Willkür, Hilflosigkeit und Ohnmacht. Von den Erfahrungen mit der kafkaesken Seite der Jobcenter, die für den Einzelnen zu einer Existenzbedrohung mutieren kann

In diesen Tagen stehen wir erneut vor gesetzgeberischen Veränderungen in einem sozialpolitischen Kernbereich unseres Landes, der Grundsicherung. Und wieder einmal werden wir Zeugen einer Entwicklung, dass man am Anfang – und sei es wenigstens proklamatorisch – mit einer guten Absicht gestartet ist, nämlich die Bürokratie in den Jobcentern abzubauen und das komplizierte Rechtsgebilde SGB II zu vereinfachen. Wer kann etwas dagegen haben? Nach zwei Jahren unzähliger  Bund-Länder-Gesprächsrunden und parteipolitischen Scharmützeln hat zwischenzeitlich der Berg gekreißt und ein Gesetzentwurf das Licht der Welt erblickt, der im Ergebnis nicht nur völlig enttäuschend ist hinsichtlich des ursprünglich gesetzten Ziels, Bürokratie in einem Umfang abzubauen, der über molekulare Mengen hinausgeht (vgl. dazu bereits Entbürokratisierung des SGB II und mehr Luft für die Jobcenter? Von Luftbuchungen, Mogelpackungen und einem trojanischen Pferd vom 14. Februar 2016 sowie Ein zorniger Brief von Jobcenter-Mitarbeitern an die Bundesarbeitsministerin vom 15. Februar 2016).

Es kommt sogar noch weitaus schlimmer, denn mittlerweile muss man das als „Rechtsvereinfachungsgesetz“ euphemistisch betitelte Paragrafenwerk korrekter als ein „Rechtsverschärfungsgesetz“ bezeichnen, zumindest aus der Perspektive der betroffenen Menschen.
Dabei sind die heute schon nicht selten mit einer kafkaesk daherkommenden Seite der Jobcenter und der sie bestimmenden rechtlichen Gemengelage konfrontiert, die aber nur für den Betrachter von außen wie „Das Schloss“ von Franz Kafka erscheinen. Denn es geht hier nicht (nur) um die (Un)Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns, sondern um existentielle Fragen bis hin zu dem Wegziehen des letzten Bodens für ein menschenwürdiges Dasein. Dazu aktuelle Beispiele aus dem „Hartz IV-Land“.

Da wäre beispielsweise das Jobcenter Börse in Sachsen-Anhalt. Susan Bonath berichtet in ihrem Artikel „Reine Willkür“ über den folgenden Sachverhalt:

»Jahrelang hatte sich Malte S. (Name geändert) als Leiharbeiter durchgeschlagen. Nach der letzten Kündigung suchte er jedoch vergeblich eine neue Stelle. Er scheute jedoch den Gang zum Amt, hoffte weiter auf einen Job – bis er seine Wohnung verlor, seine Krankenversicherung nicht mehr zahlen konnte, ohne Konto und Geld dastand. Kurz vor Pfingsten beantragte er beim Jobcenter Börde (Sachsen-Anhalt) also doch das ihm eigentlich seit Monaten zustehende Arbeitslosengeld II. Weil er völlig mittellos war, bat er zudem um einen Vorschuss. Er befinde sich in einer Notlage, es gehe um Essen und Trinken, erläuterte er. Doch die Behörde wies ihn ab. Bares zur Überbrückung gebe es nicht, hieß es.«

Die Sachbearbeiterin in der Leistungsabteilung versprach, seinen Antrag „noch heute“ fertig zu machen. »Weil das Jobcenter in seinem Fall allerdings einen Scheck mit der Post schicken müsse, könne er erst in einer Woche, nach dem langen Pfingstwochenende, mit Geld rechnen. Auf Nachfrage, wie er denn solange ohne Geld überleben solle, räumte sie ein: »Wenn es wirklich nicht anders geht, könnte ich Ihnen maximal einen 20-Euro-Gutschein mitgeben.« Ob dieser auch von Märkten in dem Ort akzeptiert wird, wo Malte S. vorübergehend bei einem Familienmitglied untergekommen war, konnte sie nicht sagen.«

Warum nicht einfach ein Betrag von seinem Regelsatz abgezogen und ihm in bar ausgehändigt wurde, versteht der Betroffene nicht.

In der Leistungsabteilung hieß es, eine interne Anweisung verbiete dies den Mitarbeitern. Behördensprecher Carsten Werner bestritt am Dienstag die Darstellung: »Im Jobcenter Börde liegt keine derartige Dienstanweisung vor.« Tags darauf erklärte er aber auf Nachfrage der Tageszeitung junge Welt, Barzahlung sei »grundsätzlich nicht vorgesehen«.

Für Notfälle vorgesehen sei »die Überbrückung durch Gutscheine des Anbieters Sodexo, einer international agierenden Unternehmensgruppe, die vor allem durch Kantinenbetriebe bekannt ist.«
Und dann ein weiterer Tiefschlag:

»Der Antragsteller habe außerdem »durch sein freundliches und dankbares Auftreten nicht den Eindruck« erweckt, »dass er mit dem Verfahren nicht einverstanden ist«, sagte der Pressesprecher.«

Dabei kann man das ganz anders sehen: »Die frühere Jobcenter-Mitarbeiterin Inge Hannemann, die heute Abgeordnete der Linkspartei in der Hamburger Bürgerschaft ist, hält dieses Vorgehen für »reine Willkür«. »Jedes Jobcenter kann einen vorläufigen Bescheid ausstellen und ein Darlehen in bar auszahlen«, sagte sie am Donnerstag im Gespräch mit jW. Das Geld werde von der später ausgezahlten Monatsleistung abgezogen. Geregelt sei das im Zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II). Im SGB I heißt es zudem, Vorschüsse seien auf Antrag zu gewähren. Bestehe ein Anspruch auf Leistungen, habe der Träger die Höhe der Vorabzahlung nach »pflichtgemäßem Ermessen zu bestimmen«, wenn die Feststellung der Leistungshöhe länger dauere.«
Und der Betroffene?

»Malte S. wartet inzwischen seit einer Woche auf seinen Postscheck. »Hätte ich keine Familie oder Freunde, die mich auf eigene Kosten mitversorgen, müsste ich betteln oder stehlen«, sagte er.«

Zuweilen hilft nur die Beteiligung der Presse, um in einem dieser vielen Einzelfälle etwas in Bewegung zu bringen. Nächstes Beispiel Wuppertal: Ärger mit Jobcenter: „Hilflos und ohnmächtig“, so ist ein Artikel überschrieben: »Nach einem Bandscheibenvorfall beantragte Andreas Böhm Leistungen beim Jobcenter Bachstraße und erlebte ein Existenz bedrohendes Fiasko.« Erst als sich die Wuppertaler Rundschau einschaltet, reagiert die Spitze des Jobcenters schnell.

