Was für ein (scheinbares) Durcheinander: Immer weniger Arbeitslose und viele offene Stellen, gleichzeitig profitieren immer weniger Arbeitslose vom „Jobwunder“ und der Mindestlohn hält auch nicht das, was einige von ihm erwartet haben

„Im Februar hat sich die positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt fortgesetzt. Die Arbeitslosigkeit ist gesunken und die Beschäftigung behält ihren Aufwärtstrend bei.“ Mit diesen Worten wird Frank-Jürgen Weise, der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit (BA) von seiner eigenen Behörde zitiert. »Die Zahl der arbeitslosen Menschen ist von Januar auf Februar um 15.000 auf 3.017.000 gesunken. Im Durchschnitt der letzten drei Jahre ist die Arbeitslosigkeit im Februar gestiegen, und zwar um 15.000. Saisonbereinigt ist die Arbeitslosigkeit im Vergleich zum Vormonat um 20.000 gesunken. Gegenüber dem Vorjahr waren 121.000 Menschen weniger arbeitslos gemeldet.« Und auch die Zahl der Unterbeschäftigten wird erwähnt: »Die Unterbeschäftigung, die auch Personen in entlastenden arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen und in kurzfristiger Arbeitsunfähigkeit mitzählt, hat sich saisonbereinigt um 20.000 verringert. Insgesamt belief sich die Unterbeschäftigung im Februar 2015 auf 3.888.000 Personen. Das waren 173.000 weniger als vor einem Jahr.« Und auch die Arbeitsnachfrage – gemessen an der Zahl der bei der BA gemeldeten offenen Stellen, die nur einen Teil der gesamtwirtschaftlichen Arbeitsnachfrage abzubilden in der Lage ist – befindet sich im positiven Bereich: »Die Nachfrage nach neuen Mitarbeitern ist weiter aufwärtsgerichtet. Im Februar waren 519.000 Arbeitsstellen bei der Bundesagentur für Arbeit gemeldet, 63.000 mehr als vor einem Jahr … Besonders gesucht sind zurzeit Arbeitskräfte in den Berufsfeldern Mechatronik, Energie- und Elektrotechnik, Verkauf und Verkehr und Logistik. Es folgen Berufe in der Metallerzeugung, Maschinen- und Fahrzeugtechnik sowie Gesundheitsberufe.« Also alles gut.
Wie passen dann aber solche Schlagzeilen in diese schöne Landschaft: Warum Arbeitslose nicht vom Jobwunder profitieren? Und Moment – gab es da nicht die Schreckensvisionen vieler Ökonomen in den vergangenen Monaten, die immer wieder von mehreren hunderttausend Arbeitsplätzen gesprochen haben, die mit der Einführung des Mindestlohns verloren gehen werden? Wie passt das alles zusammen?

Warum Arbeitslose nicht vom Jobwunder profitieren, fragt Thomas Öchsner in der Süddeutschen Zeitung: Er verweist nicht nur auf die Zahl von mehr als 43 Millionen Beschäftigten (wobei man hier immer mitdenken muss, dass es sich um alle Erwerbstätige handelt, also nicht nur der Vollzeitbeschäftigte mit einer 40-Stunden-Woche ist darin enthalten, sondern beispielsweise auch die Minijobber), sondern auch auf die enorme Bewegung, die wir auf dem Arbeitsmarkt haben: »Jeden Werktag melden sich gut 10.000 Menschen arbeitslos, weil sie ihren Job verloren haben. Die Bundesagentur für Arbeit (BA) zählte aber auch 2014 mehr als zwei Millionen Menschen, die ihre Arbeitslosigkeit beenden konnten.«

Die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Brigitte Pothmer, hat bei der Bundesregierung nachgefragt, wie sich denn der Beitrag der Arbeitsagenturen und Jobcenter darstellt, wenn es um die Vermittlung in eine (neue) Beschäftigung geht. »Das Ergebnis fand sie ziemlich ernüchternd: Trotz der Rekordbeschäftigung gelingt es den staatlichen Vermittlern immer seltener, Arbeitslosen einen festen Job zu vermitteln«, so Thomas Öchsner in seinem Bericht über die Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage:

»2014 erhielten etwa 272 000 Arbeitssuchende eine reguläre, ungeförderte Stelle auf dem Arbeitsmarkt, weil sie ein Jobcenter oder eine Agentur bei einem Arbeitgeber vorgeschlagen hatte. Das sind 28 Prozent oder 100 000 weniger als noch 2011 … Wie erfolgreich die Arbeit der staatlichen Vermittler ist, zeigt unter anderem die Vermittlungsquote. Diese ist … seit Jahren rückläufig. Danach waren von allen arbeitslosen Menschen, die 2011 eine normale, nicht geförderte Stelle ergattern konnten, 16,2 Prozent von den staatlichen Behörden direkt vermittelt worden. 2014 waren es nur noch 13 Prozent.«

Nun sollte man fairerweise zugestehen, dass die Vermittlungsquote den Teil der Stellenbesetzungen abbildet, bei dem die Agenturen und Jobcenter direkt vermittlerisch tätig waren (oder wo das als solches statistisch erfasst wurde). Daneben kann man natürlich argumentieren, dass es auch zahlreiche indirekte Vermittlungsleistungen gibt oder geben kann, die dann in einer Stellenbesetzung münden, ohne dass diese in der Vermittlungsquote ausgewiesen werden.

Öchsner weist aber auch noch auf einen weiteren Aspekt hin, den man der Antwort der Bundesregierung entnehmen kann: Frühere Erwerbslose verlieren häufig relativ schnell wieder ihren neuen Job. »Danach haben nur knapp 57 Prozent noch nach einem Jahr die Stelle, die sie mithilfe der staatlichen Behörden bekommen haben. Bei denjenigen, die Arbeitslosengeld II (Hartz IV) beziehen und meist länger als ein Jahr arbeitslos sind, gelingt es nicht einmal jedem Zweiten, den zuvor vermittelten Job mindestens ein Jahr zu behalten.« Auch in der Bundesagentur wird das als Problem erkannt: „Die Dauer der Beschäftigungsverhältnisse ist besonders für Hartz-IV-Bezieher zu kurz.“ Jeder Arbeitsvermittler werde eine unbefristete Stelle einer befristeten Stelle oder einer in der Zeitarbeit vorziehen. „Wir können uns solche Stellen jedoch nicht backen“, zitiert Öchsner eine Sprecherin der BA.

Die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Brigitte Pothmer, »fordert einen Politikwechsel in der Arbeitsförderung, „weil weder Umfang noch Qualität der Vermittlung überzeugen können“. Vor allem bei gering Qualifizierten sei es nötig, stärker das Augenmerk auf das Fördern und Qualifizieren der Arbeitslosen zu legen, statt ihrer schnellen Vermittlung den Vorrang zu geben.«

Das wäre ein richtiger und wichtiger Schritt, der allerdings derzeit in einem doppelten Sinne versperrt wird: Zum einen durch zahlreiche förderrechtliche Restriktionen im SGB III und II, die dazu führen, dass an sich sinnvolle und gebotene Maßnahmen gar nicht durchgeführt werden dürfen, zum anderen aber auch eine seit 2011 ablaufende erhebliche Kürzung der Mittel für Fördermaßnahmen (vgl. dazu auch den Beitrag Arbeitsmarktpolitische Förderung: Weiterer Rückgang 2014 bei O-Ton Arbeitsmarkt). Und vor dem Hintergrund der folgenden Äußerung der Sprecherin der BA, die Öchsner in seinem Artikel zitiert, wird zugleich die völlig unsinnige Ausgestaltung der Nicht-Förderung derzeit im SGB II erkennbar: „Unter den Arbeitslosen haben wir zu wenig Fachkräfte, die werden aber gesucht.“ Richtig, über die Hälfte der arbeitslos registrierten Hilfeempfänger im Hartz IV-System haben keine Ausbildung. Dann wäre es doch nur naheliegend, alles daran zu setzen, die Betroffenen, wenn sie denn wollen und können, zu einem ordentlichen Berufsabschluss zu verhelfen, auch und gerade vor dem Hintergrund das wir wissen, dass die Arbeitgeber in Deutschland extrem abschlussorientiert sind, also darauf schauen, ob jemand einen Berufsabschluss hat – oder eben nicht. Dann nützen auch zahlreiche Zertifikate mehr oder weniger sinnvoller Maßnahmen nichts. In der Rarität aber werden Hartz IV-Empfängern ohne eine Ausbildung aufgrund der rechtlichen Ausgestaltung im SGB II zahlreiche Steine in den Weg gelegt, wenn sie eine Ausbildung machen wollen, bei älteren Hilfeempfängern kann sogar die Leistung vollständig gestrichen werden, wenn sie sich selbst bemühen, ohne Ansprüche auf andere Leistungen – ein Irrsinn (vgl. dazu den Beitrag Langzeitarbeitslose: Wer sich engagiert, wird bestraft des Politikmagazins „Monitor“ in der Sendung am 26.02.2015).

