Hartz IV: Sind 40% von 100% trotzdem noch eigentlich 100% eines „menschenwürdigen Existenzminimums“? Ob die Sanktionen im SGB II gegen die Verfassung verstoßen, muss nun ganz oben entschieden werden

Sanktionen sind eines der umstrittensten Themen innerhalb der Grundsicherung, dem Hartz IV-System. Dazu gibt es jetzt einen Vorstoß aus den unteren Etagen der Sozialgerichtsbarkeit direkt in die Höhen des Bundesverfassungsgerichts:
»Eine Kürzung des Arbeitslosengeldes II bei Pflichtverstößen des Empfängers ist nach Ansicht des Sozialgerichts Gotha verfassungswidrig – weil sie die Menschenwürde des Betroffenen antasten sowie Leib und Leben gefährden kann. Die 15. Kammer des Gerichts sei der Auffassung, dass die im Sozialgesetzbuch (SGB) II festgeschriebenen Sanktionsmöglichkeiten der Jobcenter gegen mehrere Artikel des Grundgesetzes verstoßen, teilte das Gericht in Gotha am Mittwoch mit. Deshalb wolle es diese Sanktionen nun vom Bundesverfassungsgericht prüfen lassen.«
Das Sozialgericht Gotha sei nach eigenen Angaben – so die Meldung des MDR unter der Überschrift Sozialgericht hält ALG-II-Kürzung für verfassungswidrig – das bundesweit erste Gericht, das die Frage aufwerfe, ob die Sanktionsmöglichkeiten der Jobcenter mit dem Grundgesetz vereinbar sind.

Zum Sachverhalt, bei dem es letztendlich um die Frage der Verfassungswidrigkeit einer 60%-Kürzung geht:

»Das Gericht urteilte in einem Fall, bei dem ein Mann vom Jobcenter Erfurt Arbeitslosengeld (ALG) II bezog. Nachdem er ein Arbeitsangebot abgelehnt hatte, wurde ihm das ALG II um 30 Prozent, also um 117,30 Euro monatlich gekürzt. Wegen einer weiteren Pflichtverletzung – der Mann lehnte eine Probetätigkeit bei einem Arbeitgeber ab – wurde ihm die Leistung später um weitere 30 Prozent gekürzt, insgesamt also nun um 234,60 Euro pro Monat. Dagegen reichte der Mann Klage am zuständigen Sozialgericht Gotha ein.«

Die 15. Kammer des SG Gotha sieht hier das Grundgesetz in mehrfacher Hinsicht verletzt:

»So bezweifeln die Richter, dass die Sanktionen mit der im Artikel 1 festgeschriebenen Unantastbarkeit der Menschenwürde und der im Artikel 20 festgeschriebenen Sozialstaatlichkeit der Bundesrepublik vereinbar sind. Denn aus diesen Artikeln ergebe sich ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, das bei einer Kürzung oder kompletten Streichung des Arbeitslosengeldes II gefährdet sei, so das Gericht. Außerdem stünden die Sanktionen im Widerspruch zu den Artikeln 2 und 12 des Grundgesetzes, weil sie die Gesundheit oder gar das Leben des Betroffenen gefährden könnten. Die genannten Grundgesetz-Artikel garantierten jedoch das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.«

Die Befassung des höchsten deutschen Gerichts wird in zweierlei Hinsicht interessant:

Zum einen haben wir – soweit man das von außen der Sachverhaltsdarstellung entnehmen kann – im vorliegenden Fall eine Arbeitsverweigerung als sanktionsauslösenden Tatbestand, damit wäre der „Kernbereich“ dessen berührt, was die Befürworter von Sanktionen immer vorbringen, also die aktive Verweigerung einer vielleicht möglichen Beendigung der Hilfebedürftigkeit durch eine Arbeitsaufnahme mit der Folge, dass die Solidargemeinschaft gegen diese missbräuchliche Inanspruchnahme geschützt werden müsse.

Zum anderen – und aus einer grundsätzlichen Perspektive wesentlich relevanter – wird hier ein Grundwiderspruch (?) im bestehenden Grundsicherungssystem aufgerufen: Immer wieder wird auf die wegweisende Entscheidung des BVerfG aus dem Jahr 2010 über die (teilweise, weil auf die Festsetzung des kinderspezifischen Bedarfs bezogene) Verfassungswidrigkeit der damaligen Regelleistungen im Hartz IV-System (BVerfG, Urteil vom 09. Februar 2010 – 1 BvL 1/09) hingewiesen. In den Leitsätzen zu dieser Entscheidung findet sich die folgende Formulierung:

»Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.«

Im weiteren Verlauf der Entscheidungsbegründung des BVerfG findet man die folgende Ausführung:

»Dieses Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG hat als Gewährleistungsrecht in seiner Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG neben dem absolut wirkenden Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG auf Achtung der Würde jedes Einzelnen eigenständige Bedeutung. Es ist dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden …«

Vor dem Hintergrund dieser Formulierung kann man schon auf die an sich naheliegenden Frage kommen, wie es denn im Lichte des offensichtlich unbedingten Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums möglich sein soll und kann, einem Hilfebedürftigen dieses unbedingte Grundrecht zu entziehen? Ist das nicht ein Widerspruch in sich?

An dieser Stelle sei auf eine weitere Entscheidung des BVerfG hingewiesen, aus dem Jahr 2012, als die Verfassungswidrigkeit der Höhe der Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz festgestellt wurde. In BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012 – 1 BvL 10/10 findet man bei den Leitsätzen den folgenden Passus:

»Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG garantiert ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (vgl. BVerfGE 125, 175). Art. 1 Abs. 1 GG begründet diesen Anspruch als Menschenrecht. Er umfasst sowohl die physische Existenz des Menschen als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Das Grundrecht steht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu.«

Und unter der Absatz-Nr. 120 findet man den folgenden Hinweis:

»Auch eine kurze Aufenthaltsdauer oder Aufenthaltsperspektive in Deutschland rechtfertigte es im Übrigen nicht, den Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums auf die Sicherung der physischen Existenz zu beschränken. Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG verlangt, dass das Existenzminimum in jedem Fall und zu jeder Zeit sichergestellt sein muss.«

In der ersten Gesamtschau verfestigt sich das Bild, dass eine Sanktionierung, wie man sie dem Sachverhalt des Sozialgerichts Gotha entnehmen kann, gegen die Unbedingtheit dieses Grundrechtsanspruchs verstößt.