»Was war passiert? Bis zur Arbeitsunfähigkeit arbeitete der gelernte Schreiner sieben Jahre monatlich 80 Stunden bei einer Immobilienverwaltung. Da er von 450 Euro Krankengeld sein Leben nicht finanzieren kann, beantragt Andreas Böhm in November 2015 beim Jobcenter Bachstraße ergänzende Leitungen. Die werden rasch bewilligt. Kurze Zeit später, im Dezember 2015, erhält der 37-Jährige 500 Euro, aber keinen Bescheid. Damit begann der Ärger …«

Man ahnt schon, was jetzt kommt. Der Betroffene wird in eine Umlaufbahn gehievt und die immer existenzbedrohend daherkommenden Dinge nehmen ihren Lauf:

»Als in der Folgezeit trotz vollständig eingereichter Unterlagen und mehrmaliger persönlicher und telefonischer Rücksprache weitere Zahlungen ausbleiben und Böhm seine Miete nicht mehr begleichen kann, schaltet er einen Anwalt ein.
Dessen Intervention bügelt das Jobcenter mit der Begründung, Andreas Böhm hätte sich nicht um die Fortführung der Leistungen bemüht, ab. Dass abgestempelte Dokumente eindeutig das Gegenteil belegen, wird vom Jobcenter schlicht ignoriert. Während sich der Rechtsstreit ohne Erfolg hinzieht, wird die Situation für den Schreiner brenzlig: Als auch im Mai noch die Miete ausbleibt, droht der bisher sehr verständnisvolle Vermieter mit der Kündigung.«

Für den Betroffenen ist das ein Albtraum: „Unverschuldet arbeitslos zu werden und dann eine solche Behandlung seitens des Jobcenters erleben zu müssen, hilflos und mit einem bitteren Gefühl der Ohnmacht, das zu erleben wünsche ich keinem“, wird Andreas Böhmin dem Artikel zitiert. Und weiter: „Ich bin nicht nur körperlich, sondern auch psychisch am Ende.“

Gut in diesem Fall, dass eine Zeitung dabei war.

Von der Rundschau mit dem Vorfall konfrontiert, handelt Jobcenter-Chef Thomas Lenz umgehend – und teilt drei Tage später mit: „Hier liegt eine sehr unglückliche Kommunikation vor. Wir haben den Fall nochmals geprüft. Mit dem Ergebnis, dass die Leistungen von Januar bis April bewilligt und umgehend ausgezahlt werden. Der Antragsteller wird wieder in den Bezug aufgenommen.“

Aber kann es das wirklich sein? Dass Zufälle, wie das Interesse und das Engagement von Medien helfen kann? Was ist in den vielen anderen Fällen?

Wohlgemerkt, das waren nur zwei aktuelle Beispiele von vielen.

Aber es sind nicht nur die unmittelbaren Geldleistungen, die man zum Überleben braucht. Auch die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt bzw. die fehlenden Substitute werden immer wieder und völlig zu Recht als Problem aufgerufen. Auch dazu ein Beispiel: Langzeitarbeitslos: Über Leben und Mehrwert, so ist ein Artikel dazu überschrieben. Es geht um die jenarbeit, das Jobcenter der Stadt Jena.

Dort gibt es das Reaktivierungsprogramm „ReSet“.

»Sie will die Unsichtbaren sichtbar machen. Sie versucht, die Verlorengegangenen zu finden, die Ungreifbaren zu fassen. Daniela Brunn ist Projektleiterin von „ReSet“, einem Programm, das von Jenarbeit finanziert wird, um Langzeitarbeitslose zu „reaktivieren“, das heißt, die Menschen aus einer langen Phase der gesellschaftlichen Passivität zurück ins gemeinschaftliche Leben zu holen – im besten Falle wieder auf den Arbeitsmarkt zu bringen … Daniela Brunn konnte mit ihrem Konzept überzeugen und führt seit Juli 2014 ein fünfköpfiges multiprofessionelles Team an, das innerhalb der vergangenen zwei Jahre mehr als 80 Fälle von Jenarbeit zugewiesen bekam. Jeweils 18 bis 20 Arbeitslose im Alter zwischen 18 und 58 Jahren wurden in Gruppen betreut – vier Tage die Woche, mindestens 15 Wochenstunden mussten die Teilnehmer ableisten.«

„Ein Prozent derer, die hier teilnehmen, haben eine Chance, auf den ersten Arbeitsmarkt zurückzukehren“, wird Daniela Brunn in dem Artikel zitiert. Da werden viele und auf den ersten Blick auch völlig zu Recht den Kopf schütteln – eine solche „Erfolgsquote“, kann man das wirklich fortführen? Dazu Daniela Brunn:

»Ihre Erfolge sind andere: „Die meisten Klienten haben keinerlei soziale Anbindung, keine Familie, keine Freunde, teilweise sind sie obdachlos. Sie erfahren keinerlei Wertschätzung, keine Anerkennung. Bei vielen spielt Alkohol eine große Rolle, Drogen, psychische und physische Beeinträchtigung, einige haben kognitive Störungen, manche waren bereits in Haft, haben einen ambulanten oder gerichtlichen Betreuer, die meisten kommen bereits aus einem Elternhaus, in dem es Drogenmissbrauch gab oder Gewalt und viele waren bereits in anderen Zwangsmaßnahmen, in denen sie Stigmatisierungen erfahren haben. Wenn wir es schaffen, diesen Menschen ein bisschen Selbstwertgefühl zu geben und sie sozial wieder anzubinden, beispielsweise an einen Verein, dann ist das für mich durchaus ein Erfolg … Vor allem mit Jenas Subkultur versuchte Daniela Brunn zusammenzuarbeiten. Es entstanden Theaterprojekte, man kochte für Flüchtlinge oder half beim Aufbau des interkulturellen Gartens in Lobeda. „Viele unserer Klienten hatten rassistische Einstellungen. Sie waren gegen Flüchtlinge, auch deshalb war mir die Arbeit mit Asylbewerbern wichtig. Ich denke, dadurch haben wir es geschafft, die Vorbehalte und falschen Vorstellungen aus den Köpfen zu bekommen. Auch das sehe ich als einen Erfolg an.“«

Aber dafür so eine Maßnahme – natürlich befristet? »Das Projekt ReSet läuft im Juli aus. Es wird vermutlich ein neues Reaktivierungsprogramm geben: „Reset 2“. Wie sich dieses gestaltet, ist noch nicht klar. Daniela Brunn ist sich nicht sicher, ob sie das Projekt weiterbetreuen darf, kann oder will. „Wenn es darum geht, eine Wiedereinstiegsquote festzulegen, dann kann ich das Projekt nicht mehr leiten. Den Erfolg kann man nicht daran messen, wie viele Menschen wieder auf den ersten Arbeitsmarkt kommen. Ich bin froh und stolz auf das, was wir in den zwei Jahren erreicht haben. Einige unserer Klienten haben wir wieder verloren, sie werden nicht mehr auftauchen und in der Unsichtbarkeit verschwinden, aber einigen konnten wir etwas mitgeben: eine neue Wohnung, ein gesünderes Leben, Erfahrungen, Wertschätzung, Wissen oder Kraft.“«

Die Projektleiterin legt den Finger auf eine klaffende offene Wunde der derzeitigen Arbeitsmarktpolitik:

»Auf dem zweiten Arbeitsmarkt hätten vielleicht 50 Prozent unserer Klienten eine Chance. Der aber existiert faktisch gar nicht. Es gibt kaum ABM-Stellen oder Ein-Euro-Jobs. Im besten Fall hat unsere Arbeit bei ReSet dazu geführt, dass unsere Klienten wieder Gespräche mit Jenarbeit aufnehmen“, sagt Daniela Brunn.«

Wir brauchen für solche Menschen – und wir reden hier bundesweit nicht von einigen wenigen, sondern von Hunderttausenden – ganz andere Angebote der öffentlich geförderten Beschäftigung und damit Teilhabe am Erwerbsleben, wenn man denn Teilhabe als einen substantiellen Aspekt im Leben der meisten Menschen begreifen würde. Aber die dafür notwendigen gesetzgeberischen Aktivitäten stehen derzeit mal wieder und leider nicht auf der Agenda der da in Berlin.

