Immer mehr davon. Der Bedarf an zusätzlichen Pflegeheimplätzen in den Bundesländern. Ein weiterer Blick in die Pflegeinfrastruktur-Glaskugel

Viele sind mittlerweile abgestumpft angesichts der seit Jahren immer wieder vorgetragenen Prognosen, Vorausberechnungen bzw. – seien wir ehrlich – Schätzungen hinsichtlich der steigenden Zahl an pflegebedürftigen Menschen und damit verbunden die Auseinandersetzung mit der Frage, wer die denn wo pflegen soll, kann und wird. Auf der anderen Seite sind solche Zahlen überaus wichtig für die Sozialplanung, denn hier muss man die Frage beantworten, wie viele ambulante Pflegedienste und wie viele stationäre Einrichtungen brauchen wird denn in den vor uns liegenden Jahren und wo brauchen wir welches Personal und das dann auch noch verbunden mit der Frage, was denn die Betroffenen eigentlich wollen. Man kann das nachvollziehbarerweise nicht einfach aus dem Ärmel schütteln, wenn sich ein bestimmter Bedarf bereits zeigt. Auf der anderen Seite gibt es bei nicht wenigen eine gewisse Wahrnehmungsfrustration, denn wie oft wurden die Prognosen und ihre Spielarten von der Wirklichkeit wenn nicht widerlegt, so doch deutlich über- oder untertroffen. Das nun ist ein grundsätzliches Problem aller Vorhersagen und die beiden wichtigsten Fehlerquellen, die sich nie ganz vermeiden lassen, sind zum einen Abweichungen aufgrund tatsächlicher anders als angenommen eingetretener Entwicklungen (man denke hier nur an den seit einigen Jahren beobachtbaren Anstieg der Zuwanderung, der so nicht erwartet worden ist, was natürlich erhebliche Auswirkungen hat auf die Vorausberechnung der demografischen Entwicklung) und zum anderen können es die Annahmen selbst sein, die sich rückblickend als falsch herausgestellt haben nicht (nur) hinsichtlich der Größenordnung, sondern des Vorzeichens.

In diesem Beitrag soll es um Pflegeheimplätze gehen. Deshalb aus diesem Bereich ein Beispiel aus der zurückliegenden Zeit. Schon seit Jahren wird mit expliziter Bezugnahme auf die demografische Entwicklung und den Anstieg der Zahl der älteren, pflegebedürftigen Menschen darauf hingewiesen, dass notwendigerweise der Bedarf an Pflege und darunter einen stationäre Altenpflege ansteigen wird. Von interessierter Seite wurde diese Vorhersage dafür benutzt, Investoren zu überzeugen, ihr Geld in den Neubau von Altenheimen und die Schaffung von Pflegeheimplätzen zu investieren. Nach allen vorliegenden Vorhersagen müsste das ein sicheres Investment sein. Das hat nun aber unter anderem auch dazu geführt, dass in nicht wenigen Regionen, vor allem in den Städten, mittlerweile ein Überangebot an Pflegeheimplätzen existiert. Eine Erklärung dafür ist die Tatsache, dass der angenommene Bedarf an stationärer Pflegeversorgung eben nicht so eingetreten ist, sondern parallel lief eine Entwicklung, die man beschreiben kann mit den Worten: Solange wie möglich zuhause bleiben und erst, wenn es absolut nicht mehr geht hinsichtlich der Pflegeintensität, dann in ein Pflegeheim wechseln. Das hat dazu geführt, dass das durchschnittliche Heimeintrittsalter in Deutschland deutlich angestiegen ist und in den meisten Heimen das früher durchaus vorhandene Drittel an weniger pflegeintensiven Bewohnern so gut wie weggebrochen ist. Das hat dann nicht nur ein quantitatives Überangebot auf dem Markt für Pflegeheimplätze zur Folge, sondern auch enorme qualitative Herausforderungen für die Menschen, die in solchen Heimen leben und die dort arbeiten (müssen). Für die Heimbetreiber ist das sicher in dem einen oder anderen Fall ein erhebliches Problem, hinter dieser Entwicklung steht allerdings letztendlich aus Sicht der Betroffenen offensichtlich eine positive Sache, denn die meisten Menschen haben den Wunsch, solange wie möglich in den eigenen vier Wänden bzw. im Kreis ihrer Familie verbleiben zu können.
Insofern ist mittlerweile eine gehörige Ernüchterung angesichts des Auseinanderlaufens von vorhergesagten und tatsächlichen Bedarf eingetreten.