Und wie sieht es auf einer anderen großen arbeitsmarktpolitischen Baustelle aus? Beim (fast) flächendeckenden Mindestlohn? Der muss hier natürlich gerade vor dem Hintergrund der neuen Arbeitsmarktzahlen aufgerufen werden. Denn wie war das im vergangenen Jahr, vor der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns? Hunderttausende Arbeitsplätze sollten nach den Vorhersagen zahlreiche Mainstream-Ökonomen durch die neue Lohnuntergrenze verloren gehen. Vom „Jobkiller“ Mindestlohn war die Rede und viele Medien haben die apokalyptischen Visionen der Ökonomen übernommen und verbreitet. Da gab es – um nur ein Beispiel zu nennen – die Zahl von 900.000 Arbeitsplätzen, die angeblich verloren gehen durch den Mindestlohn, wie eine Studie ergeben habe. Die Zahl stammt aus einem Diskussionspapier der Wirtschaftswissenschaftler Andreas Knabe, Ronnie Schön und Marcel Thun: Der flächendeckeckende Mindestlohn, veröffentlicht im Februar 2014. Dort findet man tatsächlich den folgenden Satz: »Die gesamten Beschäftigungsverluste belaufen sich auf über 900.000 Arbeitsplätze« (Knabe et al. 2014: 34). Aufschlussreich wird es dann schon, wenn man nicht nur bei diesem Satz stehen bleibt, sondern einfach mal weiterliest: »Doch diese Zahl ist mit Vorsicht zu interpretieren, da in ihr auch der Verlust von 660.000 geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen (einschließlich Rentner und Studenten) mitgezählt wird. Rechnet man die Verluste bei den geringfügig Beschäftigten in Vollzeitäquivalente um, so entsprechen diese Verluste in etwa 340.000 Vollzeitarbeitsplätzen. Konzentriert man sich auf die Vollzeitbeschäftigten, so ergeben sich insgesamt rund 160.000 Arbeitsplatzverluste, die etwa je zur Hälfte in den Neuen und Alten Bundesländern anfallen.«

Wenn das alles so wäre, dann müssten wir erste Spuren dieses Beschäftigungsabbaus in den Zugangszahlen in die Arbeitslosigkeit sehen. Sehen wir aber nicht. Vielleicht einfach deshalb, weil es eben nicht zu den von vielen abgeschriebenen Arbeitsplatzverlusten kommt, wie Kritiker immer eingewandt haben? Nun kann man an dieser Stelle darauf hinweisen, dass es vielleicht noch zu früh ist, für eine erste Bilanzierung des Mindestlohns, denn möglicherweise halten sich viele Unternehmen noch zurück mit den Entlassungen, die es eigentlich geben müsste, wenn denn die Modellwelten der Mindestlohnkritiker was mit der Realität zu tun haben. Schauen wir mal, kann und muss man dieser Stelle sagen, aber es ist durchaus plausibel, dass es insgesamt gesehen kaum relevante Arbeitsmartkeffekte geben wird – was nicht bedeutet, dass nicht einzelne Unternehmen bzw. bestimmt Geschäftsmodelle vom Markt verschwinden werden. Aber derzeit kann und muss man sagen, dass sich der Arbeitsmarkt sehr robust darstellt und keine Anhaltspunkte für ein Eintreten der Horrorszenarien, die manche an de Wand gemalt haben, zu beobachten sind.

Statt dessen dreht sich die aktuelle Diskussion um die Versuche eines Teils der Arbeitgeber bzw. ihrer Funktionäre, die Arbeitszeiterfassung bestimmter Beschäftigter und hierbei vor allem der Minijobber wieder aus den Vorschriften zu kegeln. Was natürlich ein Scheunentor öffnen würde für schwarze Schafe. Und in der Praxis werden – nicht wirklich überraschend – von dem einen oder anderen Unternehmen Umgehungsstrategien gesucht und ausprobiert, um faktisch einen Lohn unterhalb der Lohnuntergrenze zahlen zu können. Vgl. dazu beispielsweise den Artikel Der schwierige Kampf gegen den Überstunden-Trick. In diesem Artikel wird das Vorstandsmitglied der BA, Heinrich Alt, zitiert:

Dass ausgerechnet die Erfassung der Arbeitszeiten für Konfliktstoff sorgt, kommt überraschend. Schließlich ist sie laut Arbeitszeitgesetz Pflicht, betonte Heinrich Alt, Vorstand der Bundesagentur für Arbeit (BA). Die Erfassung von Arbeitszeiten „sollte der Normalfall sein – nicht nur, wenn es um den Mindestlohn geht“.
Er sei „immer davon ausgegangen, dass Arbeitszeiten festgehalten werden, wenn nach geleisteten Arbeitsstunden abgerechnet wird“, sagte Alt. Die hitzige Debatte in der Koalition über das Thema verstehe er nicht: „Wenn man die Zahl der geleisteten Stunden nicht dokumentiert, ist Missbrauch nicht auszuschließen, auch nicht bei Minijobs.“

Man sollte an dieser Stelle ergänzen: nicht auch, sondern gerade bei den Minijobs ist der Missbrauch mit der unbezahlten Mehrarbeit in der Vergangenheit schon an vielen Stellen beobachtet und in Studien auch kritisiert worden. »Für geringfügig Beschäftigte solle die Dokumentationspflicht ganz abgeschafft werden, wenn ein schriftlicher und aussagekräftiger Arbeitsvertrag vorliege.« Die Verwirklichung dieser Forderung von Arbeitgeberverbänden unter dem Segel eines angeblichen „Bürokratie-Abbaus“ würde gerade den für Missbrauch am anfälligsten Bereich, also die geringfügige Beschäftigung, schutzlos den schwarzen Schafen unter den Unternehmen überlassen.

Selbst aus dem Osten Deutschlands kommen – neben den derzeit üblichen Berichten über Umgehungsversuche in einzelnen Betrieben – (noch) keine Hiobsbotschaften. „Frustrierend“ für die Mindestlohn-Gegner. Ein Beispiel aus Brandenburg:

»Seine Mitarbeiter zu erpressen, das kommt für Ralf Blauert nicht in Frage. Er betreibt in Potsdam ein Cateringunternehmen mit 50 Mitarbeitern. Früher verdienten die um die sieben Euro. Jetzt zahlt Blauert ihnen gern den Mindestlohn – dafür musste er allerdings die Preise anheben: An den Grundschulen, die Blauert mittags beliefert, zahlen Eltern jetzt für ein Essen 3,25 Euro statt 3 Euro. Die Reaktionen waren nicht so negativ, wie Blauert erwartet hatte. „Natürlich waren nicht alle begeistert. Aber wir haben mit viel mehr Unverständnis gerechnet“, sagt er. Entlassungen sind für Ralf Blauert kein Thema.«

Das sind alles erste Eindrücke, die natürlich keine annähernd seriöse Evaluierung der neuen Lohnuntergrenze darstellen. Dazu muss man zahlreiche Faktoren und Wirkungskanäle über einen längeren Zeitraum beobachten. Aber es sind Indizien, dass die Welt sicher keine ökonomische Modellwelt ist.

Um das Thema abschließend abzurunden: Bereits am 1. Februar 2014 hatte ich in dem Beitrag Was „Aufstocker“ im Hartz IV-System (nicht) mit dem Mindestlohn zu tun haben darauf hingewiesen, dass  zumindest für alleinstehende Aufstocker ein Mindestlohn von 8,50 Euro ausreicht, um die aufstockenden Leistungen aus dem Hartz IV-System wegfallen zu lassen, die ja aus Steuermittel gezahlt werden müssen und damit eine Subventionierung der Geschäftsmodelle mit besonders niedrigen Löhnen darstellt. Nun hat sich auch die BA zu Wort gemeldet: Bundesagentur sieht Millioneneinsparungen durch Mindestlohn, so eine Meldung der Nachrichtenagentur dpa:

»Nach vorläufigen Berechnungen sei bei den Ausgaben für alleinlebende Hartz IV-Empfänger mit einer Vollzeitstelle jährlich mit 600 Millionen bis 900 Millionen Euro weniger zu rechnen, sagte BA-Vorstandsmitglied Heinrich Alt am Donnerstag in Nürnberg. Diese Gruppe der sogenannten Aufstocker benötige künftig deutlich weniger Arbeitslosengeld II zusätzlich zu ihrem Lohn.«

Eben. Und Heinrich Alt legt noch einen nach und das, was er gesagt hat, soll hier als Schlusswort gesetzt werden: „Aber eines kann man schon jetzt sagen: Für die Horrorprognosen des Münchner Ifo-Instituts, das mit dem Mindestlohn eine Million Arbeitsplätze verloren gehen, gibt es bislang keine Hinweise.“ So ist das.