In diese Richtung argumentierte im Jahr 2013 auch der ehemalige Richter am Bundesgerichtshof und damalige Bundestagsabgeordnete Wolfgang Nešković in einem Streitgespräch mit Uwe Berlin, Vorsitzender Richter am Bundesverwaltungsgericht, im Rahmen der Veranstaltung „Sanktionen im SGB II – nur problematisch oder verfassungswidrig?“ am 10.07.2013 in Berlin. In einem Thesenpapier postulierte Nešković:

»Die Sanktionsnormen der §§ 31 ff. SGB II verstoßen in zweierlei Hinsicht fundamental gegen das Grundrecht auf Zusicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums:

  • Es sind keine das Grundrecht ausgestaltenden Normen, wie sie das BVerfG zur Bestimmung des Leistungsumfangs verlangt. Denn sie berechnen keinen Bedarf, sondern ignorieren ihn. Da bereits Normen, die auf einer willkürlichen Bedarfsschätzung beruhen, gegen das Grundrecht verstoßen (Hartz-IV- Entscheidung des BVerfG), muss dies erst recht für Normen gelten, die Leistungen völlig abgekoppelt von dem tatsächlichen Bedarf zuerkennen.
  • Es liegt jedenfalls ab einer Sanktion von mehr als einem Drittel der Regelleistung außerdem eine evidente Unterschreitung des menschenwürdigen Existenzminimums vor. Dies hat das BVerfG in seiner Entscheidung zum AsylbLG unmissverständlich erkannt: „Doch offenbart ein erheblicher Abstand von einem Drittel zu Leistungen nach dem Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch, deren Höhe erst in jüngster Zeit zur Sicherung des Existenzminimums bestimmt wurde …, ein Defizit in der Sicherung der menschenwürdigen Existenz.“«

Aber so eindeutig ist es dann auch wieder nicht, wie die Ausführungen von Uwe Berlit zeigen (auch er hatte ein Thesenpapier veröffentlicht sowie eine längere Abhandlung: Uwe Berlit: Sanktionen im SGB II – nur problematisch oder verfassungswidrig? In: info also, Heft 5/2013. S. 195 ff.). Seine – von Nešković’s Thesen stark abweichende – Auffassung, hier zitiert aus seinem Artikel in info also:

»Rechtsprechung und Literatur halten nahezu einhellig die Sanktionsregelungen des SGB II insgesamt und weitgehend auch im Detail für mit dem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum vereinbar … Die These von der Verfassungswidrigkeit des Sanktionensystems insgesamt hat juristisch einen erheblichen Begründungsbedarf. Die Verfassungskonformität der Sanktionsregelungen des SGB II ist nicht seit Jahren umstritten. Die Rechtsprechung – bis hin zum BSG – wendet sie an. Das verfassungs- und sozialrechtliche Schrifttum sieht weit überwiegend dem Grunde nach keine Bedenken. Allenfalls in Einzelfragen wird für eine verfassungskonform einschränkende Auslegung plädiert. Beispiele sind die besondere Sanktionierung unter 25-Jähriger oder die vormalige Sanktionierung des Nichtabschlusses einer Eingliederungsvereinbarung.«
Es ist interessant, wie Berlit argumentiert, wenn es um die bereits angesprochene – scheinbare (?) – Widersprüchlichkeit geht, dass ein Grundrecht auf eine Existenzminimum durch eine Sanktionieren nach unten unterschritten wird:

»Grundrechtsdogmatisch sind Sanktionen kein Eingriff in das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum, sondern eine abgesenkte Form der Leistungsgewährung wegen – vermeintlich oder tatsächlich – geringerer Schutzwürdigkeit.«

Letzendlich – und das macht den Ausgangsfall aus Gotha, der nun an Karlsruhe weitergeleitet wird, so spannend – geht es um ein ungelöstes Grunddilemma des gesamten Grundsicherungssystems im SGB II: Hartz IV stellt sich dar als ein „nicht-bedingungsloses Grundeinkommen“ und aus dieser Charakterisierung lassen sich auch ganz zentrale Konfliktfelder des SGB II-Systems ableiten. Nun könnte man vor dem Hintergrund der Grundrechtsausführungen des BVerfG auf die Idee kommen, dass aber dann wenigstens das Existenzminimum geschützt sein müsse gegen eine Absenkung.

Hierzu finden wir in dem Beitrag von Berlit (2013) einige interessante Hinweise:

»Weder das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum noch das Sozialstaatsprinzip fordern ein bedingungsloses Grundeinkommen oder sonst eine voraussetzungslose Sicherung des Existenzminimums«, so Berlit (2013: 199). Er geht hier explizit ein auf das bereits zitierte Urteil des BVerfG aus dem Jahr 2010:
»Das Regelbedarfsurteil befasst sich nur mit der Ausgestaltung des Leistungsanspruchs. Der Fokus liegt nicht auf den tatbestandlichen Leistungsvoraussetzungen.« Und dann kommt der entscheidende Passus:

»Bereits der Begriff „Hilfebedürftiger“ macht deutlich: Das Grundgesetz verlangt keine tatbestandlich ungebundene, voraussetzungslose Leistungsgewährung oder ein solche, die tatbestandlich allein auf die Anrechnung tatsächlich verfügbaren, bedarfsdeckenden Einkommens oder Vermögens abstellt. Eine positive Schutzpflicht des Staates besteht vielmehr nur dann, „wenn einem Menschen die zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins notwendigen materiellen Mittel fehlen, weil er sie weder aus seiner Erwerbstätigkeit, noch aus eigenem Vermögen noch durch Zuwendungen Dritter erhalten kann.“ Dies umfasst auch die Mittelbeschaffung durch Erwerbsarbeit. das SGB II ist eine – verfassungsrechtlich zumindest mögliche – klare Entscheidung gegen ein bedingungsloses Grundeinkommen oder eine unbedingte Grundsicherung.« (Berlit 2013: 199)
Diese Ausführungen sollen nur aufzeigen – auch wenn jetzt der Gang nach Karlsruhe begonnen wurde -, dass sich die Gegner der Sanktionen nicht zu früh freuen sollten. Am Ende kann auch eine Entscheidung stehen, die der Logik folgt, die man in Berlit’s Ausführungen erkennen kann.

Aber wie heißt es so treffend: Auf hoher See und vor Gericht ist man in Gottes Hand.

Arbeitsmarktpolitik: Neue Förderprogramme fressen alte auf. Kannibalisierung in der Förderpolitik der Jobcenter für Langzeitarbeitslose und wieder die Grundsatzfrage: Was hilft wem wie?

»Die Arbeitsministerin hat neue Programme für Langzeitarbeitslose aufgelegt – und muss nun an anderer Stelle kürzen. Die Folge: Den Jobcentern fehlen Millionen Euro. Junge Arbeitslose gehen leer aus«, berichtet Stefan von Borstel in seinem Artikel Andrea Nahles stürzt Jobcenter ins Förderchaos.

Im November des vergangenen Jahres wurde wieder einmal ein neues Förderprogramm der Öffentlichkeit präsentiert. Mit Lohnkostenzuschüssen will die Bundesarbeitsministerin 43.000 schwer vermittelbare Arbeitslose ohne Berufsabschluss wieder zu einem regulären Job verhelfen. Eine Milliarde Euro, so kündigte die Ministerin an, würden dafür ausgegeben. So weit, so schön, wenn … Ja, wenn das zusätzliche Mittel wären. Oder wenn Maßnahmen gestrichen werden, die nachweislich keine Wirkung haben und mit denen man bislang Geld verschwendet hat, denn dann würde ein Wegfall dieser Maßnahmen keine negativen Auswirkungen haben auf die betroffenen Langzeitarbeitslosen. Zugleich müssten die neuen Fördermaßnahmen effektiver sein als das, was man bislang angestellt hat mit den Hartz IV-Empfängern. Diese Punkte werden in dem zitierten Artikel von Borstel nicht direkt thematisiert, müssten aber für eine vollständige Bewertung berücksichtigt werden.