Aus dem Institut der deutschen Wirtschaft in Köln (IW) kommt nun erneut ein Versuch, den Blick auf die Auswirkungen der angenommenen Entwicklung der Zahl der Pflegebedürftigen auf die Pflegeinfrastruktur zu werfen – und dies dann differenziert nach den Bundesländern. Das Institut schreibt dazu in der Pressemitteilung Herausforderungen an die Pflegeinfrastruktur:

»2,6 Millionen Menschen waren 2013 in Deutschland pflegebedürftig, diese Zahl dürfte nach IW-Schätzungen bis zum Jahr 2030 um bis zu 828.000 steigen. Bundesweit müssen dafür bis zu 220.000 Plätze mehr in Pflegeheimen geschaffen werden. Die Bundesländer sind auf diesen Trend unterschiedlich vorbereitet: Nordrhein-Westfalen etwa muss fast 48.000 zusätzliche Pflegeplätze schaffen, in Bayern sind es knapp 23.000, in Baden-Württemberg 29.000. Einzig das Saarland müsste bei einer höheren Auslastung der bereits vorhandenen Pflegeheime kaum nachrüsten – hier fehlen nur etwa 1.000 Plätze.«

Die Studie im Original: Susanna Kochskämper und Jochen Pimpertz: Herausforderungen an die Pflegeinfrastruktur, in: IW-Trends Heft 3/2015, S. 59-75.

Die Abbildung am Anfang dieses Beitrags verdeutlicht für die einzelnen Bundesländer mit Blick auf die 2013 vorhandenen Pflegeheimplätze, was das für das Zieljahr 2030 an zusätzlichen Platzbedarfen bedeuten könnte, wenn man die Schätzergebnisse des IW zugrunde legt.

Auf der Basis dieser Daten hat Rainer Woratschka seinen Artikel so überschrieben: Berlin muss am stärksten zulegen: »Berlin sieht ganz schön alt aus. Bis zum Jahr 2030 braucht die Hauptstadt 14.000 zusätzliche Plätze in Pflegeheimen, haben Forscher errechnet. Das wäre die höchste Steigerungsquote bundesweit … In den nächsten 15 Jahren müssten die Pflegeheim-Kapazitäten in der Hauptstadt demnach um 38 Prozent steigen, wenn es bei dem derzeitigen stationären Versorgungsanteil bleibt.«
Aber warum ist der Anstieg in Berlin so besonders ausgeprägt, was die stationäre Versorgung der Pflegebedürftigen angeht? In anderen Bundesländern ist das doch deutlich geringer ausgeprägt. Ein Hinweis zur Auflösung dieser Fragestellung: »Von den 50- bis 64-Jährigen – also denen, die 2030 im Pflegealter sind – lebte in der Single-Hauptstadt Berlin im Jahr 2014 mehr als jeder Dritte allein. Und mehr als jede fünfte der 58- bis 67-jährigen Frauen hatte keine Kinder.« Was damit angedeutet werden soll: Auch wenn die einzelnen Betroffenen vielleicht etwas anderes wollen, sie werden gar nicht umhin kommen, professionelle Pflege in Heimen in Anspruch nehmen zu müssen, weil bei vielen von ihnen schlichtweg die Voraussetzungen für eine Kombination von ambulanter und Angehörigen-Pflege nicht gegeben ist.

Und hier sind wir bei einer wichtigen Annahme der neuen Studie angekommen, die sich abweichend von dem, was an anderer Stelle und vor allem in der Politik angenommen und auch gefördert wird, darstellt:

»Anders als die Bundesregierung gehen die Wissenschaftler nicht davon aus, dass Heimpflege zunehmend „out“ werden und der Anteil von ambulant erbrachter Pflege durch Angehörige oder Nachbarn in Zukunft merklich steigen könnte. Im Gegenteil: Bundesweit sei eher ein Trend zu mehr professioneller Pflege zu beobachten … Zu berücksichtigen seien zudem eine weiter steigende Erwerbstätigenquote von Frauen und die wachsende Zahl von Alleinstehenden und Kinderlosen,« so Woratschka in seinem Artikel.