Zunehmend abgehängt. Langzeitarbeitslose im Hartz IV-System und ihre (Nicht-)Integration in irgendwelche Jobs

Es waren – eigentlich und von oben betrachtet – „gute“ Jahre auf dem deutschen Arbeitsmarkt, auf die wir zurückblicken können. Die Zahl der Beschäftigten ist gestiegen und die Zahl der offiziell registrierten Arbeitslosen hat abgenommen. Das schlägt sich dann beispielsweise in solchen Schlagzeilen nieder: Zahl der Arbeitslosen auf Rekordtief. So wurde das Jahr 2014 mit dem niedrigsten Wert in einem Dezember seit der Wiedervereinigung beendet. Und auch mit Blick auf die Beschäftigtenzahlen dominieren die Erfolgsmeldungen: So viele Erwerbstätige wie nie zuvor vermeldete das Statistische Bundesamt: »Im Schnitt 42,6 Millionen Männer und Frauen in Deutschland hatten 2014 Arbeit – so viele wie nie zuvor. Es ist das achte Rekordjahr in Folge.« Alles gut – oder?

Es geht bei einer Präzisierung des Fragezeichens nicht um einen nachfliegenden Blick auf die Frage, was das denn für Jobs waren bzw. sind, die da rekordträchtig geschaffen worden sind (vgl. hierzu die Blog-Beiträge „Irre Beschäftigungseffekte“, „wirklich tolles Land“: Wenn Ökonomen sich überschlagen, lohnt ein Blick auf die Zahlen sowie Das deutsche „Beschäftigungswunder“ im europäischen Vergleich. Immer auch eine Frage des genauen Hinschauens mit einem kritischen Blick auf die nackten Zahlen). Es geht hier um den Aspekt, dass auch der „Erfolg“ auf dem Arbeitsmarkt wie fast alles im Leben sehr ungleich verteilt ist, also neben den, die profitiert haben gibt es auch andere, bei denen man sogar davon sprechen muss, dass sie zunehmend abgehängt werden, trotz der an sich „guten“ Rahmenbedingungen. Und dazu gehören viele Langzeitarbeitslose im Hartz IV-System.

„Das ist eine erschütternde Bilanz“, so wird der DGB-Arbeitsmarktexperte Wilhelm Adamy in einem Artikel zitiert und meint damit den Blick auf die Beschäftigungschancen der Langzeitarbeitslosen. Der Artikel von Flora Wisdorff, dem das Zitat von Adamy entnommen wurde, ist bezeichnenderweise überschrieben mit Wer ein Jahr arbeitslos ist, bleibt das meist auch. Die dort auf der Basis einer neuen Studie des DGB präsentieren Zahlen sind mehr als ernüchternd:

»Mit 14,3 Prozent hat 2013, im Jahr mit den aktuellsten Daten, noch nicht einmal jeder fünfte langzeitarbeitslose Hartz-IV-Empfänger einen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt gefunden oder sich selbstständig machen können … 2011 waren es immerhin 20 Prozent.«

Aber das ist nur die „rohe“ Quote des Abgangs in irgendeine Beschäftigung. Noch nicht berücksichtigt ist in diesem Wert, wie lange denn die neue Beschäftigung andauert, also ob es sich um einen „nachhaltigen“ Abgang in Beschäftigung handelt. Die vom DGB präsentierten Daten stimmen skeptisch: »Untersucht man, ob dieselben vermittelten Langzeitarbeitslosen sowohl einen Monat später als auch sechs Monate später in Beschäftigung waren, dann halbiert sich die Zahl jener, die noch arbeiten, auf nur 7,5 Prozent«, referiert Wisdorff aus der ihr vorliegenden Studie des DGB. Das bedeutet, die Hälfte der in Beschäftigung abgegangenen langzeitarbeitslosen Menschen kommt innerhalb weniger Monate wieder zurück in die Arbeitslosigkeit. Problemverschärfend wäre außerdem zu berücksichtigen, dass viele dieser Übergänge in Beschäftigung nur mit Hilfe von Lohnkostenzsuchüssen zustande gekommen sind (es wäre ein eigenes Thema zur Vertiefung, wie viele dieser Einstellungshilfen auf Fälle entfallen, die innerhalb weniger Monate wieder beendet wurden bzw. Arbeitslose betreffen, die eigentlich nicht zur Zielgruppe dieses Instrumentariums gehören). Außerdem müsste natürlich bei einer detaillierten Bewertung auch die Frage nach der Art und Weise der Beschäftigungsverhältnisse gestellt werden.

Kurz vor der Berichterstattung über die neue DGB-Studie hatte bereits O-Ton Arbeitsmarkt über das Thema geschrieben: Hartz IV-Empfänger: Nur rund zwei Prozent finden monatlich Arbeit, so lautet die Überschrift eines Artikels. Der dort gewählte Zugangsweg auf der Basis der Daten der Bundesagentur für Arbeit stützt die Aussagen der DGB-Studie: »Die Arbeitsmarktchancen von Hartz IV-Empfängern sind mehr als schlecht. Pro Monat finden nur rund zwei Prozent eine Arbeit. Lediglich die Hälfte von Ihnen bleibt dauerhaft beschäftigt. Hinzu kommt: Meist bringt der Job kein Ende der Hilfebedürftigkeit.« Die Bezugsbasis der hier präsentierten Werte sind übrigens nicht die offiziell als arbeitslos registrierten Hartz IV-Empfänger, sondern die „erwerbsfähigen“ Grundsicherungsempfänger, denn zahlreiche Erwerbsfähige werden aus unterschiedlichen Gründen nicht  formal als „arbeitslos“ ausgewiesen, obgleich sie es faktisch sind. Auf dieser Grundlage und bei einer monatlichen Betrachtungsweise ergeben sich die folgenden Befunde:

»Zwischen September 2013 und September 2014 fanden monatlich nur rund 94.000 von insgesamt 4,4 Millionen erwerbsfähigen Hartz IV-Empfängern eine Beschäftigung, machten sich selbstständig oder begannen eine Ausbildung – das entspricht 2,1 Prozent. Eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung fanden sogar nur rund 79.000 von ihnen, 1,8 Prozent aller erwerbsfähigen Hartz IV-Empfänger. Von Dauer ist das Arbeitsverhältnis zudem nur für etwa die Hälfte (47 Prozent) der 79.000, die eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung fanden. Sie waren auch nach zwölf Monaten sowie an den Stichtagen nach drei und sechs Monaten beschäftigt. Hier gilt allerdings: Dass das Arbeitsverhältnis durchgängig Bestand hatte, kann nur vermutet werden, denn zwischen den Stichtagen sind Phasen der Arbeitslosigkeit möglich, die die Statistik nicht erfasst.«

Natürlich wird an dieser Stelle von den Kritikern sofort darauf hingewiesen, dass die Bezugsbasis mit allen erwerbsfähigen Hilfeempfängern „zu groß“ sei, denn von denen seien ja nicht alle auch wirklich arbeitsuchend. O-Ton-Arbeitsmarkt hat an anderer Stelle (auf Twitter) darauf hingewiesen, dass die monatliche Abgangsrate nur bezogen auf die Gruppe der auch offiziell als arbeitslos registrierten erwerbsfähigen Arbeitslosen mit durchschnittlich 3,2 Prozent auch nicht deutlich besser ausgefallen ist.

Außerdem wird hier auch darauf hingewiesen, dass der Abgang in irgendeine Beschäftigung keineswegs automatisch mit einer Beendigung der Hilfebedürftigkeit gleichgesetzt werden kann und darf, denn eine solche kann weiter bestehen, wenn man beispielsweise zu wenig verdient. Auch hierzu liefern die amtlichen Daten einige Hinweise:

»Der Großteil der Hartz IV-Empfänger, die einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz fanden, konnte die Hilfebedürftigkeit nicht beziehungsweise nicht dauerhaft überwinden. Nur ein Drittel (34 Prozent) bezog an Stichtagen drei, sechs und 12 Monate nach der Beschäftigungsaufnahme keine Hartz IV-Leistungen mehr. Die übrigen Personen waren an mindestens einem der Stichtage weiterhin hilfebedürftig. Bei den Langzeitleistungsbeziehern schafft dies sogar nur jeder Fünfte.«

Fazit: Man kann es drehen und wenden wie man will. Was wir hier erkennen müssen ist das, was man als „Verfestigung“ und „Verhärtung“ der Langzeitarbeitslosigkeit bezeichnet und was auch zum Teil erklären kann, warum trotz der an und für sich günstigen arbeitsmarktlichen Rahmenbedingungen die Beschäftigungschancen – nicht „der“, aber „dieser“ – Arbeitslosen schlechter geworden ist und sich erwartbar weiter verschlechtern wird, wenn man nicht anders als bislang gegenzusteuern versucht. Dies folgt einem einfachen, aber brutal wirksamen Mechanismus: Je länger die Arbeitslosigkeit anhält und gleichzeitig je weniger für und mit den Betroffenen gemacht wird, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass diese Menschen keinen Zugang mehr bekommen werden zu irgendeiner Form der Beschäftigung.