Dem Artikel kann man entnehmen: »Um die neuen Spezialmaßnahmen für Langzeitarbeitslose zu finanzieren, muss Nahles an anderer Stelle in ihrem Etat sparen. Mitte März bekamen die Jobcenter Post aus dem Arbeitsministerium: Sie wurden darüber informiert, dass sie in den nächsten Jahren weit weniger Fördermittel abrufen können als bislang zugesagt. Allein in den nächsten drei Jahren sind es rund 750 Millionen Euro weniger.«

„Beabsichtigte Maßnahmen wurden damit von heute auf morgen infrage gestellt, zum Teil mussten bereits veröffentlichte Ausschreibungen zurückgezogen werden.“ Mit diesen Worten wird die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Brigitte Pothmer, zitiert. Sie hat die Zahlen über eine Anfrage an die Bundesregierung öffentlich gemacht. Die hatte sich schon im April zu Wort gemeldet mit einer Stellungnahme das neue Programm betreffend: Nahles-Programm für Langzeitarbeitslose bleibt weit hinter den Erwartungen zurück. Darin heißt es: »Statt mit angestrebten 33.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer planen die Jobcenter lediglich mit etwas mehr als 24.000 Plätzen … Angesichts von mehr als einer Million Langzeitarbeitslosen werden von dem Programm nach dem jetzigen Stand gerade einmal 2,4 Prozent der Betroffenen erreicht.« Und bereits in dieser Stellungnahme aus dem April weist Pothmer darauf hin:

»Auf die Teilnahme am Nahles-Programm können viele Jobcenter trotz inhaltlicher Bedenken und trotz des hohen Aufwands nicht verzichten, da ihnen sonst noch weniger Fördermittel als ohnehin zur Verfügung stünden. Nicht nur die steigenden Verwaltungskosten zehren Jahr für Jahr am Topf für die aktive Arbeitsmarktpolitik. Auch das Bundesprogramm wird teilweise aus diesen Mitteln finanziert. Dabei handelt es sich allein im Jahr 2015 um 117 Millionen Euro, für 2016 werden 204 Millionen Euro veranschlagt. Dieses Geld steht den Jobcentern nicht zur freien Verfügung, sondern ist an das Bundesprogramm gebunden.«

Es wurde am Anfang dieses Beitrags schon erwähnt, dass ein wichtiges Kriterium wäre, ob der Wegfall der alten Förderung unsinnige Maßnahmen betrifft. Denn dann müsste eine Bewertung anders ausfallen, als wenn durchaus sinnvolle Maßnahmen aus haushaltstechnischen Gründen zum Verdrängungsopfer werden. Einen Hinweis, dass der letzte Punkt nicht auszuschließen ist, kann man dem folgenden Beispiel aus Nordrhein-Westfalen entnehmen, mit dem konkretisiert wird, was denn gestrichen oder erschwert wird:

»Zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen, dem bevölkerungsreichsten Bundesland. Dort können Jobcenter keine mehrjährigen Ausbildungsmaßnahmen für junge Menschen mehr finanzieren, weil Nahles die Verpflichtungsermächtigungen für die folgenden Jahre zusammengestrichen hat. Für das kommende Jahr wurden die Mittel um zehn Prozent, für die Jahre danach um 40 bis 50 Prozent gekürzt. „Planung und Ausschreibung von Ausbildungsplätzen für die Zielgruppe der benachteiligten jungen Menschen im Rechtskreis SGB II (Hartz IV) wird hierdurch unmöglich gemacht“, heißt es in einem Schreiben der Landesarbeitsgemeinschaft Jugendsozialarbeit an die Ministerin in Berlin.
Damit erhielten viele junge Menschen, die derzeit in Jugendwerkstätten, Produktionsschulen oder berufsvorbereitenden Maßnahmen fit für eine Ausbildung gemacht würden, keinen Anschluss und Übergang in ein weiteres Förderangebot.«

Auf die Situation der jungen Arbeitslosen in Nordrhein-Westfalen wurde schon an anderer Stelle kritisch hingewiesen und das sollte man wissen, um die neuere Verengung der Fördermöglichkeiten richtig einordnen zu können:

»40 Prozent der Hartz IV-Empfänger unter 25 Jahren sind schon seit mehr als vier Jahren hilfebedürftig. Dennoch erhalten sie immer weniger arbeitsmarktpolitische Fördermaßnahmen und stattdessen mehr Sanktionen und Leistungskürzungen. Das kritisiert die Freie Wohlfahrtspflege Nordrhein-Westfalen in der aktuellen Ausgabe des Arbeitslosenreports«, so O-Ton Arbeitsmarkt in dem Artikel Arbeitslosenreport der Freien Wohlfahrtspflege NRW: Jugendliche werden nicht ausreichend gefördert.

Den Finger auf eine grundsätzliche Wunde der deutschen Arbeitsmarktpolitik legt der Deutsche Landkreistag: „Die Handlungsmöglichkeiten der Jobcenter sollten nicht durch immer neue Bundesprogramme für kleine Personengruppen eingeschränkt werden“, fordern die Landkreise in ihrer Stellungnahme zu einer Anhörung zum Thema Langzeitarbeitslosigkeit vor dem Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales am Montag, dem 18. Mai 2015.

Bereits im Februar 2015 berichtete O-Ton Arbeitsmarkt über die ernüchternden Ergebnisse einer Befragung hessischer Jobcenter zu dem neuen Förderprogramm: Bundesprogramm für Langzeitarbeitslose: Viel Aufwand, wenig Nutzen. »Nicht durchdacht, zu viel Aufwand, zu wenig Nutzen. So denken hessische Jobcenter über das ESF-Förderprogramm für Langzeitarbeitslose von Arbeitsministerin Nahles. Dennoch werden zwei Drittel der Jobcenter am Programm teilnehmen.« Und der Vorwurf wird auch konkretisiert:

»Das Programm sei wenig durchdacht und mit hohem Aufwand verbunden. So könne die spezielle Zielgruppe nicht automatisch aus der Fachsoftware ermittelt werden, sondern müsse aufwändig im Einzelfall überprüft werden. Man gehe davon aus, dass für die geringe Teilnehmerzahl von 60 Personen in Hessen (nicht mal ein Prozent der dort grundsätzlich für die Förderung infrage kommenden Klientel) etwa 1.300 Gespräche zu führen seien.«

Man muss sich an dieser Stelle klar machen, dass das neue Förderprogramm aus dem Bundesarbeitsministerium ein Lohnkostenzuschuss-Programm für besonders beeinträchtige Langzeitarbeitslose ist. Dazu die hessischen Jobcenter aus der Befragung des Städtetags:

»Ohnehin mache es wenig Sinn, die besonders arbeitsmarktferne Zielgruppe direkt mit Lohnkostenzuschüssen in den ersten Arbeitsmarkt integrieren zu wollen. Die Vorbereitung auf den Arbeitsmarkt müsse vor und nicht nach dem Abschluss des Arbeitsverhältnisses stattfinden … Ansonsten seien die geförderten Verhältnisse nicht nachhaltig und auf den Zeitraum der Förderung beschränkt.
Die Erfahrungen mit anderen Lohnkostenzuschüssen (nach § 16e SGB II) zeigten zudem, dass die Zielgruppe so kaum zu integrieren sei. Arbeitgeber hätten grundsätzlich ein geringes Interesse an Lohnkostenzuschüssen und suchten nach direkt einsetzbaren, motivierten und qualifizierten Fachkräften.«