Und beim IW selbst finden wir das dann so formuliert:

»Die Politik setzt derzeit auf mehr ambulante Pflege, insbesondere durch Angehörige und Ehrenamtliche. Realistisch ist das nicht, warnt IW-Forscher Jochen Pimpertz: „Bislang fehlen empirische Beweise dafür, dass die familiäre oder nachbarschaftliche Pflege steigt.“ Bundesweit gibt es eher einen Trend hin zu mehr professioneller Pflege. Zudem spielen gesellschaftliche Entwicklungen eine Rolle: Die Zahl der Single-Haushalte steigt, genau wie die Gruppe der Kinderlosen. Partner und Kinder fallen damit immer häufiger als potenzielle Pfleger weg. Auch ist nicht absehbar, wie sich die steigende Erwerbstätigkeit von Frauen auf die Pflegebereitschaft auswirkt. Bislang übernehmen vor allem Töchter, Schwestern und Schwiegertöchter die Pflege, was sich allein rein zeitlich meist nicht mit einem Job vereinbaren lässt.«

Natürlich bewegen wir uns hier in einem Kernbereich der angesprochenen Grundproblematik von Annahmen, die man den Abschätzungen zugrunde legt. Der wichtigste Impuls der IW-Studie ist die abweichende Positionierung vom derzeit vorherrschenden Mainstream, dass es immer mehr ambulant und tendenziell weniger stationär geben wird. Diese Entwicklungsrichtung, die man – wie bereits angedeutet – für die Vergangenheit durchaus beobachten konnte, die aber sehr stark beeinflusst wurde durch eine grundsätzliche Verschiebung der pflegeheimrelevanten Grundgesamtheit im Sinne einer deutlichen Erhöhung des durchschnittlichen Heimeintrittsalters und der parallel abgelaufenen Ausweitung der ambulanten Angebote, würde sich also nach den Einwänden des IW so nicht fortschreiben lassen.

Vielleicht liegt die „Wahrheit“ wie so oft in der Mitte und wir werden eine Gleichzeitigkeit erleben – also beide Sektoren müssen ausgebaut werden.

Aber es gibt mit Blick auf den Bedarf an Pflegeheimplätzen noch einen weiteren Punkt, den man anmerken muss und der verdeutlichen kann, dass selbst die veröffentlichten Schätzungen des IW hinsichtlich der notwendigen Investitionen in die stationäre Pflegeinfrastruktur noch als Untergrenze zu verstehen sind. Das Institut spricht die Problematik, dass es ja nicht nur einen Zusatzbedarf geben kann aufgrund der steigenden Zahl an Pflegebedürftigen, sondern man korrekterweise immer auch den Ersatzbedarf die bestehende Infrastruktur einberechnen müsste, selbst an:

»Um den Bedarf an Pflegeheimplätzen künftig decken zu können, sind über den Aufbau zusätzlicher Kapazitäten hinaus auch bestandserhaltende Investitionen erforderlich. In welchem Umfang die bestehende Infrastruktur erneuert werden muss, lässt sich aber nicht zuverlässig schätzen, weil Daten über deren Zustand fehlen. Auf der Basis eines sehr einfachen Ansatzes ließe sich bei einer unterstellten Nutzungsdauer von 30 Jahren … und unter der Annahme, dass der aktuelle Bestand neuwertig ist und der Verzehr linear erfolgt, ein Reinvestitionsbedarf von etwa der Hälfte der bestehenden Infrastruktur bis zum Jahr 2030 ableiten. Diese überschlägige Rechnung lässt aber viele Fragen offen: zum Beispiel, ob Gebäude grundlegend erneuert werden müssen oder nur deren Ausstattung. Nicht zuletzt deshalb kommt eine Expertenbefragung zu der deutlich moderateren Einschätzung, dass bundesweit gut ein Drittel der Bestandskapazitäten den in der Branche üblichen Qualitätsanforderungen nicht mehr entspricht, wobei Pflegeheime in Ostdeutschland im Durchschnitt einen vergleichsweise guten Zustand aufweisen … Aufgrund der unbefriedigenden Datenlage wird deshalb auf eine Quantifizierung des Ersatzbedarfs verzichtet« (Kochskämper/Pimpertz 2015: 70).

Das muss man bei der Bewertung der Zahlen wissen, denn natürlich erhöht das den Investitionsbedarf (und zuvor den Planungsbedarf) erheblich, denn dieses Drittel verteilt sich, wie im Zitat bereits angedeutet, regional sehr unterschiedlich.