Nicht nur (medialer) Missbrauch mit dem Missbrauch von Sozialleistungen. Aber wer „missbraucht“ was und wen? Und die Gesetzgebungsmaschinerie darf auch nicht fehlen

Wenn es um Sozialleistungen geht, dann geht es in der öffentlichen Debatte nicht immer, zuweilen gar nicht um Tatsachen und durchaus kontrovers entscheidbare normative Anliegen (beispielsweise die Zielbestimmung der angemessenen Absicherung des Existenzminimums unabhängig von der Ursache der Notlage versus eines restriktiven, sanktionierenden und dabei gerne auch moralisierenden Systems von Sozialleistungsgewährung, um nur ein Beispiel zu nennen). Sondern um Bedrohungsgefühle, um Ängste und um Stimmungen, die man aufgreifen kann und muss, die sich aber natürlich immer auch produzieren, zumindest verstärken und dadurch auch instrumentalisieren lassen. Ein beliebtes Mittel ist dabei die Herstellung einer Differenz von „berechtigter“ versus „unberechtigter“ oder „guter“ versus „schlechter“ Bedürftigkeit, die dann entweder einen Hilfeimpuls oder aber Ablehnung auslösen können.

Eine Folge ist dann nicht selten eine Positionierung der Armen gegen die noch Ärmeren, die von den Armen als potenzielle – und zuweilen ganz handfest-reale – Bedrohung wahrgenommen werden, weil der begrenzte Umverteilungskuchen dann von einer größeren Grundgesamtheit beansprucht wird. Beobachten kann man dass derzeit bei den Diskussionen über die Verteilungskonflikte, mit denen es viele Tafeln zu tun haben, seitdem die hausgemachte Armut zunimmt und nun auch noch Flüchtlinge als neue „Kunden“ aufschlagen (vgl. dazu bereits vom 14. Oktober 2015 den Blog-Beitrag Die Tafeln und die Flüchtlinge. Zwischen „erzieherischer Nicht-Hilfe“ im bayerischen Dachau und der anderen Welt der Tafel-Bewegung). Oder die (scheinbar plausible) Gegenüberstellung von „unseren“ Obdachlosen und den „anderen“ (vgl. dazu nur als ein Beispiel den Artikel Flüchtlinge und Obdachlose stehen in Konkurrenz, ebenfalls aus dem vergangenen Jahr).

Zu dieser zwischen „gut“ und „schlecht“ codierenden Welt gibt es zahlreiche Beispiele aus der Vergangenheit, die auch sozialwissenschaftlich aufgearbeitet worden sind, man denke hier nur an die immer wiederkehrende Debatte über „faule Arbeitslose“, die eben nicht zufälligerweise in einem Zusammenhang zu sehen ist mit Kürzungen und Rechtsverschärfungen seitens des Gesetzgebers, für den dann natürlich ein solches Gerede eine hilfreiche Legitimationsfolie hergeben kann (vgl. dazu Frank Oschmiansky, Silke Kull, Günther Schmid: Faule Arbeitslose? Politische Konjunkturen einer Debatte, Berlin 2001 oder den Beitrag Faule Arbeitslose? Zur Debatte über Arbeitsunwilligkeit und Leistungsmissbrauch aus dem Jahr 2003).

Dieses Muster kann selbst weltpolitische Implikationen haben, man denke an dieser Stelle nur an die für viele anfangs eher befremdlich, mittlerweile allerdings angesichts seiner Erfolge als unfassbar und bedrohlich daherkommende Erfolgsgeschichte eines Donald Trump bei den Vorwahlen zur Präsidentschaftswahl in den USA. Offensichtlich wird dieser Mann auch und gerade von sozial deklassierten Menschen gewählt bzw. sie projizieren ihre Frustration mit dem System und ihre Hoffnungen auf irgendwas anderes in ihn hinein. Vgl. dazu den empfehlenswerten Artikel  I Know Why Poor Whites Chant Trump, Trump, Trump von Jonna Ivin.

Aber kehren wir wieder zurück in die Gegenwart des deutschen Systems und steigen hinab in die untersten Etagen des Sozialstaats. Da fungiert die Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II), also das umgangssprachlich Hartz IV genannte System als letztes Auffangnetz, allerdings weniger für eine kleine Gruppe an bedürftigen Menschen, sondern eher als ein großes Auffangbecken für sehr viele temporär oder auch auf Dauer exkludierten Menschen – mehr als sechs Millionen sind es derzeit, die aus ganz unterschiedlichen Gründen auf Leistungen aus diesem System angewiesen sind.

Und aus diesem nicht nur großen, sondern mit zahlreichen rechtlichen Eigenheiten bestückten System werden immer wieder Berichte über den (angeblichen) „Missbrauch“ von Leistungen in die Öffentlichkeit getragen. Dabei geht es oft um das diffuse Bedrohungsgefühl, dass arme Menschen aus anderen Ländern sich aufmachen, um wegen Hartz IV nach Deutschland zu kommen. Begrifflich werden diese Menschen dann oft als (noch harmlose Formulierung) „Armutsflüchtlinge“ oder (weitaus heftiger) als „Sozialschmarotzer“ bezeichnet.

Solche Begrifflichkeiten sind eben nicht nur semantisch ein Problem – sie befüllen einen Resonanzraum, der bei nicht wenigen Menschen als abstraktes Bedrohungsgefühl bis hin zu übersteigerten Angstgefühlen gegenüber den „fremden Armen“ vor allem aus (Süd)Osteuropa vorhanden ist. Und wenn dann berichtet wird von (angeblich) hier Hartz IV-Leistungen missbrauchende Ausländer, dann löst das Abwehrreaktionen auch bei vielen anderen aus, die eine Überforderung unserer sozialen Sicherungssysteme befürchten.

Und wir haben in den zurückliegenden Monaten immer wieder das mediale Aufgreifen der ohne Zweifel vorhandenen Armutsmigration vor allem aus den Armenhäusern der EU, also Rumänien und Bulgarien, studieren können – und die Bebilderung des Themas war  oftmals – vorsichtig formuliert – mehr als einseitig, mit einer erheblichen Unwucht versehen: Verslumte „Problemhäuser“ im Ruhrgebiet, Männer auf dem „Arbeiterstrich“ oder Tagelöhner auf dem Bau oder in der Landwirtschaft. Aber seien wir ehrlich – wo waren und sind die Berichte über die vielen Ärzte aus Bulgarien und Rumänien, die in den deutschen Krankenhäuser Dienst schieben, um nur ein Beispiel zu nennen?

Und von dieser sehr einseitigen Berichterstattung handeln auch die beiden folgenden Beispiele.

Fall 1: Wie EU-Bürger deutsche Sozialkassen ausnehmen, so titelte der Bayerische Rundfunk auf seiner Online-Seite am 3. Mai 2016 – das Politikmagazin „report München“ (ARD) hat den Bericht dazu überschrieben mit Abkassieren bis an die Schmerzgrenze. Wie deutsche Sozialgesetze Missbrauch Tür und Tor öffnen. Zum (angeblichen) Sachverhalt dieses Missbrauchs unseres Sozialsystems erfahren wir:

»Die sogenannte Drachenburg – ein heruntergekommenes Wohnhaus im niederbayerischen Landshut: Hier sollen rumänische Staatsbürger zig Tausend Euro an Sozialleistungen zu Unrecht kassiert haben. Das berichteten zahlreiche Medien, nachdem in einem Protokoll des Quartierbeirats der Stadt Landshut vom 16. März von einem „perfekt organisierten System“ sozialen Missbrauchs die Rede war.«

Das wurde von vielen Medien aufgegriffen – wobei einige wenige wenigstens ein Fragezeichen an die Formulierungen angebracht und ein „angeblich“ eingebaut haben: Nutzen Rumänen systematisch den Sozialstaat aus?, so ist ein Artikel der WELT überschrieben: »In einem Wohnkomplex in Landshut sollen sich EU-Bürger fingierte Wohnadressen verschafft haben, um ganz legal an Sozialleistungen zu kommen. Medien berichten von einem angeblich ausgeklügelten System.«

Schauen wir uns vor einer weiteren Durchdringung des Sachverhalts noch das zweite Fallbeispiel an:

Fall 2: Ohne Geld und Wohnung in Lehe, konnte man am ebenfalls am 3. Mai 2016 der Online-Seite von Radio Bremen entnehmen. Zur dortigen Fallkonstellation:

»Anfang April wurden in Bremerhaven zahlreiche Fälle von mutmaßlichem Sozialbetrug aufgedeckt. Die Verantwortlichen von zwei Bremerhavener Vereinen sollen gezielt Bulgaren nach Bremerhaven gelockt und ihnen geholfen haben, Sozialleistungen zu erschleichen. Außerdem sollen sie die Zuwanderer ausgebeutet haben. Die meisten Bulgaren leben im sozial benachteiligten Stadtteil Lehe, und vielen von ihnen hat das Jobcenter inzwischen das Geld gestrichen.«

Also offensichtlich wieder ein „Hartz IV-Betrug“. Allerdings wird der eine oder andere schon etwas irritiert gewesen sein bei dieser Meldung im Vergleich zu dem, was bislang über den Landshuter Fall hier berichtet wurde, denn bei der Skizzierung der Vorgänge in Bremerhaven taucht auch der Hinweis auf, dass nicht nur die Bulgaren (angeblich) unrechtmäßig Sozialleistungen bezogen haben, sondern auch, dass sie „ausgebeutet“ worden seien. Es kommt also ein Dritter mit ins Spiel. Und den bzw. die gibt es auch im Landshuter Fall, wie wir gleich sehen werden.

Aber zuerst einmal die Situationsbeschreibung aus Bremerhaven-Lehe:

»Viele der zugewanderten Bulgaren hat das Jobcenter inzwischen aufgefordert, zu Unrecht bezogene Sozialleistungen zurückzahlen. In einzelnen Fällen seien Summen von weit über 10.000 Euro aufgelaufen, sagt Anna Zdroba von der AWO. Sie arbeitet im Zuwanderer-Beratungsbüro in Bremerhaven. Ob die Bulgaren überhaupt wissen, dass sie möglicherweise Sozialbetrug begangenen haben – das möchte sie nicht beurteilen. Fest stehe aber: Die Menschen säßen ohne Geld und ohne Krankenversicherung in Lehe. Viele von ihnen, auch Familien mit Kindern, würden aus ihren Wohnungen fliegen, weil sie die Miete nicht mehr bezahlen können … Da die meisten Zuwanderer offenbar aus der Region um Varna kämen, hätten viele Verwandte oder Freunde in der Stadt, bei denen sie erst einmal unterkriechen könnten, sagt Zdroba. Eine andere Möglichkeit seien Unterkünfte der Diakonie. Dort aber werden Familien nach Männern und Frauen mit Kindern getrennt. Viele Bulgaren seien bereits in ihre Heimat zurückgekehrt, andere aber wollten bleiben … Alexander Niedermeier, Familienhelfer in Lehe und Stadtverordneter für die Piratenpartei, ist da pessimistischer. Er erwartet nicht, dass die meisten der nun praktisch mittellosen Zuwanderer nach Bulgarien zurückkehren. Er befürchtet vielmehr, dass bald ziemlich viele Menschen in Lehe buchstäblich auf der Straße sitzen und versuchen werden, sich im Stadtteil irgendwie durchzuschlagen.«

Wie war das jetzt noch mal mit dem oder den Dritten? Bereits Anfang April hatte Radio Bremen über den Betrugsverdacht berichtet, damals unter der Überschrift Zuwanderer in Bremerhaven ausgebeutet? »Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Verantwortliche von zwei Vereinen, die Zuwanderer gezielt in die Stadt gelockt haben sollen. Mit Scheinarbeitsverträgen sollen sie ihnen Sozialleistungen ermöglicht haben, um dann Geld zu verlangen.«

Pikant an den Vorwürfen in Bremerhaven – die richten sich gegen Vereine, die vom Namen her erst einmal einen ganzen anderen Zweck verfolgen (sollten):

»Die Behörden ermitteln nach Angaben der Staatsanwaltschaft Bremen gegen Verantwortliche des Vereins „Agentur für Beschäftigung und Integration“ und der „Gesellschaft für Familie und Gender Mainstreaming“. Das bestätigte Behördensprecher Frank Passade. Beide Vereine haben denselben Vorsitzenden.«

Offensichtlich geht es um Patrick Cem Öztürk, einem SPD-Politiker aus Bremerhaven und Mitglied in der Bremischen Bürgerschaft. Einem Wikipedia-Eintrag zu seiner Person kann man entnehmen:

Er »war bis 2015 ehrenamtlicher Vorstand des Vereins Agentur für Beschäftigung und Integration e.V. (ABI). Dieser Verein wurde von Selim Öztürk, Vater von Patrick Öztürk, geleitet. Im Wahlkampf zur Bürgerschaft wurde Öztürk von einem vermeintlichen „Bündnis der Sozialeinrichtungen“ unterstützt, hinter dem auch das ABI und damit der Vater stand. Auf dem Flugblatt genannte Organisationen, wie der Paritätische, stellten fest, dass Sie diesem „Bündnis der Sozialeinrichtungen“ nicht angehörten und dieses auch nicht existierte.
Dem Verein ABI wird vorgeworfen, bei Zuwanderern aus Südosteuropa im großen Stil Beihilfe zur Erschleichung von Sozialleistungen geleistet zu haben. Aus der Bremer SPD kam hierauf die Aufforderung an Patrick Öztürk, sein Bürgerschaftsmandat zurückzugeben.«

Aber was genau sollen die – nach Informationen von Radio Bremen soll es sich um rund 20 Menschen handeln, die den Betrug organisiert haben – wie gemacht haben? Dazu der Bericht von Radio Bremen:

»Vereinsmitarbeiter haben dem Bremerhavener Jobcenter zufolge EU-Zuwanderer aufs Amt begleitet und gedolmetscht – teilweise offenbar verfälschend. Laut Jobcenter haben die Vereine den Zuwanderern zudem Arbeitsverträge ausgestellt und damit zum Anspruch auf Sozialleistungen verholfen. Im Gegenzug sollen sie von den Zuwanderern Geld kassiert haben. Zahlreiche Arbeitsverhältnisse sollen allerdings nur auf dem Papier bestanden haben.«

Die Zuwanderer wurden den Angaben zufolge unter anderem dafür eingesetzt, ohne Gesundheitsschutz Schiffe zu lackieren, und sie mussten weit unter dem Mindestlohn arbeiten. 800.000 Euro sollen nach Angaben der Ermittler ins Ausland überweisen worden sein.

Und jetzt nähern wir uns dem zentralen Punkt: „Mit den fingierten Arbeitsverträgen, vorzugsweise geringfügige Beschäftigungen, war es möglich, ergänzende Sozialleistungen zu bekommen“, so wird der Sprecher der Staatsanwaltschaft, Frank Passade, zitiert.

An dieser Stelle passt dann der Sprung zurück zu Fall 1 aus dem bayerischen Landshut. Denn auch dort taucht diese dritte Seite auf. Bereits in der Berichterstattung des Bayerischen Rundfunks wird auf ein mit Bremerhaven strukturell vergleichbares Muster hingewiesen:

»Zwei Firmen in Landshut haben rumänische Staatsangehörige für unter 200 Euro pro Monat angestellt, das bestätigt ein Informant, der die Aktenlage gut kennt. Die rumänischen Bürger hätten „ein Minimum verdient, um Sozialleistungen zu kassieren“. Thomas Haslinger, für die Junge Liste im Landshuter Stadtrat: „Auch uns liegen Informationen vor, dass mit Hilfe von zwei Landshuter Firmen, das System ausgereizt wurde, was die Auszahlung von Arbeitslosengeld II anbelangt.“ Nach einem halben Jahr, so der Informant, habe die Firma die rumänischen Angestellten noch in der Probezeit gekündigt. Dann hätten die Rumänen „noch ein halbes Jahr weiter kassiert. Alles legal“. Die Rumänen hatten nur wenige Stunden pro Woche gearbeitet und weniger als 200 Euro pro Monat verdient.«

Hier offenbart sich ein strukturelles Problem im Kontext der deutschen Sozialgesetzbuch, wenn man denn die Inanspruchnahme der Sozialleistungen über diese Fallgestaltungen als Problem wahrnimmt, was auf der deutschen Seite sicher mehrheitlich der Fall sein wird.

