Das SGB II, also die rechtliche Grundlage des Grundsicherungssystems für Arbeitsuchende, ist ein kompliziertes Ding. Letztendlich kann man das darauf zurückführen, dass es sich bei dem, was man umgangssprachlich als „Hartz IV“ tituliert, um ein nicht-bedingungsloses Grundeinkommen handelt. Was damit ausgerückt werden soll: Völlig unabhängig von der Frage, ob man ein Befürworter oder Gegner eines bedingungslosen Grundeinkommens ist, muss man einen Tatbestand zur Kenntnis nehmen: Hätten wir ein solches, dann wäre die administrative Abwicklung einfach, weil man gerade nicht das tun müsste, was man in der Sozialhilfe- und Hartz IV-Welt aufgrund der dort vorherrschenden Konditionalität der Leistungen und ihrer Abhängigkeit von zugangsverengenden Inanspruchnahmevoraussetzungen tagtäglich machen muss: Prüfen, anrechnen, bewilligen und zurückfordern, kontrollieren und bescheiden, sanktionsbewährt fordern und nach Haushaltslage und eingebettet in rechtliche Restriktionen fördern, nach Ermessen handeln und sich in Widersprüche und Klagen verstricken, denn gleichzeitig soll ja auch das „soziokulturelle Existenzminimum“ gewährleistet werden.
Man wird so weit gehen können zu behaupten: Das SGB II muss an sich selbst verzweifeln, weil in dieses Gesetzeswerk von außen ein nicht auflösbares Dilemma implementiert worden ist, was dazu führen muss, dass das Hartz IV-System beständig hin und her pendelt zwischen den Polen einer weitreichenden Pauschalierung der Leistungen (die nicht nur zu Effizienzgewinnen auf der Verwaltungsseite, sondern auch zu deutlich höheren Freiheitsgraden bei den betroffenen Menschen führen könnte) und der Einzelfallgerechtigkeit, die sich gerade durch ihre oftmals gut begründete Abweichung von der pauschalierten Durchschnittswelt auszeichnet. Da sind Konflikte vorprogrammiert, die eben oftmals existenzieller Natur sind und entsprechend mit voller Härte bzw. Verzweiflung geführt werden. Und schon sind wir bei den Widersprüchen und den Klagen gegen Entscheidungen innerhalb des Hartz IV-Systems angekommen.
Bilder aus – im wahrsten Sinne des Wortes – unter Aktenstapeln absaufenden Sozialgerichten angesichts der Vielzahl an Klagen gegen Entscheidungen im Grundsicherungssystem haben die vergangenen Jahre geprägt. Von Jahr zu Jahr stieg die Zahl der Verfahren und immer wieder wurde auch darüber berichtet, wie viele dieser Verfahren zugunsten der Kläger ausgegangen sind. Und gerne wurde zur Illustration der „Klagewellen“ und der unglaublichen Quantität der Rechtsstreitigkeiten aus der „Hartz IV-Hauptsatdt“ des Landes berichtet, also aus Berlin. Einer Stadt, die angeblich arm, aber auch sexy sei. In der auf alle Fälle viele Menschen (im Dezember 2014 waren es fast 154.000 Berliner) am Tropf der staatlichen Fürsorge hängen (müssen), in der fast jedes dritte Kind in einem „Hartz IV-Haushalt“ aufwächst. Nicht nur, aber auch vor diesem Hintergrund ist es interessant, wie sich das nunmehr abgeschlossene Jahr aus Sicht des Berliner Sozialgerichts dargestellt hat.