Wenn das IW schreibt, ausgehend von den 848.000 Pflegeheimplätzen müssten bundesweit bis zu 220.000 Plätze mehr in Pflegeheimen geschaffen werden, um den steigenden Bedarf zu decken (wobei der Zuwachs stetig erfolgt – bis 2030 müssen deutschlandweit zusätzlich jedes Jahr zwischen gut 10.000 und 13.000 Pflegeheimplätze in der Dauerpflege bereitgestellt werden), dann berücksichtigt das nicht, dass eine Angebotsverknappung im Bestand aufgrund politischer Entscheidungen weiteren Ausbaubedarf auslösen kann und wird, so beispielsweise die Tatsache, dass die in vielen älteren Heimen fehlenden Einzelzimmer in den kommenden Jahren geschaffen werden müssen, was auf alle Fälle die Kapazitäten begrenzen wird.

Natürlich kann und muss darüber gestritten werden, ob die Annahmen, von denen das IW ausgeht, plausibel sind. Hier werden sicherlich kritische Stimmen die Diskussion bereichern. Sollte aber die Prognose auch nur teilweise eintreten, was die Zunahme der Pflegeheimplätze und vor allem den Bedarf danach angeht, dann muss natürlich darauf hingewiesen werden, dass das ein weiteres Argument wäre für eine deutliche Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Pflege, denn man braucht Menschen, die diesen pflegerischen Bedarf auch abdecken können. Und hier sind wir bereits heute mit allen Anzeichen eines veritablen Pflegenotstands konfrontiert. Denn nicht nur, aber auch daraus resultiert, dass sich die Arbeitsbedingungen in den Heimen in den vergangenen Jahren erheblich verschlechtert haben in dem Sinne, dass es – um mit den Worten des Heimkritikers Klaus Dörner zu sprechen – zu einer „Konzentration der Unerträglichkeit“ für beide Seiten, also die Bewohner und die dort Beschäftigten gekommen ist. Und leider müssen wir derzeit zur Kenntnis nehmen, wie schwer es offensichtlich ist, wie bereits bestehenden Personalprobleme in diesem wichtigen Bereich der nicht zu lösen, dann zumindest deutlich zu reduzieren.

Möglicherweise wird der in der neuen Studie des IW ausgewiesene Bedarf an Pflegeheimplätzen tatsächlich so ansteigen, wie dargestellt – aber es wird vielleicht zu wenige Menschen geben, die Plätze auch zum Leben erwecken können. Dazu allerdings müssten wir an dieser Stelle erneut in die Welt der immer strittigen und unsicheren Annahmen eintreten.

Aus den Tiefen und Untiefen des größten Pflegedienstes in Deutschland: Pflegende Angehörige. Und das, was die tun, kann krank und arm machen

Laut Planung wollte man sich eine Stunde und fünf Minuten Zeit nehmen, um am vergangenen Freitag als ersten Tagesordnungspunkt im Plenum des Deutschen Bundestags über einen wichtigen Teilbereich der Pflege zu debattieren. Es ging um die erste Beratung des von der Bundesregierung  eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Stärkung der pflegerischen Versorgung und zur Änderung weiterer Vorschriften (Zweites Pflegestärkungsgesetz – PSG II), den man hier als Drucksache 18/5926 abrufen kann. Tatsächlich sind es dann aber eine Stunde und 43 Minuten geworden, jedenfalls ausweislich der Aufzeichnung der Debatte im Bundestag, die man hier als Video anschauen kann. Mit diesem Gesetz wird der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff in die Praxis umgesetzt. Es soll am 1. Januar 2016 in Kraft treten. Das neue Begutachtungsverfahren und die Umstellung der Leistungsbeträge der Pflegeversicherung sollen zum 1. Januar 2017 wirksam werden. Es geht also um eine wichtige Änderung in der Pflegeversicherung.