Die hier nur anzudeutende Perspektive der betroffenen Menschen aus Bulgarien und Rumänien ist sicher eine andere. Für sie ist das kein Vergnügen, unter den immer wieder berichteten Umständen nach Deutschland zu kommen und unter teilweise erbärmlichen Bedingungen hier ihr Glück zu versuchen. Für viele von ihnen ist das angesichts der unglaublichen materiellen Not in ihrer Heimat ein Teil einer Art „Überlebensökonomie“. Auch wenn man aus unserer Sicht dem ein Riegel vorzuschieben bestrebt ist, sollte man diesen Aspekt nicht einfach ausblenden. Er rechtfertigt nichts, erklärt aber einiges.

Das angesprochene strukturelle Problem wird wenige Tage nach den hochgezogenen Berichten über den „Sozialbetrug“ der Rumänen in Landshut in diesem Artikel der Süddeutschen Zeitung erkennbar: Unter der Überschrift Gefühlter Sozialbetrug in Landshut wird von Andreas Glas berichtet: »Angeblich beschäftigen zwei Firmen rumänische Bewohner der berüchtigten Drachenburg kurzzeitig für geringen Lohn – um ihnen Anspruch auf Hartz IV zu verschaffen. Das klingt anrüchig, wäre aber legal.«

Das wäre legal bzw. „gesetzeskonform“, so hört man es oft in Landshut von denen, die Verantwortung tragen (sollen) – hier ist der entscheidende Punkt. In den Worten von Andreas Glas:

»Der gefühlte Sozialbetrug – wenn es ihn denn gibt – könnte völlig legal sein. Wer nach weniger als einem Jahr unfreiwillig arbeitslos wird, kriegt danach sechs Monate lang Hartz IV, das ist sein Recht. Wer länger als ein Jahr gearbeitet hat, dem stehen die Sozialleistungen sogar unbefristet zu.«

Mit Blick auf Landshut muss man ergänzend anführen, was die Stadt zwischenzeitlich herausgefunden hat:

»In den 67 bewohnten Einheiten in der Drachenburg seien 23 Alleinstehende oder Familien gemeldet, die Hartz-IV bekommen. Bei 20 dieser Fälle handle es sich um Aufstocker, die legal arbeiten gehen, aber zu wenig für ihren Lebensunterhalt verdienen und deswegen Sozialleistungen bekommen. Auch für die übrigen drei Fälle gebe es keine Hinweise auf Sozialbetrug.« Allerdings »werde man die in der Vergangenheit in der Drachenburg gemeldeten Personen darauf prüfen, „ob es fingierte Arbeitsverhältnisse gab“. Sollten sich doch Hinweise finden, „dann müsste man fragen, welches Interesse eine Firma daran haben könnte“, einen Menschen nur zum Schein anzustellen, damit dieser Anspruch auf Hartz-IV-Leistungen bekomme.«

Diese Frage kann sich die Stadt zumindest auf der Ebene der Hypothesen selbst beantworten  – und das verweist zugleich auf die möglichen wahren Profiteure:

»Denkbar sei zum Beispiel, dass der Angestellte als Gegenleistung für die Firma arbeite „und nichts dafür kriegt“ … Die Profiteure wären dann wohl weniger die Arbeitnehmer als vor allem die Firmen, die sich die Geldnot vieler rumänischer Zuwanderer zunutze machen, um Lohnkosten zu sparen. Und obendrein profitieren die Vermieter, die den Rumänen regelrechte Bruchbuden wie die Drachenburg für teures Geld vermieten, weil es für Zuwanderer schwierig ist, auf dem angespannten Wohnungsmarkt etwas Besseres zu bekommen.«

Ist es jetzt wirklich überraschend, dass genau an dieser Stelle, als in Umrissen erkennbar wurde, dass die Rumänen oder welchen armen Schlucker auch immer eben nicht alleine zum Jobcenter gelaufen sind (und das übrigens nach zahllosen Stimmen aus den Jobcentern in unserem Land weiter tun), um unseren Hartz IV-Staat auszuplündern, sondern dass es Dritte gibt und geben muss und dass das oftmals Unternehmen sind, die hier tätig sind, das genau in diesem Moment die Berichterstattung gegen Null abgesunken ist?  In einem Moment, in dem bei etwas genauerem Hinschauen klar wird, dass es sich hier – man mag das beklagen, ändert aber nichts – um eine durchaus „gesetzeskonforme“ Inanspruchnahme der vorhandenen Leistungen nach dem SGB II handelt? Die allerdings voraussetzt, dass die EU-Ausländer irgendwo – sehen wir mal vom kaum relevanten Fall der ausschließlichen Schein-Beschäftigung ab – in Unternehmen hier bei uns ein Arbeitsverhältnis haben müssen, und sei es ein geringfügiges Beschäftigungsverhältnis.

Aber war da nicht was aus Berlin? Hat uns die große Bundesregierung nicht versprochen, der „Zuwanderung in unsere Sozialsysteme“ einen Riegel vorzuschieben? Und ist sie da nicht schon tätig geworden?

Durchaus. Mittlerweile liegt ein Referentenentwurf vom 28.04.2016 für ein „Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch“  vor. Damit soll das erreicht werden:

»Die Leistungsausschlüsse im SGB II werden ergänzt und damit klargestellt, dass Personen ohne materielles Freizügigkeitsrecht oder Aufenthaltsrecht ebenso wie Personen, die sich mit einem Aufenthaltsrecht allein zur Arbeitsuche in Deutschland aufhalten, sowie Personen, die ihr Aufenthaltsrecht nur aus Artikel 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 ableiten, von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sind. Im SGB XII werden die Leistungsausschlüsse denjenigen im SGB II angepasst. Daneben wird im SGB XII ein Anspruch für einen Zeitraum von vier Wochen geschaffen mit der Möglichkeit darlehensweise die Kosten für ein Rückfahrticket zu übernehmen. Außerdem wird im SGB II ein Leistungsanspruch nach fünf Jahren Aufenthalts in Deutschland geschaffen.«

Na also, werden die Schnellleser sagen, geht doch. Bei einigen anderen wird die Formulierung „Personen, die sich mit einem Aufenthaltsrecht allein zur Arbeitsuche in Deutschland aufhalten“ für Skepsis sorgen, ob das, was hier geregelt werden soll, für unsere Fallkonstellationen überhaupt relevant ist.

Genau das ist der Punkt. Der Gesetzentwurf geht an den hier vorgestellten Fallkonstellationen vorbei. Denn der Gesetzentwurf verlangt „nur“, dass EU-Ausländer von Sozialhilfe ausgeschlossen werden, wenn sie nicht arbeiten oder durch vorherige Arbeit Ansprüche erworben haben. Wenn die Menschen aber – und sei es nur zu sehr niedrigen Löhnen oder geringer Stundenzahl – hier gearbeitet haben, dann stellt sich die Situation anders dar, die nicht unter die Ausschlussregelung des neuen Gesetzes fallen würden.

In anderen Worten: An der Aufstocket-Problematik (und der mit ihnen verbundenen tatsächlichen Missbrauchspotenziale seitens der Arbeitgeber, die das ausnutzen) ändert sich nichts und wenn die Betroffenen dann arbeitslos werden, haben sie – und sei es für einige (in den Maßstäben ihrer „Überlebensökonomie“ sehr wertvolle) Monate Anspruch auf Sozialleistungen.