Ein weiterer wichtiger Aspekt zur Einordnung des Sachverhalts muss hier aufgerufen werden. Die haushaltstechnischen Kapriolen, die jetzt wieder einmal geschlagen werden müssen, weil man ansonsten das neue Förderprogramm nicht auf die Bühne heben kann, finden nicht im luftleeren Raum statt, sondern ganz im Gegenteil in einem Umfeld, in dem immer weniger Fördermittel für Langzeitarbeitslose um Grundsicherungssystem zur Verfügung stehen, auch deshalb, weil die Jobcenter selbst erheblich unterfinanziert sind und eine gegenseitige Deckungsfähigkeit zwischen den Fördermittel und den Verwaltungsausgaben besteht (vgl. beispielsweise den Beitrag Jobcenter: Weniger Geld für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen, mehr für die Verwaltung), was dann auch praktisch genutzt wird. Zu dieser Problematik der Beitrag Unterfinanzierte Jobcenter: Von flexibler Nutzung zur Plünderung der Fördergelder für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen vom 10. April 2015:

»Mehr als 520 Millionen Euro nutzten die Jobcenter 2014 nicht wie vorgesehen für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen, sondern stopften damit Löcher in ihrem Verwaltungshaushalt. Einzelne Jobcenter zweckentfremdeten sogar zwei Drittel der Fördergelder. 2014 wanderten so mehr als 520 Millionen Euro aus dem Eingliederungs- in den Verwaltungsetat der Jobcenter, ganze 15 Prozent der insgesamt 3,5 Milliarden Euro für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen. Und die Einzelfälle sind häufig deutlich dramatischer. Manche Jobcenter bedienen sich bei bis zu zwei Dritteln der Fördergelder, darunter das Jobcenter Ansbach (Landkreis) mit einer 66-prozentigen Umschichtung aus dem Eingliederungs- in den Verwaltungsetat, das Jobcenter Memmingen mit einer 63-prozentigen Umschichtung und das Jobcenter Lichtenfels, das 61 Prozent der Eingliederungsmittel nutzte, um seine Verwaltungskosten zu decken.«

Abschließend muss an dieser Stelle erneut die nicht nur grundsätzlich ungelöste, sondern durch die Ausgestaltung der Arbeitsmarktpolitik in den vergangenen Jahren deutlich verschärfte Grundsatzfrage aufgeworfen werden: Was hilft wem wie?

Das Förderrecht im SGB III und im SGB II, vor allem mit Blick auf die besonderen Probleme der überaus heterogenen Gruppe der langzeitarbeitslosen Menschen, ist in den vergangenen Jahren zahlreichen Veränderungen unterworfen worden,  die sich summa summarum dahingehend zusammenfassen lassen, dass die Fördermöglichkeiten – man denke hier insbesondere an den Bereich der öffentlich geförderten Beschäftigung – immer restriktiver ausgestaltet worden sind. Das hat dann zum Beispiel dazu geführt, dass die förderrrechtlichen Rahmenbedingungen im Bereich der im wesentlichen auf die Billigvariante der Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung („Ein-Euro-Jobs“) eingegrenzten öffentlich geförderten Beschäftigungsmöglichkeiten es mit sich bringen, dass man im Grunde nur noch völlig arbeitsmarktferne Maßnahmen durchführen kann, die dann aber gemessen werden an der (Nicht-) Integration in den ersten Arbeitsmarkt.

Den meisten Praktikern und Experten, die vorurteilsfrei auf die Arbeitsmarktpolitik schauen, ist eines seit langem klar: Wir brauchen nicht noch mehr einzelne Förderprogramme, die dann auch noch hoch selektiv ausgestaltet werden, so dass ihr Scheitern in der Lebensrealität vorprogrammiert ist, Sondern unabdingbar ist eine grundsätzliche Flexibilisierung und Erweiterung des Förderrechts  innerhalb des SGB II, die es überhaupt erst möglich machen würde, das vor Ort mit Blick auf den einzelnen Langzeitarbeitslosen individuelle Maßnahmen gestaltet werden könnten, die unterm Strich wesentlich effektiver sein würden. Dazu gehört eben auch die Möglichkeit, bestimmten Menschen, die mittelfristig bis langfristig keine wirklich realistischen Perspektiven auf eine Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt haben, dennoch eine Teilhabe an einer dann öffentlich organisierten Erwerbsarbeit zu ermöglichen. Unabhängig von der dann zu konkretisierenden Frage, wer das sie finanziert, muss man gegenwärtig schlichtweg zu dem Ergebnis kommen, dass auch wenn man wollte, dieser Ansatz einer Kombination ganz unterschiedlicher Fördermaßnahmen schlichtweg vor dem Hintergrund der gesetzgeberischen Ausgestaltung des SGB II gar nicht realisierbar wäre. Insofern – aber das wäre ein eigenes, sehr umfängliches Thema – hätte der Bundestag die zentrale Aufgabe, eine umfassende Reform im Sinne einer erheblichen Entschlackung des bestehenden Förderrechts vorzunehmen. Vorschläge aus den Reihen der Praktiker und der Experten, die sich mit diesem Thema seit langem beschäftigen, gibt es viele. Wie so oft fehlt derzeit der politische Wille, diesen an sich notwendigen Weg auch zu gehen. Stattdessen fokussiert man erneut auf die scheinbar öffentlichkeitswirksame Installierung neuer Förderprogramme nach dem Motto: Seht ihr, wir tun doch was für Langzeitarbeitslose. Auch wenn das wieder einmal ein großes Chaos und zahlreiche Verwüstungen vor Ort anrichtet. Aber das müssen ja andere ausbaden.

Aus der Hauptstadt. Der Hauptstadt der Wohnungsnot. Von Jobcentern, die Gentrifizierung fördern und von einer „Ökonomisierung des Hilfesystems“

Es geht um Berlin und um eine Fallstudie aus der Hauptstadt der Wohnungsnot. Mit fast 10.000 Räumungsklagen pro Jahr sei Berlin die Hauptstadt der Wohnungsnotlagen, kann man einer neuen Untersuchung entnehmen. Zwangsräumungen und die Krise des Hilfesystems, so ist die Studie von Andrej Holm, Laura Berner und Inga Jensen betitelt worden. Die Arbeit untersucht die wohnungswirtschaftlichen Kontexte von Zwangsräumungen und die Funktionsweise des institutionellen Hilfesystems in Berlin. Sie eröffnet einen umfassenden Einblick in die Berliner Situation von Zwangsräumungen und erzwungenen Umzügen. Eine bedeutsame Rolle bei der Arbeit der Stadtsoziologen spielt der Begriff der „Gentrifizierung“. »Der Begriff Gentrifizierung wurde in den 1960er Jahren von der britischen Soziologin Ruth Glass geprägt, die Veränderungen im Londoner Stadtteil Islington untersuchte. Abgeleitet vom englischen Ausdruck „gentry“ (= niederer Adel) wird er seither zur Charakterisierung von Veränderungsprozessen in Stadtvierteln verwendet und beschreibt den Wechsel von einer statusniedrigeren zu einer statushöheren (finanzkräftigeren) Bewohnerschaft, der oft mit einer baulichen Aufwertung, Veränderungen der Eigentümerstruktur und steigenden Mietpreisen einhergeht … Im Zusammenhang mit dem Aufwertungsprozess erfolgt oft die Verdrängung sowohl der alteingesessenen, gering verdienenden Bevölkerung als auch von langansässigen Geschäften, die dem Zuzug der neuen kaufkräftigeren Bevölkerung und deren entsprechend veränderten Nachfrage weichen müssen«, so das Deutsche Institut für Urbanistik (DIFU) in dem Beitrag Was ist eigentlich Gentrifizierung?