Das Bundesgesundheitsministerium erläutert: »Diese Reform nutzt allen – den Pflegebedürftigen, ihren Angehörigen und unseren Pflegekräften – denn der tatsächliche Unterstützungsbedarf wird besser erfasst. Über die Leistungshöhe entscheidet künftig, was jemand noch selbst kann und wo sie oder er Unterstützung braucht – unabhängig davon, ob jemand an einer Demenz oder körperlichen Einschränkung leidet.«

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Ruf mich (lieber nicht) an. Vom Recht auf Durchwahl in Zeiten der Jobcenter

Die Jobcenter – diese letzten Außenposten unseres Sozialstaates – sind schon eigenartige Gebilde. Auf der einen Seite sind sie die sichtbaren Zitadellen des Hartz IV-Systems und stehen immer wieder vor Ort und auch ganz grundsätzlich in der Kritik, nicht nur seitens der Betroffenen, sondern auch aus Wissenschaft und Politik. Auf der anderen Seite müssen sie eine Menge ausbaden, so eine hyperkomplexe Gesetzgebung mit einer Vielzahl an unbestimmten Rechtsbegriffen, die in der Realität dann mit mehr oder eben weniger Leben zu füllen sind. Oder eine kapitale Unterfinanzierung vor allem der einen Seite des „Fordern und Fördern“. Zugleich sind sie Objekt einer „BWL-besoffenen“ Ausrichtung von Verwaltung, symbolhaft am deutlichsten erkennbar an der Etikettierung der Menschen, die Leistungen aus dem Grundsicherung bedürfen, als „Kunden“. Bei diesem Begriff denkt der Normalbürger nicht selten an Zuschreibungen wie der „Kunde ist König“. Und das im Jobcenter, wird jetzt der eine oder andere denken. Genau. Allein schon diese eben durchaus naheliegende Assoziation verdeutlicht die leider nicht nur semantische Verirrung, die wir in diesem Bereich beklagen müssen.

Man muss sich klar machen, dass es bei vielen Kontakten zum Jobcenter nicht um ein Coaching-Seminar nach dem Motto, was würden sie denn gerne machen wollen, geht. Sondern um existenzielle Geldleistungen. Um das Dach über dem Kopf, das man möglicherweise zu verlieren droht. Um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Es ist unmittelbar einleuchtend, dass diese Konfiguration zu einem Dilemma werden muss, wenn man beide Seite berücksichtigt. Also vereinfachend gesagt: Aus der Perspektive der betroffenen Menschen kann und ist es nicht selten existenziell, die eigenen Probleme besprechen zu können, was voraussetzt, dass man Zugang hat zu jemanden, mit dem man kommunizieren kann. Also den Sachbearbeiter oder den Fallmanager, der für einen „zuständig“ ist. Auf der anderen Seite des Schreibtisches ist es aber zugleich eben auch so, dass genau das angesichts der enormen Heterogenität der Fälle den Laden blockieren kann, dass man nicht mehr zu seiner anderen Arbeit kommen kann, dass es nicht möglich ist, in einer notwendigen Ruhe Fälle oder Menschen zu bearbeiten.

Genau um dieses Dilemma geht es letztendlich, wenn man eine solche Nachricht serviert bekommt: Vom Recht auf Durchwahl, so hat Thomas Öchsner seinen Artikel überschrieben. Und weiter erfahren wir: »Müssen Jobcenter interne Nummern nennen? Ein Rechtsanwalt hat bereits 70 Klagen eingereicht. Jetzt kann er seinen ersten Erfolg vorweisen.«

Bevor wir uns vertiefen in den aktuellen Fall, den Öchsner hier aufgreift, muss eingefügt werden, dass der eine oder andere „alte Hase“ stutzen und die Frage aufwerfen wird, war da nicht schon mal was genau in diese Richtung – und sogar vom gleichen Verfasser? Eine Kompetenz übrigens, die in unserer schnelllebigen Zeit immer mehr ausdünnt. Ja, da war was.

Am 22. Januar 2013 hat Thomas Öchsner einen Artikel veröffentlicht unter der Überschrift Auskunft unter dieser Nummer. Und damals konnten wir lesen: »Beim persönlichen Sachbearbeiter durchklingeln, um drängende Fragen zeitnah zu klären? Bislang war das Arbeitssuchenden nicht möglich – die Jobcenter hielten die Durchwahlen ihrer Mitarbeiter mit Verweis auf den Datenschutz unter Verschluss. Ein Gerichtsurteil könnte die Telefon-Praxis nun kundenfreundlicher machen.« Ausgangspunkt für seine Überlegungen war: Das Leipziger Verwaltungsgericht hatte entschieden, dass das Jobcenter Leipzig die Durchwahlnummern seiner Sachbearbeiter herausgeben muss. Die grundsätzliche Frage, um die es damals ging: Dürfen Ämter die persönlichen Dienstnummern ihrer Mitarbeiter geheim halten oder widerspricht dies dem Informationsfreiheitsgesetz?