Man kann sich die Eskalation der Gesetzgebungsmaschinerie an dieser Stelle gut vorstellen. Wenn der derzeitige Entwurf Gesetz geworden ist und man natürlich feststellen wird, dass das an den anderen Problemen nichts ändert, wird man versuchen, den Regelungsmechanismus auch auf die hier beschriebenen Fälle auszudehnen. Manche werden nie arbeitslos werden im bestehenden System.

Mehr Zwangsverrentungen von Hartz IV-Empfängern. Oder doch nicht? Ein Paradebeispiel für systemkonforme und zugleich verirrte Sozialpolitik

Das waren Schlagzeilen, die man im Bundesarbeitsministerium sicherlich nicht gerne gelesen hat: Hartz-IV-Beziehern droht schnellere Zwangsverrentung: »Langzeitarbeitslose können vorzeitig in den Ruhestand geschickt werden, auch wenn dann ihre Bezüge schrumpfen. Nun sollen die Behörden einen größeren Spielraum bekommen, um Druck auszuüben.« Oder dieser Artikel hier: Zwangsverrentung: Koalition will mehr Druck ermöglichen: »Jobcenter sollen künftig Hartz-IV-Leistungen streichen, wenn Betroffene nicht die nötigen Unterlagen zum vorzeitigen Wechsel in die Rente vorlegen. Das sieht ein geplanter Änderungsantrag für ein derzeit im Bundestag beratenes Gesetz zu Rechtsvereinfachungen bei Hartz IV vor.«

Das Thema ist nicht neu. Bereits am 1.12.2014 wurde hier dieser Beitrag veröffentlicht: Die andere Seite der „Rente mit 63“: Während die einen wollen, müssen die anderen. Zwangsverrentung von Hartz IV-Empfängern.  Dort wurde bereits überaus kritisch das Thema erörtert. 

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Die Flüchtlinge und ihre gesundheitliche Versorgung zwischen Behandlungsschein und Karte

Die Diskussion über die Flüchtlinge hat sich merklich verschoben: In den letzten Monaten ist die Zahl der Neuankömmlinge in Deutschland deutlich zurückgegangen, die Schließung der Balkan-Route und das Aufstauen der Flüchtlinge in Griechenland werden auch bei uns sichtbar. Nur noch wenige schaffen es bis auf den deutschen Boden. Auch die Medienberichterstattung reagiert auf die veränderte Lage – einerseits. So muss man derzeit immer öfter solche Berichte zur Kenntnis nehmen: Diese Unterkunft hat alles – außer genug Flüchtlinge: »Auf dem alten Flughafen in Calden steht eine der modernsten Flüchtlingseinrichtungen Hessens. Das Problem mit dem Millionenprojekt: Es wäre Platz für 1500 Zuwanderer da – doch kaum jemand kommt.« Und immer öfter auch solche Recherchenergebnisse: Flüchtlinge als Geschäftsmodell: »Viele Heimbetreiber kassieren absurd hohe Preise für die Unterbringung von Geflüchteten. Ahnungslose Städte und Landkreise sind ideale Geschäftspartner für die Betreiber von Flüchtlingsunterkünften. Manche Kommunen zahlen dreimal so viel für die Unterbringung wie andere – und viele Städte wissen gar nicht, wie hoch ihre Kosten sind. Was läuft falsch?« 

Es ist auf der einen Seite immer wichtig, (mögliche) Verfehlungen oder gar Bereicherungen anzuprangern, auf der anderen Seite sollte einem unbefangenen Beobachter beispielsweise beim Blick auf die Abbildung klar werden, dass eine Planung von Unterbringungskapazitäten angesichts der erkennbaren Entwicklung äußerst schwierig ist. Die Kommunen haben es gleichsam mit einem überaus beweglichen Ziel zu tun. Noch am Ende des vergangenen Jahres mussten die Kommunen von deutlich höheren Zuweisungszahlen ausgehen, für die man entsprechende Unterbringungen planen und organisieren musste – und nun oftmals für mehr Menschen, als dann tatsächlich in den Wochen seit dem Jahresbeginn gekommen sind. Aber kann man wirklich jetzt, im Mai 2016, annehmen, dass der Rückgang der Zahlen anhält? Oder könnt es auch wieder aufwärts gehen, wenn das Wetter besser wird und alternative Routen zur geschlossenen Balkan-Route gefunden und benutzt werden? Wer kann das heute wirklich abschätzen?

Auf der anderen Seite verschafft das eigentlich die dringend notwendige Luft, die Verhältnisse hier im Land zu ordnen und  in den Griff zu bekommen. Aber auch mit Blick auf die bereits vorhandenen Flüchtlinge stellt sich die aktuelle Lage mehr als unübersichtlich dar.

Das Bamf bleibt im Stress, berichtet Anna Reimann: »Deutlich weniger Flüchtlinge kommen nach Deutschland, aber die Schlüsselbehörde Bamf steht weiter unter Druck. Der Berg der Asylanträge wächst.«
Dazu passen dann leider solche Meldungen: Arbeitskreis Asyl kritisiert Bearbeitungsdauer. Gemeint ist das Beispiel Rheinland-Pfalz:

»Der Arbeitskreis Asyl Rheinland-Pfalz hält die Bearbeitungszeiten für Asylanträge weiterhin für unzumutbar. Die Fristen zwischen Antragstellung und Entscheid seien in den vergangenen Monaten in vielen rheinland-pfälzischen Regionen gestiegen. Der Arbeitskreis stützt seine Kritik nach eigenen Angaben auf Zahlen der Bundesregierung. Demnach vergingen zum Beispiel in der Trierer Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge aktuell im Schnitt zwei Jahre, bis somalische und pakistanische Flüchtlinge einen Bescheid bekämen, bei Iranern summiere sich die Wartezeit auf zweieinhalb Jahre.«

Und zu den großen Baustellen gehört natürlich auch die gesundheitliche Versorgung der Flüchtlinge. Das ist nicht nur mit Blick auf jeden einzelnen Betroffenen ein originär sozialpolitisches Thema, sondern auch angesichts des „Vergiftungspotenzials“ für die gesellschaftliche Debatte. Immer wieder wird man konfrontiert mit Aussagen, die in die Richtung gehen, dass die Flüchtlinge, kaum sind sie hier, sich ein Rundumversorgungspaket abholen können und medizinische und andere gesundheitsbezogene Leistungen bekommen, auf die auch der „Normalbürger“ einen Anspruch hat. Ebenfalls immer wieder kritisiert werden die Auswirkungen auf den Krankenkassenbeitrag, denn darüber müssen die Leistungen für die Flüchtlinge finanziert werden, so ein immer wieder kolportierter Vorwurf.
Nun könnte und muss man an dieser Stelle einwerfen, so einfach ist es dann doch nicht. In den ersten 15 Monaten stehen den Flüchtlingen/Asylbewerbern eben nicht die gleichen Leistungen des Gesundheitssystems wie den normal Versicherten zu.
Wie sieht es wirklich aus mit den Leistungen? Dazu die Hinweise auf der Website www.gesundheit-gefluechtete.info:

»Der Leistungsumfang der gesundheitlichen Versorgung Geflüchteter ist in den §§ 4, 6 AsylbLG geregelt. Eine medizinische Versorgung ist im Krankheitsfall (bei akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen) mit ärztlicher und zahnärztlicher Versorgung zu gewährleisten, einschließlich der Versorgung mit Arznei- und Verbandmitteln, sowie sonstiger zur Genesung, zur Besserung oder Linderung von Krankheiten oder Krankheitsfolgen erforderlichen Leistungen. Zudem sind die amtlich empfohlenen Schutzimpfungen inbegriffen, ebenso wie alle Leistungen bei Schwangerschaft und Geburt (Vgl. § 4 AsylbLG). Darüber hinaus können laut der Öffnungsklausel § 6 AsylbLG „sonstige Leistungen […] insbesondere […] wenn sie im Einzelfall zur Sicherung […] der Gesundheit unerläßlich“ sind, abgerechnet werden.«

