeweiligen Fachbereichssekretär/-innen, die mit angemessenen Wegezeiten zu bewältigen sind. Die vorgeschlagene Gliederung der Fachbereiche bietet die Möglichkeit zur Schaffung von Teamstrukturen in den Regionen und auf der Landesbezirksebene.«
Dass es organisatorischen Reformbedarf gibt, ist auch von außen betrachtet mehr als offensichtlich, wobei die vom Bundesvorstand versuchsweise in den Vordergrund geschobene inhaltliche Begründung mit der „Digitalisierung“ doch etwas bemüht daherkommt.
Den angesprochenen Reformbedarf kann man auch an diesem Beispiel ablesen: »Zusätzlich zur Zusammenlegung soll auch die Zuordnung der Berufe in die Fachbereiche überprüft werden. Tatsächlich konnte es bisher passieren, dass Beschäftigte, die dieselbe Arbeit leisten, in unterschiedlichen Fachbereichen angesiedelt waren. So ergeht es etwa den Kolleginnen und Kollegen im Erziehungsdienst, für die bislang je nach dem Träger der Kita verschiedene Verdi-Gliederungen zuständig sind. Bei der Vorbereitung gemeinsamer Aktionen erwies sich das in der Vergangenheit oft als Hindernis«, so Johannes Supe in seinem Artikel Verdi baut um. Er wirft allerdings auch diverse Fragen auf, die in den kommenden Monaten sicher diskutiert werden: »Wird von den Gewerkschaftssekretären nach der Zusammenlegung nicht eben doch erwartet werden, weitaus mehr Branchen zu betreuen als bislang? Zudem würden die künftigen Großgliederungen je von einer Person geleitet – die dann beispielsweise für Angelegenheiten in der Finanzbranche ebenso zuständig wäre wie für die bei Ver- und Entsorgung. Wird es da möglich sein, auf die Belange des Fachbereichs ähnlich detailliert einzugehen, wie das in der bisherigen Struktur der Fall war?«
Das neue Modell soll vom Bundeskongress 2019 beschlossen und dann zügig umgesetzt werden. Bereits 2018 beginnen turnusgemäß die Orgnisationswahlen innerhalb von ver.di und die werden dann natürlich im Schatten der anstehenden Organisationsreform stehen.
»Der Prozess dürfte in jedem Fall viele Energien binden, die dann möglicherweise nicht voll für Tarifrunden, Betriebskämpfe und politische Kampagnen zur Verfügung stehen«, prognostiziert Richard Färber in seinem Artikel und erinnert an die Zeit nach der Gründung von ver.di im Jahr 2001. Angesichts der erheblichen Probleme in wichtigen Bereichen wie dem Einzelhandel, den Transportdiensten (vor allem Paketzustellung), im Kita-Bereich oder die unbedingt notwendige, allerdings aus unterschiedlichen Gründen bislang nicht wirklich erfolgreiche Expansion der Gewerkschaft nie Pflegebereich wären das keine guten Perspektiven.
Man muss die ambivalenten, teilweise kaum lösbaren dilemmatischen Herausforderungen für die Gewerkschaft ver.di deutlich benennen: Gerade der große Streik im Sozial- und Erziehungsdienst 2015, oft verkürzend als „Kita-Streik“ bezeichnet, hat gezeigt, dass es auf der einen Seite die Zielvorstellung gibt, die Erzieher/innen in den immer bedeutsamer werdenden Kindertageseinrichtungen tendenziell und streiktechnisch gesehen als „neue Müllmänner“ für kommende Tarifauseinandersetzungen im öffentlichen Dienstleistungsbereich in den Vordergrund zu schieben (vgl. hierzu genauer den Beitrag Erzieherinnen als „Müllmänner 2.0“? Der Kita-Streik stellt mehrere Systemfragen gleichzeitig vom 7. Mai 2015), zugleich bindest das natürlich enorme Ressourcen, die von den vielen anderen Branchen und Berufen mitfinanziert werden müssen – und das in einer Organisation, die aufgrund ihrer unglaublichen Heterogenität für viele Mitglieder keine unmittelbar aus der eigenen Zugehörigkeit ableitbaren Solidaritätsenergien produziert, weil da irgendwie alles und alle organisiert sind.
Man kann an dieser Stelle passend auch die Ausführungen von Hagen Lesch aus dem Arbeitgeber-Institut der deutschen Wirtschaft als „Mahnung“ einbauen:
»Als Multibranchengewerkschaft mit den meisten Tarifbereichen steht ver.di vor großen Herausforderungen. Das Hauptproblem dürfte sein, sich nicht in endlosen Kleinkonflikten wie beim Versandhändler Amazon zu verlieren. Angesichts der organisatorischen Breite führen Häuserkämpfe zu einem enormen personellen wie finanziellen Ressourcenverbrauch. Da einzelne Fachbereiche hiervon unterschiedlich betroffen sind, könnte dies langfristig den Zusammenhalt der Multibranchengewerkschaft gefährden.«
Und man muss auch darauf hinweisen dürfen, dass die Erfolge der beiden Großkonflikte des Jahres 2015 mehr als überschaubar, wenn nicht deprimierend waren (vgl. zu dieser explizit kritischen Sichtweise am Beispiel des „Kita-Streiks“ den Beitrag Da war doch noch was: Ein Arbeitskampf => ein Schlichtungsergebnis => dessen Ablehnung von unten => neue Verhandlungen nach der Wiederwahl des Vorsitzenden => eine Wiederauferstehung des Schlichtungsergebnisses, garniert mit kosmetischen Korrekturen vom 7. Oktober 2015 sowie zum letztendlich gescheiterten Streik bei der Deutschen Post den Beitrag Das Ende des Post-Streiks: Ein „umfassendes Sicherungspaket“ (für die, die drin sind) und ein verlorener Kampf gegen die Billig-Post vom 6. Juli 2015).
Man kann angesichts der Notwendigkeit gewerkschaftlichen Handelns gerade in den von ver.di betreuten Branchen, die sich im Zentrum einer erkennbaren Verschlechterung von Arbeitsbedingungen befinden (z.B. Einzelhandel, Paketdienste, Pflege), nur hoffen, dass der große Umbau der Organisation mit vielen Konsequenzen für einzelne Personen nicht zu den Effekten führt, die man oft in Konzernen beobachten kann, wenn ein Stoßtrupp von angeheuerten Unternehmensberatern alles und alle auf den Kopf gestellt hat und man den Powerpoint-Folien schöner neuer Organisationsstrukturen folgt und dann Jahre der Aufräumarbeiten braucht, wenn sich herausstellt, dass das innerhalb der Organisation zu zahlreichen Lähmungs- und Verweigerungseffekten geführt hat.