»Im Fall des Jobcenters meinten die Leipziger Richter, die Durchwahlnummern der Bearbeiter würden nicht unter den persönlichen Datenschutz fallen. Auch habe der Informationsanspruch der Bürger Vorrang vor der inneren Organisation des Jobcenters.«

Erreicht hat diese Aussage ein Mann, dessen Name gleich wieder auftauchen wird: Der Leipziger Rechtsanwalt Dirk Feiertag.  Eine schnelle Hilfe für Arbeitslose werde „durch die Abfertigung der Betroffenen in einem Callcenter systematisch verhindert“, so wurde er damals zitiert. Auch Anfang des Jahres 2013 gab es natürlich eine Gegenposition, die der Bundesagentur für Arbeit (BA), die hier nicht unterschlagen werden soll:

»Die Behörde weist darauf hin, dass die insgesamt 76 Callcenter für Arbeitslose und Hartz-IV-Empfänger jährlich gut 30 Millionen Anrufe erhielten. Mehr als 80 Prozent der Anfragen ließen sich sofort klären. Jeder Jobsuchende könne über die Hotline einen persönlichen Gesprächstermin mit seinem Vermittler buchen, der nur so Zeit und Ruhe hätte, mit dem Arbeitslosen zu reden.«

Vor diesem erneut grundsätzlichen Hintergrund ist klar, dass das Jobcenter Leipzig diese Entscheidung nicht hat akzeptieren wollen und wir werden aus dem Artikel entlassen mit dem Hinweis, dass man deshalb Revision eingelegt habe.

Und im September 2015 taucht eben dieser Rechtsanwalt Dirk Feiertag erneut auf in einem Artikel – der wie der 2013 von Thomas Öchsner geschrieben wurde: Vom Recht auf Durchwahl. Er hält die Hotline- und Callcenter-Arechitektur der meisten Jobcenter, die sich diesem System unterworfen haben,  für „alles andere als bürgerfreundlich“. Wenn die telefonische Kommunikation besser wäre, ließen sich viele Konflikte in den Jobcentern schnell ausräumen, so Feiertag. Und offensichtlich ist er ein Mann der juristischen Tat, denn er hat »bundesweit mittlerweile etwa 70 Klagen gegen Jobcenter eingereicht, um die Herausgabe von Durchwahlen gerichtlich zu erzwingen. Stets beruft er sich dabei auf das Informationsfreiheitsgesetz. Jetzt kann er seinen ersten rechtskräftigen Erfolg vorweisen.« Und es geht nicht um den 2013 beschriebenen Fall aus Leipzig, sondern:

»Das Verwaltungsgericht Regensburg verpflichtete das Jobcenter im Landkreis Regen, die Diensttelefonnummern der Mitarbeiter herauszurücken und fand dabei klare Worte: So hielten die Richter die Behauptung des Jobcenters, es gebe eine solche Liste nicht, für „verwunderlich und nicht nachvollziehbar“. Weder sei durch eine Herausgabe die öffentliche Sicherheit gefährdet, noch sei ein erhöhter Arbeitsaufwand oder ein etwaiges Interesse schutzwürdig, „von direkten Kontaktaufnahmen von Kunden verschont zu bleiben“. Dieses Urteil hat die Behörde nun akzeptiert. Gegen die Nichtzulassung der Berufung geht das Jobcenter nicht mehr vor.«

Andere Verwaltungsgerichte gaben Feiertags Klägern ebenfalls recht. Aber offensichtlich geht es hier zu wie im Fußball: Ein Spiel gewonnen, dann verloren, denn:

»In der zweiten Instanz hatte der Rechtsanwalt jedoch bislang weitgehend das Nachsehen, so zum Beispiel beim Oberverwaltungsgericht (OVG) Nordrhein-Westfalen. Dessen 8. Senat wies darauf hin, dass die Weitergabe von Informationen nicht die Funktionsfähigkeit einer Massenverwaltung gefährden dürfe. Genau dies sei der Fall, wenn viele Leistungsempfänger anrufen würden, „zu denen mitunter auch Personen mit querulatorischer Neigung zählen“. Wegen der unterschiedlichen Rechtsprechung sei aber „eine Klärung durch das Bundesverwaltungsgericht geboten“.«

Gegen die Entscheidung des OVG NRW hat der Anwalt Feiertag bereits Revision eingelegt und damit wandert das nun weiter nach oben. »Vielleicht entscheidet das Bundesverwaltungsgericht schon 2016, ob es ein Recht auf Durchwahl gibt«, so schließt der Artikel.