In diesem Zusammenhang wird es dann auch verständlich, warum in der Berichterstattung von „schweren Vorwürfen“ gesprochen wird, die von den Wissenschaftlern erhoben werden: »Es sind schwere Vorwürfe, die ein Team von Berliner Soziologen gegen die Jobcenter erhebt: Nach ihren Forschungen gehören die Jobcenter zu den „Motoren von Verdrängung und Zwangsräumung“. Und die Wissenschaftler haben noch einen zweiten Aktivisten der Gentrifizierung ausgemacht«, kann man dem Beitrag Studie: Jobcenter beschleunigen Gentrifizierung entnehmen. Was nun haben die Jobcenter damit zu tun?

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Sozialstaat von unten: Was hat das Jobcenter mit einem U-Boot im Kalten Krieg gemeinsam? Das „Vier-Augen-Prinzip“. Und wie Krankenkassen vor Gericht gezwungen werden müssen, auch für Obdachlose zu zahlen

»Sowohl in der Sowjetunion als auch in den USA galt im Kalten Krieg das Zwei-Mann-Prinzip für den Einsatz von Atomwaffen auf U-Booten. In den USA mussten sowohl der Commanding Officer als auch der Executive Officer den Befehl zum Einsatz von Atomwaffen authentifizieren, auf sowjetischen U-Booten übernahmen diese Aufgabe der Kommandant und der Politoffizier.« So kann man es zumindestens einem Artikel über das Vier-Augen-Prinzip entnehmen. Dabei geht es hier im ersten Teil um Jobcenter. Was haben die denn mit dem Kalten Krieg zu tun? Eben, das Vier-Augen-Prinzip. Bereits Anfang Februar dieses Jahres berichtete die Süddeutsche Zeitung unter der Überschrift Vier Augen sehen mehr als zwei: Seit Jahresbeginn gilt bei den Jobcentern der Bundesagentur für Arbeit und den Kommunen ein neues Vier-Augen-Prinzip: Wird zum Beispiel Geld an einen Hartz-IV-Empfänger überwiesen, muss dies ein zweiter Mitarbeiter überprüfen. 2014 zahlte die Bundesagentur für Arbeit für die mehr als 300 Jobcenter, die sie gemeinsam mit den Kommunen führt, knapp 15 Milliarden Euro an Hartz-IV-Empfänger aus. Gut 20 Millionen Hartz-IV-Bescheide verschickt die Behörde im Jahr. Das ist eine Menge Steuergeld und da kann man erwarten, dass es Missbrauchsversuche hinter dem Schalter geben wird, denen man mit Kontrolle versuchen kann und sollte, zu begegnen. Und vier Augen sehen tendenziell besser als nur zwei. Und es ist nicht überraschend, dass das auch bisher schon zur Anwendung kam, dieses Prinzip. »Bei bestimmten Auszahlungen, zum Beispiel bei einer Überweisung von einmalig mehr als 2500 Euro, soll stets ein Mitarbeiter prüfen, ob der Kollege die Leistung zuvor richtig berechnet hat, bevor das Geld transferiert wird«, so Thomas Öchsner in seinem Artikel. Und was ist jetzt neu? Seit dem 1. Januar muss in jedem Fall – und sei er noch so geringfügig – ein Zweiter über die Arbeit seines Kollegen schauen. Bei allen zahlungsrelevanten Fällen. Schon damals hatten die Personalräte davor gewarnt, dass das zu erheblichen Problemen führen wird, was jetzt offensichtlich der Fall ist.

Bereits Anfang Februar hatten die Personalräte der Jobcenter in einem offenen Brief an zahlreiche Bundestagsabgeordnete darüber geklagt, dass durch das erweiterte Vier-Augen-Prinzip die Belastung „in einigen Bereichen über den Rand des Zumutbaren“ steige, wie Öchsner berichtete. Und die Mitarbeitervertreter stellten in ihrem offenen Brief eine wichtige Frage: „Gibt es Hinweise auf flächendeckenden Betrug durch die Mitarbeiter, die die Erschwerung der Arbeitsbedingungen rechtfertigen würde?“ Aber davon hat man sich nicht beeindrucken lassen, sondern das Vier-Augen-Prinzip umgesetzt. Mit den angekündigten Folgen, die jetzt ans Tageslicht kommen.

Da wird beispielsweise aus Bayern gemeldet: Jobcenter Augsburg überlastet: Existenzen in der Warteschleife. Da erfahren wir, welche existenziellen Konsequenzen das haben kann:

»17.000 Augsburger sind von den Leistungen abhängig. Zwei Mal im Jahr müssen die Empfänger vor Ort eine Weiterbewilligung beantragen. Diese haben Vorrang und sind ohnehin kaum mehr zu bewältigen. Für den Rest? Keine Zeit. „Es bleiben Hunderte von Sachen liegen. Die Leute kommen nicht mehr an ihr Geld“, sagt ein Angestellter, dessen Name nicht genannt werden soll. Eigentlich haben die Mitarbeiter einen Maulkorb verpasst bekommen, dürfen sich öffentlich nicht mehr äußern … „Manche Kunden stehen mit dem Rücken zur Wand“ … Diejenigen etwa, denen Inkassounternehmen oder Haft drohen, wenn sie ihre Rechnungen nicht bezahlen … Das Jobcenter sei ohnehin seit Jahren chronisch unterbesetzt. Der jetzige Mehraufwand sei nicht mehr zu schultern. In der Regel sollte es zwei Wochen dauern, bis die Sozialleistung auf dem Konto ankommt. Momentan sind in Augsburg von sechs Wochen die Rede, „aber nicht mal das ist realistisch“ … Und an dem Geld hängen Existenzen. Miete, Rechnungen, Nahrung. „Es kommen Menschen, die aus Asylheimen raus müssen und nicht mal eine Matratze haben“ … Kurzfristige Hilfe: undenkbar. „Wir sind nicht mehr reaktionsfähig.“«

Oder wie wäre es mit Hamburg? Die 16 Jobcenter stehen vor dem Kollaps. Personalräte fordern Stopp des Verfahrens oder 128 Stellen, kann man dem Artikel Vier-Augen-Prinzip sorgt für Mehrbelastung entnehmen.  Eine Personalrätin kritisiert, dass Post liegen bleibt, Geldanweisungen später rausgehen, sich Überstunden anhäufen und Kollegen sogar samstags arbeiten. »Schon wenn sie einen Hartz-IV-Bescheid für kleine Mieterhöhungen von 55 Cent ändere, müsse sie schauen, welcher Kollege den Vorgang prüfen könne. Vorher könne das Geld nicht raus«, wird eine Sachbearbeiterin zitiert. Und der neue bürokratische Aufwand muss gesehen werden vor dem Hintergrund, dass derzeit ein neues EDV-System – Allegro – eingeführt wird: »… dafür müssen die Daten der rund 100.000 Bedarfsgemeinschaften größtenteils neu eingepflegt werden. Dafür ist bis Ende Juni Zeit.«

Kein Wunder angesichts dieser Bedingungen: Mit einem Brandbrief wenden sich Jobcenter-Mitarbeiter aus Hamburg an die Bundesregierung, die Hamburger Parteien und die eigene Geschäftsführung, so der Artikel Jobcenter-Mitarbeiter beklagen Überlastung. Und als wenn das nicht schon alles genug ist, schlägt eine Verbesserung an der Front ein: Durch eine Gesetzesänderung stehen Flüchtlingen künftig zumindest ab dem 18 Monat mehr Geld zur Verfügung. Das ist gut für die Menschen – für die Jobcenter-Miatrbeiter in Hamburg bedeutet das: 2.000 Bedarfsgemeinschaften mehr.