Da trifft es sich gut, dass das Berliner Sozialgericht eine solche Bilanzierung für das Jahr 2014 auf einer Jahrespressekonferenz der Öffentlichkeit präsentiert hat. Die dort präsentierte Jahresbilanz 2014 wurde von einigen Medien aufgegriffen – da ist die Rede von Raus aus dem tiefen Tal der Hartz-Reformen, dem Aktenmonster Hartz IV oder ganz handfest formuliert: Alle 24 Minuten eine Hartz-IV-Klage. Und wer lieber das Original bevorzugt, dem sei die Ansprache der Präsidentin des Sozialgerichts Berlin, Frau Sabine Schudoma, auf der Jahrespressekonferenz am 14.01.2015 empfohlen. Bei ihr finden wir einige wichtige Hinweise:
»Kein Ereignis … hat die Sozialgerichtsbarkeit so einschneidend verändert wie das Inkrafttreten des SGB II vor 10 Jahren … Für die deutschen Sozialgerichte gibt es eine Zeit vor Hartz IV und eine Zeit nach Hartz IV.« Bis 2005 habe die Sozialgerichtsbarkeit trotz ihrer eigentlichen Bedeutung für Millionen Menschen ein „Nischendasein“ gefristet, auch in der juristischen Ausbildung, was sich mit Hartz IV fundamental geändert habe, so Schudoma. »Heute stellen die Sozialgerichte die größte Fachgerichtsbarkeit.« Was deutet sich hier an? Eine „Erfolgsstory“ aus Sicht der deutschen Sozialgerichtsbarkeit?
„Hartz IV war ein Jobmotor für junge Juristen“, so wird die Sozialgerichtspräsidentin in dem Artikel Alle 24 Minuten eine Hartz-IV-Klage von Thomas Loy zitiert. Mit Blick auf die in diesen Tagen überall als Auslöser für Berichterstattung beobachtbaren zehn Jahre Hartz IV: »Insgesamt 215.527 Verfahren zur Konflitbewältigung zwischen Jobcentern und ihren Kunden hat das Sozialgericht bearbeitet – statistisch umgerechnet bedeutet das: alle 24 Minuten ein Verfahren.« Noch mal: Wir reden hier nur über Arm-aber-sexy-Berlin. Und was des einen Leid, ist des anderen Freud, zumindest, wenn man diese Kategorie anlegt an das Sozialgericht als „Unternehmen“. Denn das hat „profitiert“. Schudoma macht das deutlich in einer zahlenmäßigen Verdichtung von zehn Jahre Hartz IV:
215.827 Hartz IV-Verfahren zwischen 2005 und 2014
78 neue Richterstellen seit 2005
82 neue Stellen für Servicekräfte, Wachtmeister, Kostenbeamte
2,8 Kilometer erledigte Hartz IV-Akten im Archiv
4.316.540 mal „Klack“ – jeder Posteingang erhielt einen Stempel.
Man kann es auch so ausdrücken:
»Bekommt man davon einen Stempel-Arm? Die Justizangestellten in der Poststelle des Sozialgerichts lachen. „Wir machen ja Ausgleichssport, dann geht das“, sagt der diensthabende Eingangsdatums-Stempler. Außerdem werde wochenweise rotiert. Insgesamt 216 „nicht-richterliche“ Mitarbeiter kümmern sich um die Aktenflut im Berliner Sozialgericht. Zwar ist die Zahl der Hartz-IV-Klagen im vergangenen Jahr erneut gesunken, aber die Akten zu den 23.597 Einzelfällen werden immer dicker. Außerdem schiebt das Gericht einen Berg unerledigter Fälle auch aus anderen Rechtsgebieten vor sich her.« (Thomas Loy: Alle 24 Minuten eine Hartz-IV-Klage).