Werkverträge als echtes Problem für Betriebsräte und Gewerkschaft. Und eine „doppelte Tariffrage“ für die IG Metall

Während sich die Medien untereinander über die Abgas-Probleme des VW-Konzerns austauschen und ihr Augenmerk auf Personalien richten wie den Rücktritt des VW-Vorstandsvorsitzenden Winterkorn, war heute eine Menge los in den Produktionsstätten der deutschen Automobil-Industrie, eines der wichtigsten Branchen der deutschen Volkswirtschaft. Denn die IG Metall hatte zu einem bundesweiten Aktionstag gegen Werkverträge aufgerufen. Dazu aus der Berichterstattung beispielsweise Beschäftigte protestieren gegen Werkverträge in der Autoindustrie oder an anderer Stelle  Protesttag gegen Werkverträge. Und was sagt die Gewerkschaft selbst?  Gemeinsam gegen die Billig-Strategie der Arbeitgeber, so hat die IG Metall ihre Pressemitteilung dazu überschrieben: »Mehrere zehntausend Beschäftigte von Automobilherstellern und Zulieferern senden beim bundesweiten Automobil-Aktionstag der IG Metall gegen den Missbrauch von Werkverträgen eine deutliche Botschaft an Arbeitgeber und Politik: Wir lassen uns nicht spalten!« Der IG Metall-Vorsitzende Detlef Wetzen stellte zugleich klar, dass die IG Metall nicht grundsätzlich gegen Werkverträge sei, „sondern gegen die Werkverträge, die ausschließlich dazu genutzt werden, um Löhne zu senken und Arbeitsbedingungen zu verschlechtern.“ Mehr als 150.000 Arbeitsplätze in der Automobilbranche in den Bereichen Industrielogistik, Entwicklungsdienstleistung und Industrieservice seien bereits über Werkverträge ausgelagert.

Und was fordert die Gewerkschaft? Es sind vor allem zwei Punkte, die heute vorgetragen wurden:
Schluss mit der Auslagerung von Tätigkeiten, die zum Kerngeschäft eines Unternehmens gehören und unvermeidbare Auslagerungen nur an Dienstleister mit IG Metall-Tarifen und Betriebsräten. Die letzte Forderung berührt die „erste“ Tariffrage, vor der die Metallgewerkschaft steht. Gerade in der Automobilindustrie hat die IG Metall sehr hohe Organisationsgrade unter den Beschäftigten und entsprechende Einflussmöglichkeiten. Bei vielen Zulieferern und Werkvertragsunternehmen sieht das ganz anders aus, da gibt es oft noch nicht einmal einen Betriebsrat. Mindestens 44 Prozent der beauftragten Werkvertragunternehmen haben keine Tarifverträge, kann man dem Artikel Protesttag gegen Werkverträge entnehmen. Da sind wir schon bei der ersten „Tariffrage“ für die IG Metall. Deren Aktivitäten zum Thema Werkverträge kann und muss man auch als ein Signal an die Werkvertragsunternehmen verstehen, dass auch dort tarifvertragliche Regelungen gelten sollen. Aber es gibt noch ein anderes Problem, das die Gewerkschaft zu adressieren versucht: Ein Drittel der Werkverträge betreffen nach Gewerkschaftswahrnehmung die Produktion und damit den Kernbereich der Autoindustrie.

Bayerns IG Metall-Chef Jürgen Wechsler wird mit diesem Beispiel zitiert:

»Ein besonders dreistes Beispiel für einen Werkvertrag kennt er von BMW am Standort Dingolfing. „BMW hat dort eine Werkshalle leergeräumt und per Werkvertrag den Kontraktlogistiker Schnellecke ins Haus geholt“, sagt er. Der erledige mit 400 Leuten dort, was vorher BMW-Stammpersonal getan habe. Kontraktlogistik ist dabei ein ziemlich irreführender Begriff. Denn in dieser Branche wird weniger transportiert als vielmehr montiert. Im BMW-Beispiel werden angelieferte Teile auf dem Werksgelände zusammengeschraubt und dann an Autos montiert. Vorgesehen sind Werkverträge aber aus Sicht der IG Metall für Tätigkeiten wie das Streichen einer Werkshalle oder allenfalls noch deren Säuberung, nicht aber für die Kernarbeiten eines Unternehmens.«