Viele von ihnen werden gleichsam auf Dauer „passiviert“, also faktisch stillgelegt im Leistungsbezug und wenn etwas getan wird, dann oftmals nur noch Spielarten dessen, was man zynisch als „Aktivitätssimulationen“ bezeichnen muss. Mit nicht selten verheerenden Auswirkungen auf die Betroffenen und auch auf die Sache, um die es doch eigentlich gehen soll: Wenn man beispielsweise von den Betroffenen verlangt, jeden Monat eine vorgegebene Anzahl von x Bewerbungen nachzuweisen, von denen man weiß, dass sie erfolglos bleiben werden und dass noch nicht einmal eine Absage zurückkommt, dann wird das die Motivation der Arbeitsuchenden sicher nicht erhöhen, ganz im Gegenteil. Und wenn dann die „Fallmanager“, „persönlichen Ansprechpartner“ oder wie auch immer die genannt werden, die sich in den Jobcentern um diese Menschen kümmern sollen, noch nicht einmal mehr einen – in anderen Zusammenhängen häufig kritisierten – „Ein-Euro-Job, also eine Arbeitsgelegenheit für einige wenige Monate, anbieten können, weil die Fördermittel in den vergangenen Jahren um mehr als 50 Prozent eingedampft worden sind, dann wird für jeden, der vorurteilsfrei an die Sache rangeht, klar erkennbar, dass sich die vorhandenen Problemlagen kumulativ verstärken werden müssen. Wenn „Förderung“ passiert, dann handelt es sich – haushaltsbedingt, aber auch aufgrund des völlig restriktiven und lebensfremden Förderrechts – um nur punktuelle, fragmentierte Interventionen, die im Ergebnis oftmals dazu führen, dass die Betroffenen danach in ein noch tieferes Loch fallen, was sich dann problemverschärfend auswirkt auf die eigentlich angestrebte Vermittlung in Beschäftigung.

Die zwangsläufige Konsequenz ist eine deutliche Zunahme des „verfestigten“, „harten“ Kerns der Langzeitarbeitslosigkeit. Wissenschaftler der Hochschule Koblenz weisen das regelmäßig nach auf der Basis einer Sonderauswertung der PASS-Daten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit – vgl. hierzu den Beitrag Neue Zahlen zur Verfestigung der Langzeitarbeitslosigkeit im Grundsicherungssystem vom 6.11.2014. Die Zahlen beziehen sich auf das Jahr 2012 (im Vergleich zu 2011; die Auswertung für das Jahr 2013 läuft derzeitnoch). In der aktuellen Studie kommen die Wissenschaftler zu folgendem Ergebnis:

»… mehr als 480.000 Menschen in Deutschland sind zwar erwerbsfähig, aber gleichzeitig so „arbeitsmarktfern“, dass ihre Chancen auf Arbeit gegen Null tendieren. Ebenfalls von der Lage ihrer Eltern betroffen sind 340.000 Kinder unter 15 Jahren, die in den Haushalten der besonders benachteiligten Arbeitslosen leben. Besonders alarmierend: Die Lage der Arbeitsmarktfernen verschlechtert sich zusehends. Bereits im Vorjahr hatte das IBUS ihre Zahl berechnet und war zu deutlich geringeren Werten gekommen. Mit 435.000 Menschen gab es 2011 noch zehn Prozent weniger Betroffene. Und auch die Zahl der Kinder ist gestiegen. 2011 lebten 305.000 unter 15-Jährige in den Haushalten der Arbeitsmarktfernen, 11,5 Prozent weniger als 2012.«

Bei der Interpretation dieser Zahlen muss man berücksichtigen, dass es „nur“ um den „harten“ Kern der Langzeitarbeitslosigkeit im SGB II-System geht, denn hier werden Personen als arbeitsmarktfern definiert, wenn sie in den letzten drei Jahren nicht beschäftigt waren und mindestens vier Vermittlungshemmnisse aufweisen, was aufgrund vorliegender empirischer Evidenz dazu führt, dass sie so gut wie keine Beschäftigungschance mehr unter den gegebenen Rahmenbedingungen haben (werden).

Aber gibt es nicht Zeichen der Hoffnung? Flora Wisdorff schreibt in ihrem Artikel: »Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) hat deshalb die Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit zu einem ihrer zentralen Themen gemacht.« Auch wenn das diejenigen überraschen wird, die sich intensiver mit der herrschenden Arbeitsmarktpolitik beschäftigen – hier die Aufklärung, woraus sich diese Einschätzung speist:

»Mithilfe von Mitteln aus dem Europäischen Sozialfonds sollen Menschen, die mindestens zwei Jahre lang arbeitslos waren, wieder in den Arbeitsmarkt integriert werden, und zwar in die Privatwirtschaft. „Betriebsakquisiteure“ der Jobcenter sollen ausschwärmen, um private Arbeitgeber zu überzeugen, Langzeitarbeitslose einzustellen.
In den ersten sechs Monaten bekommen die Arbeitgeber einen Lohnkostenzuschuss von 75 Prozent, der dann stufenweise nach 18 Monaten auf null sinkt. Danach müssen die Unternehmen die geförderten Arbeitnehmer sechs Monate lang weiterbeschäftigen und allein bezahlen.
Die Arbeitslosen werden intensiv von Coaches betreut. Arbeitslose, die bereits seit fünf Jahren nicht mehr gearbeitet haben, sollen noch großzügiger gefördert und intensiver betreut werden.«

Das hört sich doch erst einmal sehr gut an. Aber das „aber“ folgt sogleich: »Allerdings sollen die Mittel nur für 33.000 Arbeitslose bereit gestellt werden. Bei einer Zahl von einer Million Langzeitarbeitslosen ist das allenfalls ein Tropfen auf den heißen Stein. Ein weiteres Programm richtet sich an 10.000 Personen.« Und übrigens nicht pro Jahr.

Und richtig ernüchternd wird es, wenn man sich mit der Realität der Umsetzung des – geplanten – Programms beschäftigt. So berichtet die Initiative Pro Arbeit:

»Jobcenter sind nicht begeistert über hohen Verwaltungsaufwand bei dem neuen Bundes-ESF-Programm zur Eingliederung von Hartz IV-Empfängern in den allgemeinen Arbeitsmarkt, hört man aus allen Ecken des Landes. Am 9. Januar hat das Bundesverwaltungsamt interessierte Jobcenter eingeladen und die Rahmenbedingungen für dieses Programm vorgestellt. Wie bei ESF üblich, sind die Dokumentations- und Nachweispflichten sehr hoch. Jährlich müssen Zwischennachweise erstellt werden. Auch die Arbeitgeber unterliegen dieser Dokumentations- und Nachweispflicht. Es wird die Arbeitgeber freuen und unter diesen Rahmenbedingungen werden sie in Massen zu gewinnen sein, langzeitarbeitslose Menschen einzustellen. Die Mittel für dieses Programm haben mit einer sogenannten Vorwegnahme den Gesamttopf der Eingliederungsmittel der Jobcenter reduziert. Man kann es auch anderes sagen, erst wird den Jobcentern das Geld weggenommen und dann dürfen sie es mit einem hohen Verwaltungsaufwand wieder beantragen und bekommen es evtl. zurück, wenn sie einen Zuwendungsbescheid erhalten.«

Ach, so wird das nichts, das kann man schon jetzt sicher prognostizieren. Wie sind an dieser Stelle und mit Blick auf die sich verfestigende Langzeitarbeitslosigkeit, die mittlerweile mehr als eine Million Menschen umfasst und weiter zunimmt, konfrontiert mit einem manifesten Systemversagen innerhalb des Grundsicherungssystem.