Mit Blick auf den letzten Passus in dem Zitat hat Irene Berres in ihrem Artikel So werden Flüchtlinge medizinisch versorgt ausgeführt: »Alles kann, kaum etwas muss.« Und wer entscheidet das? Die Kommunen finanzieren und organisieren die gesundheitliche Versorgung in den ersten Monaten des Aufenthalts. Wie diese geregelt ist, kann deshalb von Ort zu Ort unterschiedlich sein und ist es auch.
Daraus resultiert wieder einmal eine unübersichtliche Situation, die bereits in dem Beitrag Der föderale Flickenteppich und die Flüchtlinge: Die einen kriegen eine Chipkarte, die anderen müssen zum Amt. Am Gelde hängt’s vom 10. März 2016 angesprochen wurde. Der Normalfall sieht so aus, dass die Flüchtlinge in den Sozial- bzw. teilweise damit betrauten Gesundheitsämtern eine Behandlungsschein beantragen müssen. »In der Regel urteilen in den Ämtern keine Ärzte, sondern nicht fachkundige Sachbearbeiter darüber, wie sehr eine Behandlung drängt. „Die Gefahr, dass gesundheitliche Risiken falsch eingeschätzt werden, ist hoch, gerade auch bei kranken Kindern“, kritisierte die Ethikkommission der Bundesärztekammer bereits 2013. Fehlende notwendige Behandlungen könnten Krankheiten chronifizieren, zu Folgeschäden führen und teurere Therapien nach sich ziehen«, berichtet Irene Berres in ihrem Artikel
»Viele Flüchtlinge brauchen für einen Arztbesuch einen Behandlungsschein vom Amt. Die Gesundheitskarte sollte das Verfahren vereinfachen, doch viele Kommunen sind dagegen«, so der Artikel Warten auf die Gesundheitskarte für Flüchtlinge. Die Einführung einer Gesundheitskarte für Geflüchtete kommt nur sehr schleppend voran.

»Zu uneinig sind sich die zuständigen Bundesländer und Kommunen. Flächendeckend eingeführt ist die Krankenversichertenkarte für Asylbewerber bisher nur in den Stadtstaaten Hamburg, Bremen und Berlin sowie in Schleswig-Holstein. Einige andere Länder haben zwar die rechtlichen Rahmenbedingungen geschaffen, ihre Kommunen setzen sie aber nicht um … .«

Hauptgrund dafür bei vielen Kommunen ist die Befürchtung höherer Kosten. 


»Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen  …  haben mit den Krankenkassen zwar entsprechende Rahmenvereinbarungen geschlossen, umgesetzt werden müssen die aber von den Kommunen – und in Niedersachsen und Rheinland-Pfalz zieht bislang keine einzige Kommune mit. In Nordrhein-Westfalen sind es von 396 Kommunen bislang nur 20, die meisten davon größere Städte.«

Das hört sich nicht wirklich nach einem Erfolgsmodell an. Natürlich geht es vor allem ums Geld: »Die Kommunalverbände ärgern sich über hohe Zusatzkosten durch die Verwaltungspauschale von acht Prozent für die Krankenkassen.«
Das wird auch aus Rheinland-Pfalz vorgetragen, so Anfang Mai 2016 in diesem Artikel: Kommunen beklagen hohe Kosten:

»Am 2. Februar hatten das Sozial- und Gesundheitsministerium sowie zehn Krankenkassen eine Rahmenvereinbarung zur Einführung der elektronischen Gesundheitskarte für Flüchtlinge unterzeichnet. Danach erstatten die Landkreise und Städte den Kassen die Leistungen für die ihnen zugewiesenen Flüchtlinge nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Für die entstehenden Verwaltungskosten zahlen die Kommunen zusätzlich einen Satz von acht Prozent der Kosten für die medizinische Leistung. „Das ist viel zu teuer“, kritisiert der Geschäftsführende Direktor des Landkreistags, Burkhard Müller. Zudem gebe es technische Probleme, um über die Karte sicherzustellen, dass Asylbewerber nur Anspruch haben, akute Erkrankungen und Schmerzen behandeln zu lassen – während die elektronische Gesundheitskarte der sonstigen Kassenpatienten einen größeren Leistungsumfang ermöglicht. Damit seien „Manipulationen Tür und Tor geöffnet“, befürchtet Müller.«

Aus Pirmasens wird berichtet, dass es vier bis fünf Mal teurer wäre, wenn man die Gesundheitskarte einführen würde. Das bisherige Verfahren sei bei den Verwaltungskosten einfach günstiger.
Auch aus Nordrhein-Westfalen erreichen uns vergleichbare Meldungen: Gesundheitskarte bisher nur in wenigen Kommunen:

»Die kleine Karte macht den Unterschied – für das Sozialamt und für etwa 500 Flüchtlinge im rheinischen Alsdorf. „Die Entlastung für die Behörde ist spürbar“, sagt ein Mitarbeiter des Sozialamts in einer Umfrage der Nachrichtenagentur dpa. Die 50.000-Einwohner-Kommune bei Aachen hat zu Jahresbeginn die Krankenversichertenkarte für Flüchtlinge eingeführt. Sie sind nun direkt bei einer Krankenkasse versichert und müssen nicht erst auf dem Amt einen Behandlungsschein für den Gang zum Arzt holen.
Das Ziel: eine bessere Gesundheitsversorgung der Neuankömmlinge und eine Entlastung der Behörden. Vor allem große Städte setzen darauf: Köln, Düsseldorf, Bochum, Münster, Bonn und Oberhausen machen mit. Düsseldorf hat inzwischen etwa 5.000 Karten ausgegeben.«

Aber warum dann nur in einer Minderheit der Kommunen, denn nur 20 von 396 NRW-Kommunen haben sich bislang entschlossen, ihren Flüchtlingen eine Gesundheitskarte zu geben?
»Die kommunalen NRW-Spitzenverbände halten die Vereinbarung für zu teuer. Durch die Verwaltungspauschale von acht Prozent entstünden „extrem hohe Zusatzkosten“, bemängelt der Städte- und Gemeindebund NRW, der für 359 Kommunen spricht … Hinzu komme das Haftungsrisiko bei Missbrauch oder Verlust der Gesundheitskarte.«
Aber die anderen, die den Schritt gewagt haben, hören sich gar nicht so pessimistisch an, wie das Beispiel Monheim verdeutlicht (»Als erste hatte Monheim am Rhein, ein wohlhabende kleine Stadt im Süden von Düsseldorf, die Einführung der Gesundheitskarte für die derzeit 676 Flüchtlinge beschlossen. Die Bilanz sei rundum positiv, erklärt Dietmar Marx, Abteilungsleiter Soziales im Rathaus: eine Arbeitserleichterung für die Mitarbeiter, Ärzte haben weniger Rückfragen, die Kooperation mit der Krankenkasse läuft«):

»Viele Kommunen in NRW zahlen pro Flüchtling zunächst einen Abschlag von 200 Euro pro Monat auf zu erwartenden Gesundheitskosten. Abgerechnet wird hinterher. Die Verantwortlichen in Monheim haben spitz gerechnet und mit der Krankenkasse eine Pauschale von 130 Euro pro Flüchtling und Monat vereinbart. Weniger als andere. Nach dem ersten Quartal gab es Geld zurück. Und sollte der Abschlag doch nicht ausreichen, wird er wieder erhöht.«