In der Praxis müssen sich die Betroffenen offensichtlich mit allerlei herumschlagen bzw. ausbaden. Das geht auf Kosten der Mitarbeiter in den Verwaltungen und erst recht leider auf dem Rücken der Betroffenen.

Und wenn man Glück hat, dann korrigiert die Rechtsprechung das, was manche Kostenträger wegdrücken möchten. Dazu ein weiteres Beispiel aus dem Sozialstaat ganz unten: Kasse kann sich nicht drücken, berichtet die Ärzte Zeitung aus dem filigranen Reich der Krankenkassen. Trocken wie immer hat das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel seine Pressemitteilung dazu so überschrieben: Anspruch auf Versorgung mit häuslicher Krankenpflege durch die Krankenkasse auch in Einrichtungen der Eingliederungshilfe. Hier der Sachverhalt, zusammengefasst in dem Artikel aus der Ärzte Zeitung:

»In zwei Fällen ging es um die Kostenübernahme der häuslichen Krankenpflege für Obdachlose, die in einem Heim für Wohnungslose in Hamburg untergebracht waren.
Ihr Arzt hatte eine medizinische Behandlungspflege verschrieben. Danach sollte bei einem drogenabhängigen HIV-infizierten Bewohner die Medikamenteneinnahme kontrolliert werden. Bei dem anderen Wohnsitzlosen sollten zusätzlich noch Verbände gewechselt, Blutdruckmessungen sowie Injektionen durchgeführt werden.
Die AOK Rheinland/Hamburg wollte dafür nicht aufkommen.«

Und mit welcher Begründung? Wieder ein lehrreiches Stück aus dem Argumentationskasten der Sozialverwalter – man lese und staune ob der Phantasie: Häusliche Krankenpflege müsse die Krankenkasse nur im „Haushalt“ des Versicherten leisten. Ein solcher liege bei Wohnsitzlosen aber nicht vor. Ah ja.

Die höchsten Sozialrichter – es ist ja bezeichnend, dass das bis zum BSG hoch getrieben wurde – haben das anders gesehen und sind zu der folgenden Entscheidung gekommen:

»Das BSG urteilte, dass Krankenkassen grundsätzlich auch in Einrichtungen der Eingliederungshilfe, wie hier dem Obdachlosenheim, häusliche Krankenpflege gewähren müssen. Einfachste, von Laien vorzunehmende Pflege, müsse die Einrichtung selbst anbieten.
Dazu zählten etwa die Kontrolle der Arznei-Einnahme oder das Anziehen von Kompressionsstrümpfen. Dies gehöre „zu Hilfen bei der Führung eines gesunden Lebens“ im Aufgabenbereich der Sozialhilfe.
Für medizinische Behandlungspflege, die Fachpersonal benötige, wie die Wundversorgung oder Injektionen, müsse auf ärztliche Verordnung dagegen die Kasse aufkommen. Das soziale Fachpersonal solcher Einrichtungen könne und müsse dies nicht leisten.«

Die Richter haben mit ihrer Entscheidung also die Zuständigkeit für die betroffenen Menschen pragmatisch zu teilen versucht. Sie haben die Einrichtungen für die Obdachlosen in die Pflicht genommen und sie haben die Kassen nicht aus der Verantwortung entlassen. Und sie haben das begründet mit einer Logik, die eigentlich selbstverständlich sein sollte. »Der Wechsel von Wundverbänden und die Verabreichung von Injektionen wird hingegen von einer Einrichtung der Eingliederungshilfe, die ausschließlich mit Fachpersonal aus den Bereichen Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Pädagogik arbeitet, nicht geschuldet. Für die Versorgung mit diesen Leistungen ist daher von der Krankenkasse häusliche Krankenpflege zu gewähren«, schreibt das BSG. Irgendwie logisch, sollte man denken. Aber darüber wird gestritten und dagegen wird geklagt – und das war nur ein kleines Beispiel von dem, was tagtäglich ganz unten auf- und vor die Füße geworfen wird.

Was für ein (scheinbares) Durcheinander: Immer weniger Arbeitslose und viele offene Stellen, gleichzeitig profitieren immer weniger Arbeitslose vom „Jobwunder“ und der Mindestlohn hält auch nicht das, was einige von ihm erwartet haben

„Im Februar hat sich die positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt fortgesetzt. Die Arbeitslosigkeit ist gesunken und die Beschäftigung behält ihren Aufwärtstrend bei.“ Mit diesen Worten wird Frank-Jürgen Weise, der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit (BA) von seiner eigenen Behörde zitiert. »Die Zahl der arbeitslosen Menschen ist von Januar auf Februar um 15.000 auf 3.017.000 gesunken. Im Durchschnitt der letzten drei Jahre ist die Arbeitslosigkeit im Februar gestiegen, und zwar um 15.000. Saisonbereinigt ist die Arbeitslosigkeit im Vergleich zum Vormonat um 20.000 gesunken. Gegenüber dem Vorjahr waren 121.000 Menschen weniger arbeitslos gemeldet.« Und auch die Zahl der Unterbeschäftigten wird erwähnt: »Die Unterbeschäftigung, die auch Personen in entlastenden arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen und in kurzfristiger Arbeitsunfähigkeit mitzählt, hat sich saisonbereinigt um 20.000 verringert. Insgesamt belief sich die Unterbeschäftigung im Februar 2015 auf 3.888.000 Personen. Das waren 173.000 weniger als vor einem Jahr.« Und auch die Arbeitsnachfrage – gemessen an der Zahl der bei der BA gemeldeten offenen Stellen, die nur einen Teil der gesamtwirtschaftlichen Arbeitsnachfrage abzubilden in der Lage ist – befindet sich im positiven Bereich: »Die Nachfrage nach neuen Mitarbeitern ist weiter aufwärtsgerichtet. Im Februar waren 519.000 Arbeitsstellen bei der Bundesagentur für Arbeit gemeldet, 63.000 mehr als vor einem Jahr … Besonders gesucht sind zurzeit Arbeitskräfte in den Berufsfeldern Mechatronik, Energie- und Elektrotechnik, Verkauf und Verkehr und Logistik. Es folgen Berufe in der Metallerzeugung, Maschinen- und Fahrzeugtechnik sowie Gesundheitsberufe.« Also alles gut.
Wie passen dann aber solche Schlagzeilen in diese schöne Landschaft: Warum Arbeitslose nicht vom Jobwunder profitieren? Und Moment – gab es da nicht die Schreckensvisionen vieler Ökonomen in den vergangenen Monaten, die immer wieder von mehreren hunderttausend Arbeitsplätzen gesprochen haben, die mit der Einführung des Mindestlohns verloren gehen werden? Wie passt das alles zusammen?