Viele wäre schon gewonnen, wenn man endlich in einem ersten Schritt das machen würde, was Arbeitsmarktexperten unisono mit den Praktikern vor Ort, denen es um die Menschen und um die Sache geht, seit langem einfordern: eine radikale Reform des Förderrechts im SGB II, das vom Kopf auf die Füße gestellt werden muss, um die gesamte Bandbreite sinnvoller, abgestufter und vor allem auch länger laufenden Förderinstrumente nutzen zu können je nach individueller Ausgestaltung der Hilfebedürftigkeit. Es geht hier um die notwendige Beseitigung zentraler „Lebenslügen“ der deutschen Arbeitsmarktpolitik (vgl. hierzu bereits 2010 beispielsweise Sell, S.: Die öffentlich geförderte Beschäftigung vom Kopf auf die Füße stellen. Ein Vorschlag für die pragmatische Neuordnung eines wichtigen Teilbereichs der Arbeitsmarktpolitik).

In einem zweiten Schritt muss sich dann endlich die zentrale Erkenntnis Bahn brechen, dass es allemal sinnvoller ist, individuell und auch volkswirtschaftlich gesehen, Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren – auch wenn das bedeutet, dass man am Anfang deutlich mehr Geld in die Hand nehmen müsste, um beispielsweise eine ordentliche öffentlich geförderte Beschäftigung aufzubauen und ans Laufen zu bringen für die, die das wollen (und das sind viele der Betroffenen entgegen weit verbreiteter Annahmen). Denn eines muss doch endlich auch in Berlin und an anderen Orten erkannt werden – unter den gegebenen Bedingungen werden Hunderttausende Menschen auf Dauer exkludiert von jeglicher Form der Erwerbstätigkeit. Und das bedeutet eben, auch wenn man es nur fiskalisch betrachtet und nicht von den Menschen her: Sie werden ihr Leben lang auf der Payroll des Staates bleiben. Es gibt – auch nur ökonomisch gesehen – keine Alternative zu ganz neuen Wegen der Förderung. Sozialpolitisch und menschlich gesehen sowieso nicht.

„Hartz IV war ein Jobmotor für junge Juristen“. Das SGB II nicht nur als ein Aktenmonster für die Menschen vor und hinter den Schreibtischen in den Jobcentern, sondern auch für die Sozialgerichte, wo es sich zugleich als Mega-ABM entfalten konnte

Das SGB II, also die rechtliche Grundlage des Grundsicherungssystems für Arbeitsuchende, ist ein kompliziertes Ding. Letztendlich kann man das darauf zurückführen, dass es sich bei dem, was man umgangssprachlich als „Hartz IV“ tituliert, um ein nicht-bedingungsloses Grundeinkommen handelt. Was damit ausgerückt werden soll: Völlig unabhängig von der Frage, ob man ein Befürworter oder Gegner eines bedingungslosen Grundeinkommens ist, muss man einen Tatbestand zur Kenntnis nehmen: Hätten wir ein solches, dann wäre die administrative Abwicklung einfach, weil man gerade nicht das tun müsste, was man in der Sozialhilfe- und Hartz IV-Welt aufgrund der dort vorherrschenden Konditionalität der Leistungen und ihrer Abhängigkeit von zugangsverengenden Inanspruchnahmevoraussetzungen tagtäglich machen muss: Prüfen, anrechnen, bewilligen und zurückfordern, kontrollieren und bescheiden, sanktionsbewährt fordern und nach Haushaltslage und eingebettet in rechtliche Restriktionen fördern, nach Ermessen handeln und sich in Widersprüche und Klagen verstricken, denn gleichzeitig soll ja auch das „soziokulturelle Existenzminimum“ gewährleistet werden.

Man wird so weit gehen können zu behaupten: Das SGB II muss an sich selbst verzweifeln, weil in dieses Gesetzeswerk von außen ein nicht auflösbares Dilemma implementiert worden ist, was dazu führen muss, dass das Hartz IV-System beständig hin und her pendelt zwischen den Polen einer weitreichenden Pauschalierung der Leistungen (die nicht nur zu Effizienzgewinnen auf der Verwaltungsseite, sondern auch zu deutlich höheren Freiheitsgraden bei den betroffenen Menschen führen könnte) und der Einzelfallgerechtigkeit, die sich gerade durch ihre oftmals gut begründete Abweichung von der pauschalierten Durchschnittswelt auszeichnet. Da sind Konflikte vorprogrammiert, die eben oftmals existenzieller Natur sind und entsprechend mit voller Härte bzw. Verzweiflung geführt werden. Und schon sind wir bei den Widersprüchen und den Klagen gegen Entscheidungen innerhalb des Hartz IV-Systems angekommen.

Bilder aus – im wahrsten Sinne des Wortes – unter Aktenstapeln absaufenden Sozialgerichten angesichts der Vielzahl an Klagen gegen Entscheidungen im Grundsicherungssystem haben die vergangenen Jahre geprägt. Von Jahr zu Jahr stieg die Zahl der Verfahren und immer wieder wurde auch darüber berichtet, wie viele dieser Verfahren zugunsten der Kläger ausgegangen sind. Und gerne wurde zur Illustration der „Klagewellen“ und der unglaublichen Quantität der Rechtsstreitigkeiten aus der „Hartz IV-Hauptsatdt“ des Landes berichtet, also aus Berlin. Einer Stadt, die angeblich arm, aber auch sexy sei. In der auf alle Fälle viele Menschen (im Dezember 2014 waren es fast 154.000 Berliner) am Tropf der staatlichen Fürsorge hängen (müssen), in der fast jedes dritte Kind in einem „Hartz IV-Haushalt“ aufwächst. Nicht nur, aber auch vor diesem Hintergrund ist es interessant, wie sich das nunmehr abgeschlossene Jahr aus Sicht des Berliner Sozialgerichts dargestellt hat.

Da trifft es sich gut, dass das Berliner Sozialgericht eine solche Bilanzierung für das Jahr 2014 auf einer Jahrespressekonferenz der Öffentlichkeit präsentiert hat. Die dort präsentierte Jahresbilanz 2014 wurde von einigen Medien aufgegriffen – da ist die Rede von Raus aus dem tiefen Tal der Hartz-Reformen, dem Aktenmonster Hartz IV oder ganz handfest formuliert: Alle 24 Minuten eine Hartz-IV-Klage. Und wer lieber das Original bevorzugt, dem sei die Ansprache der Präsidentin des Sozialgerichts Berlin, Frau Sabine Schudoma, auf der Jahrespressekonferenz am 14.01.2015 empfohlen. Bei ihr finden wir einige wichtige Hinweise:

»Kein Ereignis … hat die Sozialgerichtsbarkeit so einschneidend verändert wie das Inkrafttreten des SGB II vor 10 Jahren … Für die deutschen Sozialgerichte gibt es eine Zeit vor Hartz IV und eine Zeit nach Hartz IV.« Bis 2005 habe die Sozialgerichtsbarkeit trotz ihrer eigentlichen Bedeutung für Millionen Menschen ein „Nischendasein“ gefristet, auch in der juristischen Ausbildung, was sich mit Hartz IV fundamental geändert habe, so Schudoma. »Heute stellen die Sozialgerichte die größte Fachgerichtsbarkeit.« Was deutet sich hier an? Eine „Erfolgsstory“ aus Sicht der deutschen Sozialgerichtsbarkeit?

„Hartz IV war ein Jobmotor für junge Juristen“, so wird die Sozialgerichtspräsidentin in dem Artikel Alle 24 Minuten eine Hartz-IV-Klage von Thomas Loy zitiert. Mit Blick auf die in diesen Tagen überall als Auslöser für Berichterstattung beobachtbaren zehn Jahre Hartz IV: »Insgesamt 215.527 Verfahren zur Konflitbewältigung zwischen Jobcentern und ihren Kunden hat das Sozialgericht bearbeitet – statistisch umgerechnet bedeutet das: alle 24 Minuten ein Verfahren.« Noch mal: Wir reden hier nur über Arm-aber-sexy-Berlin. Und was des einen Leid, ist des anderen Freud, zumindest, wenn man diese Kategorie anlegt an das Sozialgericht als „Unternehmen“. Denn das hat „profitiert“. Schudoma macht das deutlich in einer zahlenmäßigen Verdichtung von zehn Jahre Hartz IV:

215.827 Hartz IV-Verfahren zwischen 2005 und 2014
78 neue Richterstellen seit 2005
82 neue Stellen für Servicekräfte, Wachtmeister, Kostenbeamte
2,8 Kilometer erledigte Hartz IV-Akten im Archiv
4.316.540 mal „Klack“ – jeder Posteingang erhielt einen Stempel.

Man kann es auch so ausdrücken:

»Bekommt man davon einen Stempel-Arm? Die Justizangestellten in der Poststelle des Sozialgerichts lachen. „Wir machen ja Ausgleichssport, dann geht das“, sagt der diensthabende Eingangsdatums-Stempler. Außerdem werde wochenweise rotiert. Insgesamt 216 „nicht-richterliche“ Mitarbeiter kümmern sich um die Aktenflut im Berliner Sozialgericht. Zwar ist die Zahl der Hartz-IV-Klagen im vergangenen Jahr erneut gesunken, aber die Akten zu den 23.597 Einzelfällen werden immer dicker. Außerdem schiebt das Gericht einen Berg unerledigter Fälle auch aus anderen Rechtsgebieten vor sich her.« (Thomas Loy: Alle 24 Minuten eine Hartz-IV-Klage).