Aber es gibt auch positive Nachrichten, die man schon in der Abbildung mit den Grafiken erkennen kann: Der Gipfel scheint überschritten worden zu sein, die Zahl der Klageverfahren ist rückläufig, wenn auch nur sehr langsam und von einem extremen Hoch. Zu der Entwicklung führt die Gerichtspräsidentin aus:
»Im ersten Jahr verzeichnete das Sozialgericht Berlin bereits 5.000 Hartz IV-Fälle. Im zweiten Jahr Hartz IV verdoppelte sich die Zahl der eingehenden Verfahren auf 10.000. Immer mehr Klagen in grünen Aktendeckeln türmten sich in den Geschäftsstellen. Grün – die Farbe von Hartz IV, entsprechend der bundesweit geltenden Aktenordnung. Bald überstürzten sich die Ereignisse … Schneller als erwartet war unser Vorrat an grünen Aktendeckeln erschöpft. Die Druckerei kam mit der Arbeit nicht mehr hinterher. Wir improvisierten: Statt grünen Aktendeckeln nahmen wir weiße, auf die wir grüne Punkte klebten. Die Hauptregistratur konnte weiter arbeiten. Meine Damen und Herren, 2010 erreichten uns dann über 30.000 SGB II-Fälle – in nur fünf Jahren hatten sich die Hartz IV-Eingangszahlen versechsfacht.«
Seit dem Höchststand im Jahr 2010 ist die reine Zahl an Klageverfahren rückläufig. Dazu Schudoma: »Sechs Jahre lang ging es nur bergauf. Seit 2011 sinken die SGB II-Zahlen wieder. Doch noch immer erreichen uns im Monatsdurchschnitt fast 2.000 neue Hartz IV-Verfahren … Das ist die Größenordnung, auf die wir uns auch in Zukunft einstellen müssen.« Und das hängt eben auch und vor allem mit den bereits angesprochenen strukturellen Problemen innerhalb des Hartz IV-Systems zusammen. Auch hier sei Sabine Schudoma wieder zitiert:
»Im Vergleich zur alten Rechtslage hat das SGB II die Zahl der zu erteilenden Bescheide in die Höhe schnellen lassen. Naturgemäß wächst die Gefahr von Fehlern mit der Zahl der Verwaltungsakte. Oft lässt das Gesetz auch grundlegende Fragen offen: Viele unbestimmte Rechtsbegriffe müssen immer wieder neu ausgelegt werden: Welche Unterkunftskosten sind angemessen? Welcher Sonderbedarf ist wirklich unabweisbar? Manche Vorschriften sind nur schwer handhabbar, zum Beispiel bei der Einkommensanrechnung. Schließlich ist die Rechtslage in zentralen Punkten immer noch umstritten. Ich erinnere nur an die Frage, ob arbeitsuchende EU-Bürger einen Anspruch auf Hartz IV-Leistungen haben. Hier warten wir immer noch auf eine abschließende Klärung durch den Europäischen Gerichtshof. Und nicht zuletzt: Über 70 Änderungsgesetze führen auch erfahrene Rechtsanwender an die Grenzen.«
Man sollte sich also von dem erkennbaren Rückgang nicht blenden lassen. Oder anders formuliert: »Auch haben sich in den vergangenen Jahren enorme Aktenberge angesammelt. Fast 42.000 unerledigte Verfahren stehen im Berliner Sozialgericht noch aus. Selbst wenn keinerlei neue Beschwerde hinzukäme, würde es über ein Jahr dauern, sie abzuarbeiten. Dazu kommt, dass die durchschnittliche Dauer eines einzelnen Verfahrens auf nunmehr 13,8 Monate gestiegen ist. Die Fälle werden länger und komplexer. Deshalb sorgt das Amt schon mal vor: In einer neuen Aktenhalle soll Platz für bis zu zwei Kilometer weiterer Akten geschaffen werden«, so Johannes Supe in ihrem Beitrag Aktenmonster Hartz IV.
Sabine Schudoma, die Präsidentin des Sozialgerichts Berlin, bekommt in diesem Beitrag das vorletzte Wort zu zehn Jahre Hartz IV:
»Auch überall im Gebäude hat Hartz IV seine Spuren hinterlassen. Schutt, Staub, Baulärm sind im Haus allgegenwärtig. Bei uns fällt der Blick aus dem Fenster zum Hof auf eine Baustelle: Geschaffen wird dort eine neue Aktenhalle mit Platz für noch einmal 2 km Akten. Wo früher die Gerichtskantine lag, sitzen heute Hartz IV-Richter. Überall wurden Zwischenwände gezogen, um Platz für neue Büros zu schaffen.«
Und da sage noch mal jemand: Hartz IV habe keine Arbeitsplätze geschaffen. Das wenigstens ist widerlegt. Und man kann sogar noch weitergehen und postulieren, es wurde auch ein neues Berufsbild geschaffen: Der „Hartz IV-Richter“.