Warum Arbeitslose nicht vom Jobwunder profitieren, fragt Thomas Öchsner in der Süddeutschen Zeitung: Er verweist nicht nur auf die Zahl von mehr als 43 Millionen Beschäftigten (wobei man hier immer mitdenken muss, dass es sich um alle Erwerbstätige handelt, also nicht nur der Vollzeitbeschäftigte mit einer 40-Stunden-Woche ist darin enthalten, sondern beispielsweise auch die Minijobber), sondern auch auf die enorme Bewegung, die wir auf dem Arbeitsmarkt haben: »Jeden Werktag melden sich gut 10.000 Menschen arbeitslos, weil sie ihren Job verloren haben. Die Bundesagentur für Arbeit (BA) zählte aber auch 2014 mehr als zwei Millionen Menschen, die ihre Arbeitslosigkeit beenden konnten.«

Die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Brigitte Pothmer, hat bei der Bundesregierung nachgefragt, wie sich denn der Beitrag der Arbeitsagenturen und Jobcenter darstellt, wenn es um die Vermittlung in eine (neue) Beschäftigung geht. »Das Ergebnis fand sie ziemlich ernüchternd: Trotz der Rekordbeschäftigung gelingt es den staatlichen Vermittlern immer seltener, Arbeitslosen einen festen Job zu vermitteln«, so Thomas Öchsner in seinem Bericht über die Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage:

»2014 erhielten etwa 272 000 Arbeitssuchende eine reguläre, ungeförderte Stelle auf dem Arbeitsmarkt, weil sie ein Jobcenter oder eine Agentur bei einem Arbeitgeber vorgeschlagen hatte. Das sind 28 Prozent oder 100 000 weniger als noch 2011 … Wie erfolgreich die Arbeit der staatlichen Vermittler ist, zeigt unter anderem die Vermittlungsquote. Diese ist … seit Jahren rückläufig. Danach waren von allen arbeitslosen Menschen, die 2011 eine normale, nicht geförderte Stelle ergattern konnten, 16,2 Prozent von den staatlichen Behörden direkt vermittelt worden. 2014 waren es nur noch 13 Prozent.«

Nun sollte man fairerweise zugestehen, dass die Vermittlungsquote den Teil der Stellenbesetzungen abbildet, bei dem die Agenturen und Jobcenter direkt vermittlerisch tätig waren (oder wo das als solches statistisch erfasst wurde). Daneben kann man natürlich argumentieren, dass es auch zahlreiche indirekte Vermittlungsleistungen gibt oder geben kann, die dann in einer Stellenbesetzung münden, ohne dass diese in der Vermittlungsquote ausgewiesen werden.

Öchsner weist aber auch noch auf einen weiteren Aspekt hin, den man der Antwort der Bundesregierung entnehmen kann: Frühere Erwerbslose verlieren häufig relativ schnell wieder ihren neuen Job. »Danach haben nur knapp 57 Prozent noch nach einem Jahr die Stelle, die sie mithilfe der staatlichen Behörden bekommen haben. Bei denjenigen, die Arbeitslosengeld II (Hartz IV) beziehen und meist länger als ein Jahr arbeitslos sind, gelingt es nicht einmal jedem Zweiten, den zuvor vermittelten Job mindestens ein Jahr zu behalten.« Auch in der Bundesagentur wird das als Problem erkannt: „Die Dauer der Beschäftigungsverhältnisse ist besonders für Hartz-IV-Bezieher zu kurz.“ Jeder Arbeitsvermittler werde eine unbefristete Stelle einer befristeten Stelle oder einer in der Zeitarbeit vorziehen. „Wir können uns solche Stellen jedoch nicht backen“, zitiert Öchsner eine Sprecherin der BA.

Die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Brigitte Pothmer, »fordert einen Politikwechsel in der Arbeitsförderung, „weil weder Umfang noch Qualität der Vermittlung überzeugen können“. Vor allem bei gering Qualifizierten sei es nötig, stärker das Augenmerk auf das Fördern und Qualifizieren der Arbeitslosen zu legen, statt ihrer schnellen Vermittlung den Vorrang zu geben.«

Das wäre ein richtiger und wichtiger Schritt, der allerdings derzeit in einem doppelten Sinne versperrt wird: Zum einen durch zahlreiche förderrechtliche Restriktionen im SGB III und II, die dazu führen, dass an sich sinnvolle und gebotene Maßnahmen gar nicht durchgeführt werden dürfen, zum anderen aber auch eine seit 2011 ablaufende erhebliche Kürzung der Mittel für Fördermaßnahmen (vgl. dazu auch den Beitrag Arbeitsmarktpolitische Förderung: Weiterer Rückgang 2014 bei O-Ton Arbeitsmarkt). Und vor dem Hintergrund der folgenden Äußerung der Sprecherin der BA, die Öchsner in seinem Artikel zitiert, wird zugleich die völlig unsinnige Ausgestaltung der Nicht-Förderung derzeit im SGB II erkennbar: „Unter den Arbeitslosen haben wir zu wenig Fachkräfte, die werden aber gesucht.“ Richtig, über die Hälfte der arbeitslos registrierten Hilfeempfänger im Hartz IV-System haben keine Ausbildung. Dann wäre es doch nur naheliegend, alles daran zu setzen, die Betroffenen, wenn sie denn wollen und können, zu einem ordentlichen Berufsabschluss zu verhelfen, auch und gerade vor dem Hintergrund das wir wissen, dass die Arbeitgeber in Deutschland extrem abschlussorientiert sind, also darauf schauen, ob jemand einen Berufsabschluss hat – oder eben nicht. Dann nützen auch zahlreiche Zertifikate mehr oder weniger sinnvoller Maßnahmen nichts. In der Rarität aber werden Hartz IV-Empfängern ohne eine Ausbildung aufgrund der rechtlichen Ausgestaltung im SGB II zahlreiche Steine in den Weg gelegt, wenn sie eine Ausbildung machen wollen, bei älteren Hilfeempfängern kann sogar die Leistung vollständig gestrichen werden, wenn sie sich selbst bemühen, ohne Ansprüche auf andere Leistungen – ein Irrsinn (vgl. dazu den Beitrag Langzeitarbeitslose: Wer sich engagiert, wird bestraft des Politikmagazins „Monitor“ in der Sendung am 26.02.2015).

Und wie sieht es auf einer anderen großen arbeitsmarktpolitischen Baustelle aus? Beim (fast) flächendeckenden Mindestlohn? Der muss hier natürlich gerade vor dem Hintergrund der neuen Arbeitsmarktzahlen aufgerufen werden. Denn wie war das im vergangenen Jahr, vor der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns? Hunderttausende Arbeitsplätze sollten nach den Vorhersagen zahlreiche Mainstream-Ökonomen durch die neue Lohnuntergrenze verloren gehen. Vom „Jobkiller“ Mindestlohn war die Rede und viele Medien haben die apokalyptischen Visionen der Ökonomen übernommen und verbreitet. Da gab es – um nur ein Beispiel zu nennen – die Zahl von 900.000 Arbeitsplätzen, die angeblich verloren gehen durch den Mindestlohn, wie eine Studie ergeben habe. Die Zahl stammt aus einem Diskussionspapier der Wirtschaftswissenschaftler Andreas Knabe, Ronnie Schön und Marcel Thun: Der flächendeckeckende Mindestlohn, veröffentlicht im Februar 2014. Dort findet man tatsächlich den folgenden Satz: »Die gesamten Beschäftigungsverluste belaufen sich auf über 900.000 Arbeitsplätze« (Knabe et al. 2014: 34). Aufschlussreich wird es dann schon, wenn man nicht nur bei diesem Satz stehen bleibt, sondern einfach mal weiterliest: »Doch diese Zahl ist mit Vorsicht zu interpretieren, da in ihr auch der Verlust von 660.000 geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen (einschließlich Rentner und Studenten) mitgezählt wird. Rechnet man die Verluste bei den geringfügig Beschäftigten in Vollzeitäquivalente um, so entsprechen diese Verluste in etwa 340.000 Vollzeitarbeitsplätzen. Konzentriert man sich auf die Vollzeitbeschäftigten, so ergeben sich insgesamt rund 160.000 Arbeitsplatzverluste, die etwa je zur Hälfte in den Neuen und Alten Bundesländern anfallen.«