Aber es gibt auch positive Nachrichten, die man schon in der Abbildung mit den Grafiken erkennen kann: Der Gipfel scheint überschritten worden zu sein, die Zahl der Klageverfahren ist rückläufig, wenn auch nur sehr langsam und von einem extremen Hoch. Zu der Entwicklung führt die Gerichtspräsidentin aus:

»Im ersten Jahr verzeichnete das Sozialgericht Berlin bereits 5.000 Hartz IV-Fälle. Im zweiten Jahr Hartz IV verdoppelte sich die Zahl der eingehenden Verfahren auf 10.000. Immer mehr Klagen in grünen Aktendeckeln türmten sich in den Geschäftsstellen. Grün – die Farbe von Hartz IV, entsprechend der bundesweit geltenden Aktenordnung. Bald überstürzten sich die Ereignisse … Schneller als erwartet war unser Vorrat an grünen Aktendeckeln erschöpft. Die Druckerei kam mit der Arbeit nicht mehr hinterher. Wir improvisierten: Statt grünen Aktendeckeln nahmen wir weiße, auf die wir grüne Punkte klebten. Die Hauptregistratur konnte weiter arbeiten. Meine Damen und Herren, 2010 erreichten uns dann über 30.000 SGB II-Fälle – in nur fünf Jahren hatten sich die Hartz IV-Eingangszahlen versechsfacht.«

Seit dem Höchststand im Jahr 2010 ist die reine Zahl an Klageverfahren rückläufig. Dazu Schudoma: »Sechs Jahre lang ging es nur bergauf. Seit 2011 sinken die SGB II-Zahlen wieder. Doch noch immer erreichen uns im Monatsdurchschnitt fast 2.000 neue Hartz IV-Verfahren … Das ist die Größenordnung, auf die wir uns auch in Zukunft einstellen müssen.« Und das hängt eben auch und vor allem mit den bereits angesprochenen strukturellen Problemen innerhalb des Hartz IV-Systems zusammen. Auch hier sei Sabine Schudoma wieder zitiert:

»Im Vergleich zur alten Rechtslage hat das SGB II die Zahl der zu erteilenden Bescheide in die Höhe schnellen lassen. Naturgemäß wächst die Gefahr von Fehlern mit der Zahl der Verwaltungsakte. Oft lässt das Gesetz auch grundlegende Fragen offen: Viele unbestimmte Rechtsbegriffe müssen immer wieder neu ausgelegt werden: Welche Unterkunftskosten sind angemessen? Welcher Sonderbedarf ist wirklich unabweisbar? Manche Vorschriften sind nur schwer handhabbar, zum Beispiel bei der Einkommensanrechnung. Schließlich ist die Rechtslage in zentralen Punkten immer noch umstritten. Ich erinnere nur an die Frage, ob arbeitsuchende EU-Bürger einen Anspruch auf Hartz IV-Leistungen haben. Hier warten wir immer noch auf eine abschließende Klärung durch den Europäischen Gerichtshof. Und nicht zuletzt: Über 70 Änderungsgesetze führen auch erfahrene Rechtsanwender an die Grenzen.«

Man sollte sich also von dem erkennbaren Rückgang nicht blenden lassen. Oder anders formuliert: »Auch haben sich in den vergangenen Jahren enorme Aktenberge angesammelt. Fast 42.000 unerledigte Verfahren stehen im Berliner Sozialgericht noch aus. Selbst wenn keinerlei neue Beschwerde hinzukäme, würde es über ein Jahr dauern, sie abzuarbeiten. Dazu kommt, dass die durchschnittliche Dauer eines einzelnen Verfahrens auf nunmehr 13,8 Monate gestiegen ist. Die Fälle werden länger und komplexer. Deshalb sorgt das Amt schon mal vor: In einer neuen Aktenhalle soll Platz für bis zu zwei Kilometer weiterer Akten geschaffen werden«, so Johannes Supe in ihrem Beitrag Aktenmonster Hartz IV.

Sabine Schudoma, die Präsidentin des Sozialgerichts Berlin, bekommt in diesem Beitrag das vorletzte Wort zu zehn Jahre Hartz IV:

»Auch überall im Gebäude hat Hartz IV seine Spuren hinterlassen. Schutt, Staub, Baulärm sind im Haus allgegenwärtig. Bei uns fällt der Blick aus dem Fenster zum Hof auf eine Baustelle: Geschaffen wird dort eine neue Aktenhalle mit Platz für noch einmal 2 km Akten. Wo früher die Gerichtskantine lag, sitzen heute Hartz IV-Richter. Überall wurden Zwischenwände gezogen, um Platz für neue Büros zu schaffen.«

Und da sage noch mal jemand: Hartz IV habe keine Arbeitsplätze geschaffen. Das wenigstens ist widerlegt. Und man  kann sogar noch weitergehen und postulieren, es wurde auch ein neues Berufsbild geschaffen: Der „Hartz IV-Richter“.

Die Bundesagentur für Arbeit als Little-Facebook oder gar als Miniatur-Ausgabe der NSA? Das „Neuland“ Internet soll jetzt ganz modern durchsucht werden

Ach, die Bundesagentur für Arbeit (BA). So eine große Behörde, Pardon: so ein großes Unternehmen. Moderner Dienstleister am Arbeitsmarkt nennt man sich selbst. Und wer „modern“ ist, macht auch mit im „Neuland“, also diesem Internet mit seinen vielfältigen Ausprägungen.  Da wird ja so viel geschrieben und von sich gegeben. Und hin und wieder auch über die Bundesagentur für Arbeit. Und natürlich: jede große Organisation interessiert sich auch für sich selbst, manche kreisen sogar überwiegend um sich selbst. Da will man doch wissen, was die anderen da draußen so denken, schreiben, posten oder wie das ganze Zeugs so heißt. Aber es gibt so ein unglaubliches Rauschen im Neuland, da muss man systematisch rangehen, also eben modern. Das könnte erklären, warum die Bundesagentur für Arbeit konkrete Arbeitsplätze schaffen will. In der IT-Branche. Was doch erst einmal löblich erscheint. So sucht die BA »auf der Onlinevergabeplattform des Bundes ein Unternehmen, das ihr ein »Social Media Monitoring Tool« (Programm zum Beobachten sozialer Medien) für zunächst zwei Jahre zur Verfügung stellt. Die Firma, die den Zuschlag erhält, soll die Software warten und BA-Angestellte in der Nutzung schulen.

Laut Auftrag geht es um »automatisierte Identifikation und Analyse von Diskussionen und Kommentaren im deutschsprachigen Social Web«. Der Vertrag soll von Mitte März 2015 bis zum Frühsommer 2017 laufen«, berichtet Susan Bonath in ihrem provozierend mit Nürnberger Spionageamt betitelten Artikel. Also Informationen zu bekommen, was die Menschen im Internet so treiben, bestellen und (nicht) machen, daran haben viele Unternehmen ein Interesse, sind doch Daten mittlerweile eine eigenständige „Rohstoff“-Kategorie geworden. Und das Unternehmen wie Facebook oder Google, die mit Werbung ihr Geld verdienen, ein Interesse an diesen Informationen haben, liegt auf der Hand. »Verkäufe bei Ebay, Onlinebuchung eines Fluges, ein Kommentar bei Facebook: An diesen Daten haben … Konzerne Interesse, die Produkte oder Dienstleistungen bewerben wollen.« Aber die Bundesagentur für Arbeit? Die BA als „Little-Facebook“ macht nun wirklich keinen Sinn. Es muss also um etwas anderes gehen.