Nach 15 Monaten ist das vorbei. Dann haben die betroffenen Menschen einen Anspruch auf eine „normale“ Krankenversicherung – und die ist dann bekanntlich mit der Karte. 
Und auch bei der Finanzierung kann (teilweise) Entwarnung gegeben werden. Entweder der Flüchtling arbeitet und führt auf seinen Lohn den Sozialversicherungsbeitrag ab. Oder aber er oder sie befinden sich unter dem Dach der Jobcenter (nach der Anerkennung als Asylberechtigter) und die zahlen dann eine Pauschale in Höhe von 90 Euro pro Monat an die Krankenversicherung. Ob das nun wiederum ausreicht, um die Kosten zu decken, wäre eine eigene Diskussion. Auf alle Fälle ist das dann kein originäres Flüchtlingsproblem, denn wenn es eine Unterdeckung durch die staatlich vorgegebenen Pauschalen gibt, dann ist das ein Problem, dass letztendlich alle Hartz IV-Empfänger treffen würde – und auch wieder nicht, denn es handelt sich ja immer um Durchschnittsbeträge über alle Angehörige einer bestimmten Personengruppe.

Mehr Hartz IV-Aufstocker trotz Mindestlohn, immer weniger Aufstocker in Berlin – ein (scheinbares) Durcheinander

Da wird der eine oder andere aber irritiert den Kopf schütteln. Was denn nun? Zum einen meldet die Berliner Zeitung: In Berlin gibt es immer weniger „Aufstocker“. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit »waren im Dezember 2014 rund 124.000 Arbeitnehmer auf zusätzliche Hartz-IV-Leistungen angewiesen. Ein Jahr später, im Dezember 2015, waren es nur noch etwa 118.000.« Und gleichzeitig kann man der Rheinischen Post entnehmen: Mehr Hartz-IV-Aufstocker trotz Mindestlohns. Dieser Artikel bezieht sich nicht nur auf Berlin, sondern berichtet von den Zahlen deutschlandweit und auch hier fungiert die Bundesagentur für Arbeit als Datenlieferant. »Demnach erhielten im September 2015 nach den letztverfügbaren Daten 592.215 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte ergänzende staatliche Leistungen in Form von Arbeitslosengeld II. Ein Jahr zuvor, im September 2014, waren es dagegen mit 589.701 etwa 2500 Beschäftigte weniger.« Das hätten doch – eingedenk der Argumentation bei der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns, dass man damit auch die eigene Existenzsicherung unabhängig von ergänzenden, eben aufstockenden Leistungen aus der Grundsicherung sicherstellen wolle – weniger und nicht etwas mehr werden müssen.
Entweder läuft da was schief – oder aber, man muss wieder einmal genauer auf die Zahlen schauen.

Wenn man das macht, dann zeigt sich sehr schnell, dass das scheinbare Durcheinander gar keines ist.

An den Anfang gestellt sei der Hinweis, dass die „Aufstocker“ eine durchaus heterogene Gruppe sind, denn darunter können Vollzeitbeschäftigte mit sehr niedrigen Löhnen fallen, aber auch Arbeitslosengeld II-Bezieher, die einen „kleinen“ Minijob ausüben, der sich an der Zuverdienstgrenze nach den bestehenden Einkommensanrechungsvorschriften orientiert.

Schauen wir zuerst auf die Daten aus Berlin, von wo ja ein Rückgang der Zahl der Aufstocker in der Größenordnung 5 Prozent im Zeitraum von Dezember 2014 bis Dezember 2015 berichtet wird. Und dann erfahren wir etwas genauer:

»Im selben Zeitraum zwischen 2014 und 2015 ging die Zahl der sogenannten „Minijobber“ – erwerbstätiger Hartz-IV-Empfänger mit einem Einkommen bis zu 450 Euro – um etwa 15 Prozent zurück. Gleichzeitig erzielten 17 Prozent mehr Menschen, die auch auf Sozialhilfe angewiesen sind, ein Brutto-Einkommen über 1200 Euro.«

Und von besonderer Bedeutung ist dann dieser Hinweis: »Bemerkenswert sei jedoch die Umwandlung von „Minijobs“ in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Mit der Einführung des Mindestlohns sei auch die Zahl der geringfügig Beschäftigten gesunken.«

Das ist anschlussfähig an die Erkenntnisse, die man dem Artikel Mehr Hartz-IV-Aufstocker trotz Mindestlohns entnehmen kann. Hier wird mit dem Jahresvergleich September 2014 zu September 2015 gearbeitet: Die Zahl der Aufstocker sei von 589.701 auf 592.215 gestiegen – aber aufpassen, die beiden Werte beziehen sich (nur) auf sozialversicherungspflichtig Beschäftigte.

Und dann kommt die Auflösung, die anschlussfähig ist an die eben nur scheinbar abweichende Meldung aus Berlin:

»Leicht rückläufig war die Aufstocker-Zahl lediglich bei den Vollzeitbeschäftigten mit sozialversicherungspflichtigen Jobs. Sie sank zwischen September 2014 und September 2015 um knapp 17.000 auf 201.078. Dagegen stieg die Zahl der teilzeitbeschäftigten Arbeitslosengeld-II-Empfänger um knapp 20.000 auf 391.120 an. Spürbar positiv wirkte der Mindestlohn lediglich auf die geringfügig Beschäftigten. Die Zahl der Mini-Jobber, die auf ergänzende Hartz-IV-Leistungen angewiesen waren, lag im September 2015 mit knapp 421.000 rund 53.000 niedriger als ein Jahr zuvor. Vor allem dieser Rückgang erklärt, warum die Zahl der Hartz-IV-Aufstocker Ende 2015 insgesamt mit 1,21 Millionen um rund 50.000 unter dem Vorjahreswert gelegen hat.«

Eine Zusammenfassung mit Blick auf den Mindestlohn könnte so formuliert werden:
Der Mindestlohn wirkt bei den Aufstocken, die eine Vollzeitarbeit ausüben, denn die 8,50 Euro heben zumindest den Alleinstehenden über die Bedürftigkeitsschwelle, deren Unterschreiten aufstockende Hartz IV-Leistungen ermöglicht. Gleichzeitig steigt die Zahl der (sozialversicherungspflichtig) teilzeitbeschäftigten Aufstocker (denn bei geringer Stundenzahl wäre man selbst bei deutlich höheren Löhnen als den 8,50 Euro leistungsberechtigt, wenn man sonst keine Einnahmen hätte), das aber vor allem deshalb, weil gleichzeitig ein Teil der früheren Mini-Jobber im Aufstockungsbezug deshalb nicht mehr auftauchen, weil schlichtweg ihre bisherigen geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse umgewandelt worden sind in sozialversicherungspflichtige Teilzeit-Jobs – und deren Zahl unter den Aufstocken steigt ja auch an.

Insofern sind wir hier mit den Umwälzungsprozessen auf einem eben nicht statischen Arbeitsmarkt konfrontiert, die mit dem Mindestlohn zusammenhängen:

Ein Teil der bisherigen Minijobs ist abgebaut, ein anderer Teil ist hochgezogen worden in den Bereichen der sozialversicherungspflichtigen Teilzeitbeschäftigung (und generiert hier jetzt „neue“, letztendlich aber „alte“ Aufstockerfälle) und die Vollzeitbeschäftigten müssen wegen des Mindestlohns weniger oft aufstocken als früher, zumindest wenn sie alleinstehend sind.

Weitere systematische Aspekte kann man auch dem Beitrag Die Aufstocker im Hartz IV-System: Milliardenschwere Subventionierung der Niedrigeinkommen und die (Nicht-)Lösung durch den gesetzlichen Mindestlohn vom 15. Januar 2016 entnehmen.