Wenn das alles so wäre, dann müssten wir erste Spuren dieses Beschäftigungsabbaus in den Zugangszahlen in die Arbeitslosigkeit sehen. Sehen wir aber nicht. Vielleicht einfach deshalb, weil es eben nicht zu den von vielen abgeschriebenen Arbeitsplatzverlusten kommt, wie Kritiker immer eingewandt haben? Nun kann man an dieser Stelle darauf hinweisen, dass es vielleicht noch zu früh ist, für eine erste Bilanzierung des Mindestlohns, denn möglicherweise halten sich viele Unternehmen noch zurück mit den Entlassungen, die es eigentlich geben müsste, wenn denn die Modellwelten der Mindestlohnkritiker was mit der Realität zu tun haben. Schauen wir mal, kann und muss man dieser Stelle sagen, aber es ist durchaus plausibel, dass es insgesamt gesehen kaum relevante Arbeitsmartkeffekte geben wird – was nicht bedeutet, dass nicht einzelne Unternehmen bzw. bestimmt Geschäftsmodelle vom Markt verschwinden werden. Aber derzeit kann und muss man sagen, dass sich der Arbeitsmarkt sehr robust darstellt und keine Anhaltspunkte für ein Eintreten der Horrorszenarien, die manche an de Wand gemalt haben, zu beobachten sind.

Statt dessen dreht sich die aktuelle Diskussion um die Versuche eines Teils der Arbeitgeber bzw. ihrer Funktionäre, die Arbeitszeiterfassung bestimmter Beschäftigter und hierbei vor allem der Minijobber wieder aus den Vorschriften zu kegeln. Was natürlich ein Scheunentor öffnen würde für schwarze Schafe. Und in der Praxis werden – nicht wirklich überraschend – von dem einen oder anderen Unternehmen Umgehungsstrategien gesucht und ausprobiert, um faktisch einen Lohn unterhalb der Lohnuntergrenze zahlen zu können. Vgl. dazu beispielsweise den Artikel Der schwierige Kampf gegen den Überstunden-Trick. In diesem Artikel wird das Vorstandsmitglied der BA, Heinrich Alt, zitiert:

Dass ausgerechnet die Erfassung der Arbeitszeiten für Konfliktstoff sorgt, kommt überraschend. Schließlich ist sie laut Arbeitszeitgesetz Pflicht, betonte Heinrich Alt, Vorstand der Bundesagentur für Arbeit (BA). Die Erfassung von Arbeitszeiten „sollte der Normalfall sein – nicht nur, wenn es um den Mindestlohn geht“.
Er sei „immer davon ausgegangen, dass Arbeitszeiten festgehalten werden, wenn nach geleisteten Arbeitsstunden abgerechnet wird“, sagte Alt. Die hitzige Debatte in der Koalition über das Thema verstehe er nicht: „Wenn man die Zahl der geleisteten Stunden nicht dokumentiert, ist Missbrauch nicht auszuschließen, auch nicht bei Minijobs.“

Man sollte an dieser Stelle ergänzen: nicht auch, sondern gerade bei den Minijobs ist der Missbrauch mit der unbezahlten Mehrarbeit in der Vergangenheit schon an vielen Stellen beobachtet und in Studien auch kritisiert worden. »Für geringfügig Beschäftigte solle die Dokumentationspflicht ganz abgeschafft werden, wenn ein schriftlicher und aussagekräftiger Arbeitsvertrag vorliege.« Die Verwirklichung dieser Forderung von Arbeitgeberverbänden unter dem Segel eines angeblichen „Bürokratie-Abbaus“ würde gerade den für Missbrauch am anfälligsten Bereich, also die geringfügige Beschäftigung, schutzlos den schwarzen Schafen unter den Unternehmen überlassen.

Selbst aus dem Osten Deutschlands kommen – neben den derzeit üblichen Berichten über Umgehungsversuche in einzelnen Betrieben – (noch) keine Hiobsbotschaften. „Frustrierend“ für die Mindestlohn-Gegner. Ein Beispiel aus Brandenburg:

»Seine Mitarbeiter zu erpressen, das kommt für Ralf Blauert nicht in Frage. Er betreibt in Potsdam ein Cateringunternehmen mit 50 Mitarbeitern. Früher verdienten die um die sieben Euro. Jetzt zahlt Blauert ihnen gern den Mindestlohn – dafür musste er allerdings die Preise anheben: An den Grundschulen, die Blauert mittags beliefert, zahlen Eltern jetzt für ein Essen 3,25 Euro statt 3 Euro. Die Reaktionen waren nicht so negativ, wie Blauert erwartet hatte. „Natürlich waren nicht alle begeistert. Aber wir haben mit viel mehr Unverständnis gerechnet“, sagt er. Entlassungen sind für Ralf Blauert kein Thema.«

Das sind alles erste Eindrücke, die natürlich keine annähernd seriöse Evaluierung der neuen Lohnuntergrenze darstellen. Dazu muss man zahlreiche Faktoren und Wirkungskanäle über einen längeren Zeitraum beobachten. Aber es sind Indizien, dass die Welt sicher keine ökonomische Modellwelt ist.

Um das Thema abschließend abzurunden: Bereits am 1. Februar 2014 hatte ich in dem Beitrag Was „Aufstocker“ im Hartz IV-System (nicht) mit dem Mindestlohn zu tun haben darauf hingewiesen, dass  zumindest für alleinstehende Aufstocker ein Mindestlohn von 8,50 Euro ausreicht, um die aufstockenden Leistungen aus dem Hartz IV-System wegfallen zu lassen, die ja aus Steuermittel gezahlt werden müssen und damit eine Subventionierung der Geschäftsmodelle mit besonders niedrigen Löhnen darstellt. Nun hat sich auch die BA zu Wort gemeldet: Bundesagentur sieht Millioneneinsparungen durch Mindestlohn, so eine Meldung der Nachrichtenagentur dpa:

»Nach vorläufigen Berechnungen sei bei den Ausgaben für alleinlebende Hartz IV-Empfänger mit einer Vollzeitstelle jährlich mit 600 Millionen bis 900 Millionen Euro weniger zu rechnen, sagte BA-Vorstandsmitglied Heinrich Alt am Donnerstag in Nürnberg. Diese Gruppe der sogenannten Aufstocker benötige künftig deutlich weniger Arbeitslosengeld II zusätzlich zu ihrem Lohn.«

Eben. Und Heinrich Alt legt noch einen nach und das, was er gesagt hat, soll hier als Schlusswort gesetzt werden: „Aber eines kann man schon jetzt sagen: Für die Horrorprognosen des Münchner Ifo-Instituts, das mit dem Mindestlohn eine Million Arbeitsplätze verloren gehen, gibt es bislang keine Hinweise.“ So ist das.