Nun könnte man an dieser Stelle das Argument vortragen, es geht der Behörde, pardon: dem Dienstleister am Arbeitsmarkt vielleicht nur darum zu erfahren, wie man über sie spricht und diskutiert, wo sie überall auftaucht, welche Meinungen und Stimmungen ausgetauscht werden. Das wäre aus Sicht der Organisation ein durchaus legitimes Interesse, das machen andere auch. Schauen wir also genauer hin, was die BA da eigentlich einkaufen will. Dazu Susan Bonath in ihrem Artikel:

»Mit solchen »Monitoring Tools« können Foren, Blogs, Verkaufsplattformen oder Kommentarspalten im Internet mit Hilfe von Stichwörtern oder Namen abgescannt werden. Konzerne forschen so persönliche Interessen aus und spüren potentielle Kunden im World Wide Web auf, die sie dann mit Werbung überhäufen. Wie der Anbieter Infospeed auf seiner Internetseite erklärt, dient die Software dafür, »benutzergenerierte Inhalte« zu »identifizieren und zu analysieren«, etwa für »Marktforschungszwecke«. Im Gegensatz zum »Webmonitoring«, wo es darum geht, kommerzielle Nachrichten und Artikel zu durchforsten, würden beim »Social Media Monitoring« Einträge und Daten bestimmter Nutzer ausgewertet. Es eröffne sich eine »breite Quelle an Informationen«, etwa zu Kaufentscheidungen, Ansichten und persönlichen Details, heißt es.«

In dem Artikel wird Frauke Wille, die Sprecherin der Bundesagentur für Arbeit zitiert, die wir hier auch zu Wort kommen lassen wollen, denn was sie zu Protokoll gegeben hat, würde den ersten Erklärungsansatz – also der Beobachter des Arbeitsmarktes beobachtet selbst, wie er beobachtet wird  – stützen: »Mit der Onlinedurchsuchung sollen Mitarbeiter aus den Bereichen IT, Presse und dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) betraut werden.« Wie viele, das stehe angeblich noch nicht fest und wenn doch, dann würde es wahrscheinlich auch nicht bekannt gegeben werden. Und weiter erfahren wir:

»Ermittelt werde unter anderem in Foren, Blogs und sozialen Netzwerken. Verfolgt werden sollten vor allem »aktuelle Diskussionsthemen mit Bezug auf die BA«, so Wille weiter.«

Das ist hinreichend unpräzise, um weitergehenden Spekulationen nicht den Boden zu entziehen. Diese Spekulationen schießen auch deshalb ins Kraut, weil es schon in der Vergangenheit Erfahrungen mit der BA gegeben hat, die an einen anderen – möglichen – Ansatz erinnern: Im November 2013 wurde berichtet, dass die Bundesagentur für Arbeit eine Internet-Überwachung von ALG-II-Beziehern plane, um mögliche Nebeneinkünfte aufzuspüren. Umgesetzt werden sollte nach den damaligen Vorschlägen die Internet-Fahndung demnach vom Bundeszentralamt für Steuern, das bereits für die Finanzämter nach Steuersündern sucht.

Und auch der damalige Bundesbeauftragte für Datenschutz, Peter Schaar, hatte 2013 seine Erfahrungen mit der BA und ihren Ambitionen hinsichtlich der sozialen Netzwerke machen und eine Rüge aussprechenmüssen, wie Susan Bonath berichtet: »Laut Schaar hatten damals Jobcenter bei ihm nachgefragt, ob sie Infos auf Facebook von Hartz-IV-Beziehern verwenden dürften. Keinesfalls, so seine Antwort, habe die BA das Recht, sich in Foren einzuloggen oder Suchmaschinen zu nutzen, um Klienten zu beobachten. Anders liege der Fall nur, wenn es einen konkreten Betrugsverdacht gebe. »Eine Spionage ins Blaue hinein ist immer illegal«, hatte Schaar erklärt.«

Da ist es doch beruhigend, dass eine Sprecherin der heutigen Bundesbeauftragten für Datenschutz, Andrea Voßhoff, erklärt: „Unsere Auffassung von damals gilt auch heute“. Allerdings besteht hinsichtlich der neueren Vorstöße in die unbekannten Weiten des Netzes noch ein gewisses Informationsdefizit bei den Datenschützern: „Wir wissen nichts von dieser Ausschreibung, so wird die Behördensprecherin zitiert. Sie werde bei der BA nachhaken.

Die wird das alles sicher voll umfänglich aufklären mit ihrer modernen Kommunikationsmaschinerie.

Gutes Hartz IV, schlechtes Hartz IV? Die Diskussion ist mal wieder im Entweder-Oder-Modus. Dabei gibt es eine Menge zu tun

Wenn man sich nur ein wenig mit dem beschäftigt, was im Grundsicherungssystem, umgangssprachlich auch als „Hartz IV“ bezeichnet, passiert und sich die Entwicklungen in diesem Bereich anschaut angesichts der Tatsache, dass jeder zehnte Haushalt in Deutschland SGB II-Leistungen bezieht, dann wird man wieder einmal kopfschüttelnd folgende  Kommentierungen zur Kenntnis nehmen (müssen): »Zehn Jahre nach dem Start von Hartz IV sind viele Kritiker verstummt. Entkräftet ist der Vorwurf, alles sei eine reine Sparmaßnahme. Ganz gelöst ist das Langzeitarbeitslosen-Problem aber leider bis heute nicht.« So hat es Heike Göbel in ihrem Beitrag Gute Hartz-Bilanz formuliert. Dazu auch meine Anmerkungen unter Einer geht noch … einer muss noch sein. Ein Kommentar zur Dauerbaustelle Hartz IV bzw. zu ihrer journalistischen Verwurstung.

Gleichsam als Gegenpol zu diesen rührig daherkommenden Einbettungsversuchen der „Hartz-Reformen“ in die „Erfolgsgeschichte“ vom deutschen „Jobwunder“ stehen Positionierungen wie die des Kölner Politikwissenschaftlers Christoph Butterwegge: Wer arm ist, muss mit Misstrauen rechnen. Seine Bilanz ist vernichtend: »Hartz IV hat in erheblichem Ausmaß zur sozialen Entrechtung, Entsicherung und Entwertung eines wachsenden Bevölkerungsteils beigetragen, der besonders in einer wirtschaftlichen Krisensituation als „unproduktiv“ und „unnütz“ gilt.« An anderer Stelle wird Butterwegge noch deutlicher: »Fragt man nach den immateriellen Schäden, seelischen Verwundungen und Veränderungen im Alltagsbewusstsein, die besonders Hartz IV unter den Betroffenen hervorgerufen bzw. hinterlassen hat, braucht das Gesetzespaket womöglich selbst einen Vergleich mit beiden Weltkriegen nicht zu scheuen«, schreibt er in einem Beitrag mit der Überschrift Hartz IV braucht den Vergleich mit den beiden Weltkriegen nicht zu scheuen für die Online-Ausgabe des Focus. Er spricht von einem totalitären Arbeitsmarkt- und Armutsregime: »Totalitär ist das Hartz-IV-System insofern, als es sämtliche Poren der Gesellschaft durchdringt und die Betroffenen nicht mehr loslässt, ihren Alltag völlig beherrscht und sie zwingt, ihr gesamtes Verhalten danach auszurichten.« Und nun meldet sich auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) zu Wort: DGB geißelt fünf Kernfehler von Hartz IV oder Beschönigt, verschleiert, verfehlt, so lauten die Schlagzeilen in der Berichterstattung der Presse über das, was der DGB in einem Positionspapier zu Protokoll gegeben hat.

Der DGB stellt seine Überlegungen unter die Überschrift: Zehn Jahre Hartz IV: Ziele verfehlt, großer Reformbedarf. Sie basieren auf einem Papier, das Wilhelm Adamy, der Arbeitsmarktexperte des DGB, verfasst hat: DGB-Analyse. Zehn Jahre Hartz IV: Ein Grund zum Feiern?
„Die Ziele dieses Umbaus von Sozialstaat und Arbeitsförderung waren hoch gesteckt. Insbesondere sollte eine ganzheitliche Betreuung und bessere Kombination von Arbeitsförderung und sozialen Hilfen eröffnet und eine Leistung ‚aus einer Hand‘ sichergestellt werden“, heißt es in der DGB-Analyse zu zehn Jahren Hartz IV. Allerdings seien die entsprechenden Maßnahmen zum Teil schlecht umgesetzt worden oder „beschönigten oder verschleierten die tatsächlichen Absichten“.
„Hartz IV wurde nicht nur schlecht gemacht, sondern hat zentrale Eckpfeiler und die Grundarchitektur des bundesdeutschen Sozialsystems massiv verschoben“, so ein Fazit der DGB-Analyse.

Interessant ist natürlich, welche Reformvorschläge vom DGB gemacht werden. Hierzu findet man die folgenden Punkte:

Das Hartz-IV-System muss entlastet und die vorgelagerten Sicherungssysteme (insbesondere die Arbeitslosenversicherung)  ausgebaut werden. So sollten befristet Beschäftigte bei Jobverlust einen besseren Zugang zur Arbeitslosenversicherung erhalten und über ein Mindest-Arbeitslosengeld die Zahl jener reduziert werden, die nach Job-Verlust unmittelbar auf staatliche Fürsorge abrutschen. Sozialversichert Beschäftigte mit aufstockendem Hartz IV sollten gleichfalls von der Arbeitslosenversicherung betreut werden.

Die Arbeitsförderung muss ausgebaut werden. So sollte die Dominanz des „Forderns“ zugunsten des Förderns korrigiert und Rechte für die Betroffenen auf Förderung ausgebaut werden.

Existenzgefährdende Sanktionen müssen aufgehoben werden. Sozialstaatliche Zumutbarkeitsregelungen sind ebenso notwendig, die keine Sanktionen mehr bei nicht existenzsichernder Arbeit vorsehen.

Insbesondere die Mittel für Weiterbildung müssen erhöht und finanzielle Anreize für Hartz-IV-Empfänger geschaffen werden, die einen Berufsabschluss anstreben. Bisher sind sie finanziell schlechter gestellt als jene, die einen Ein-Euro-Job ausüben.

Die sozialen Integrationshilfen und das Ziel der sozialen Teilhabe müssen für jene ausgebaut werden, die auf absehbare Zeit keine Chance auf dem regulären Arbeitsmarkt haben. Dies sollte mit einer besseren Zusammenarbeit und Kooperation unterschiedlicher Institutionen – wie den Jobcentern und den Krankenkassen – verknüpft werden.

Arbeitsförderung sollte eine „neue Ordnung auf dem Arbeitsmarkt“ unterstützen. Prekäre Beschäftigung muss zurückgedrängt und auch Langzeitarbeitslosen Mindestlöhne von 8,50 Euro gezahlt werden.

Um Armut von Erwerbstätigen mit Kindern wirksamer bekämpfen zu können, sollte ergänzend zum Mindestlohn der Kinderzuschlag sowie das Wohngeld für Geringverdiener ausgebaut werden.

Wie die Situation vor Ort aussieht, kann man beispielhaft dem folgenden Artikel entnehmen, der die Lage in einer Großstadt im Ruhrgebiet beschreibt: Essen bekommt Langzeitarbeitslosigkeit nicht in den Griff. Es ist wie das Strampeln im Sack, so wird der Sozialdezernent Peter Renzel zitiert und er meint damit die Frage: Wie kriegt man insbesondere jene Menschen, die seit Jahren arbeitslos sind, wieder in Jobs? Die Zahlen sprechen für sich: Fast zwei Drittel der über 29.000 Jobcenter-Kunden in Essen gelten als langzeitarbeitslos. Und in dem Artikel wird korrekterweise auch auf die fatalen Auswirkungen der massiven Kürzungen in der Arbeitsförderung hingewiesen:

»Essen schrammt knapp am Hartz-Stillstand vorbei: Die drastische Kürzung der so genannten Eingliederungsmittel durch den Bund von 81 Millionen Euro in 2010 auf 55,3 Millionen Euro in diesem Jahr allein für Essen, minimierte die Chancen der Betroffenen massiv. Es ist zu wenig Geld da, um zu qualifizieren, zu stabilisieren oder zu aktivieren für einen Essener Arbeitsmarkt, der überdurchschnittlich hohe Anforderungen stellt … Zwar finden 3.500 bis 4.500 Jobcenter-Kunden jeden Monat einen Job. Doch 40 Prozent von ihnen kommen innerhalb eines Jahres wieder zurück, tausende verlieren ganz den Anschluss. Es ist eine erschreckende Zahl: Inzwischen weist Essen eine SGB-II-Hilfequote von 19,0 Prozent aus. Das ist landesweit der zweitschlechteste Wert. Nur Gelsenkirchen ist mit 22,5 Prozent noch ärmer dran.«

Und da in letzter Zeit immer zu lesen oder zu hören ist, die Zahl der Hartz IV-Empfängern sei rückläufig und die Langzeitarbeitslosen würden auch profitieren von der tollen Arbeitsmarktlage der letzten Jahre, hier ein paar korrigierende Fakten aus Essen: Nicht weniger, sondern über die Jahre eine zunehmende Zahl an Menschen ist auf öffentliche Leistungen aus dem Hartz IV-System angewiesen. »Startete die Grundsicherung in Essen mit 51.415 Hilfebedürftigen, stieg die Zahl der so genannten erwerbsfähigen Leistungsberechtigten auf knapp 62.000 in diesem Jahr. Addiert man deren Nachwuchs hinzu, leben in dieser Stadt 85.326 Menschen von Hartz IV-Leistungen. So viele wie noch nie.«

Und dann der wichtige Hinweis auf eine wichtige Gruppe, an die viele nicht denken, wenn es um Hartz IV-Empfänger geht: die arbeitenden Aufstocker:
»Einen großen Anteil an dieser Entwicklung hat die weiter wachsende Gruppe der Ergänzer. Allein zwischen 2007 und 2014 ist die Zahl der Essener, die arbeiten und dennoch auf SGB-II-Leistungen angewiesen sind, um 5.126 auf jetzt 14.620 gestiegen. Ein Großteil der Menschen kommt in der Leiharbeitsbranche unter oder hat einen Minijob, der allerdings nur geringe berufliche Perspektiven bietet. Auch für sie ist das Strampeln im Sack.«

Der Sozialdezernent Renzel bringt das zentrale Probleme im Bereich der verfestigten Langzeitarbeitslosigkeit auf den Punkt: Es fehlen die Arbeitsplätze für die geringer Qualifizierten. Er macht konkrete Vorschläge, was man durch gesetzgeberische Aktivitäten endlich ermöglichen sollte, denn gerade in Kommunen wie Essen liegt die Arbeit im wahrten Sinne des Wortes auf der Straße und man kann angesichts der Haushaltslage der meisten Kommunen gestrost davon ausgehen, dass der größte Teil dieser Arbeit nicht erledigt werden kann, weil man gar nicht die Mittel hat, um das vor Ort in Form eines regulären Auftrags vergeben zu können:

»Die Lösung für die Zukunft sei eine „öffentlich geförderte Beschäftigung“, meint nicht nur der Sozialdezernent: Mit den Mitteln der Grundsicherung und der Wohnungs- und Heizkosten, die sich für Essen in diesem Jahr auf fast 230 Millionen Euro summieren, müssten Teile der Löhne für Langzeitarbeitslose bezahlt werden, wenn sie bei einem privaten oder gemeinnützigen Unternehmen wie der Essener Arbeit Beschäftigungsgesellschaft (EABG) einen Job bekommen.« Vgl. zur Arbeit der EABG auch das Interview mit Ulrich Lorch, dem Vorsitzenden der Geschäftsführung dieser Beschäftigungsgesellschaft.

Aber selbst hier hat man schon vorweggenommen, dass man nur das zu hören bekommt, was man seit Jahren hört: Geht nicht, kommt nicht. Was bleibt ist die Bitte um wenigstens einen Modellversuch:
Einen oder mehrere Versuche sei es aber wert, meint Renzel, der an die Verantwortlichen in Berlin appelliert: „Mindestens ein Modell in der Region Ruhrgebiet sollte der Gesetzgeber ermöglichen.“

Abschließend wieder zurück zu einer ganz grundsätzlichen – und im wahrsten Sinne des Wortes zornigen – Sicht auf Hartz IV: Der Jurist Jürgen Borchert, 65, hat im Dezember sein Amt als Vorsitzender Richter am hessischen Landessozialgericht abgegeben und ist in den (Un)Ruhestand getreten. Man kann ihn sicher als einen der streitbarsten Sozialrichter dieses Landes bezeichnen. Die Süddeutsche Zeitung hat ihn interviewt, auch zum Thema Hartz IV: „Ja, es stimmt: Ich bin zornig“, so ist der Bericht über das Interview in der Online-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung überschrieben.

„Der Zustand unseres Sozialstaates ist desaströs. Er ist an Intransparenz nicht zu überbieten“, beginnt Borchert. Beispiel Hartz IV: Das Gesetz wurde innerhalb von zehn Jahren mehr als 70 mal verändert hat. Davon einige Male tiefgreifend. Das schaffe kein Vertrauen – es führe dazu, dass die Bürger kein Rechtsbewusstsein mehr entwickelten, so der ehemalige Sozialrichter.

Im Januar werden die Hartz-IV-Reformen zehn Jahre alt und die Zahl der Arbeitslosen ist so niedrig wie seit langem nicht mehr. Auch dies sei, so Borchert, kein Erfolg: „Das Arbeitsvolumen blieb seit 2000 gleich, wurde durch Leih-und Teilzeitarbeit nur auf mehr Personen verteilt. So haben wir eine Abwärtsspirale der Löhne in Gang gesetzt – mit der Folge, dass immer mehr Löhne subventioniert werden müssen.“ Hier handele es sich um eine Marktverzerrung sondergleichen. „Das stinkt nicht nur zum Himmel , sondern konkurriert auch die Arbeitsmärkte unserer Nachbarn in Europa in Grund und Boden.“ Hartz IV erwecke den Eindruck, als ob die Langzeitarbeitslosigkeit ein persönliches Versagen sei. „Man macht Opfer zu Tätern“, so Borchert.