Da sind wir schon bei einem zentralen Problem angekommen: Der Frage nach der Abgrenzung von „guten“ und „schlechten“ Werkverträgen. Um das an einem Beispiel zu illustrieren: Wenn man etwas anstreichen lassen will in seinem Unternehmen, dann beauftragt man eine Malerfirma und vereinbart einen Preis. Keiner würde auf die Idee kommen, dass das beauftragende Unternehmen Maler vorhalten sollte, um den vielleicht einmal im Jahr oder auch noch weniger oft anfallenden Bedarfen gerecht werden zu können – außer man kombiniert das mit anderen anfallenden Tätigkeiten, die dann von einer Person ausgeübt werden können.

Ganz anders stellt sich die Situation dar, wenn die Werkvertragsunternehmen sukzessive vordringen in den Kernbereich der Produktion, der bislang der Stammbelegschaft vorbehalten ist. Wenn es also bei einem „Logistikunternehmen“ eben nicht nur darum geht, Ware an die Pforten irgendeines Lagers zu fahren, sondern Tätigkeiten innerhalb des beauftragenden Unternehmens auszuüben. Und genau so sieht es in der Automobilindustrie mittlerweile aus, wenn man der Argumentation der Gewerkschaften folgt:

»Kontraktlogistik ist dabei ein ziemlich irreführender Begriff. Denn in dieser Branche wird weniger transportiert als vielmehr montiert. Im BMW-Beispiel werden angelieferte Teile auf dem Werksgelände zusammengeschraubt und dann an Autos montiert. Vorgesehen sind Werkverträge aber aus Sicht der IG Metall für Tätigkeiten wie das Streichen einer Werkshalle oder allenfalls noch deren Säuberung, nicht aber für die Kernarbeiten eines Unternehmens.«

Und das habe erhebliche Folgen für die Beschäftigten in den Werkvertragsunternehmen, wie der Vergleich mit der Stammbelegschaft verdeutlicht:

»Gegenüber dem Stammpersonal bekommen Beschäftigte bei Werkverträgen im Schnitt nur etwa halben Lohn, sagt Wechsler. Beim Beispiel Schnellecke in Dingolfing ist es nach Berechnung der IG Metall noch weniger. Statt tariflich 35 Wochenstunden arbeiten die auf dem BMW-Gelände Beschäftigten 40 Stunden. Sie erhalten nicht einmal halben Grundlohn, drei Tage weniger Urlaub und nur ein Drittel Urlaubsgeld. Höhere Leistungszulagen gleichen das nicht aus.«

Vor diesem Hintergrund ist der Aktionstag der IG Metall zu sehen, der sich einbettet in zahlreiche Aktivitäten dieser und anderer Gewerkschaften gegen „die“ Werkverträge. Und das bisherige Tun der IG Metall war und ist nicht ohne Erfolg.

Es tut sich was am Rand, so hat Jörn Boewe seinen Artikel überschrieben, in dem er über die Entwicklungen rund um Leipzig berichtet. Der Blick auf Leipzig ist deshalb interessant, weil sich hier ein „Automobilcluster“ entwickelt hat:

»Ein paar Kilometer nördlich von Leipzig, auf der grünen Wiese nahe der Autobahn A 14, stehen die modernsten Autofabriken Europas. BMW und Porsche bauen hier seit zehn Jahren Limousinen, Coupés, Cabrios, Geländewagen – alle im »Premiumsegment«. Niemand kann genau sagen, wie viele Menschen hier arbeiten. Der »Automobilcluster« Leipzig, wie der Produktionsstandort im Branchenjargon genannt wird, ist nach einem hochflexiblen Fertigungskonzept organisiert: Man spricht von der „atmenden Fabrik“. Gibt es viel zu tun, pumpt sie sich auf. Ist die Auftragslage mau, schrumpft sie.«

Und gerade hier finden wir auf den ersten Blick die Diagnose der Gewerkschaft bestätigt, dass die Werkvertrags-Beschäftigung immer stärker in die Kernbereiche der Produktion diffundiert:

»18.000 Menschen arbeiten nach Schätzungen der IG Metall in der Leipziger Autoindustrie, doch nicht einmal die Hälfte gehört zu den Stammbelegschaften von BMW und Porsche. Die Mehrheit sind Leiharbeiter oder bei Werkvertragsunternehmen beschäftigt, die als sogenannte produktionsnahe Dienstleister für die großen Hersteller tätig sind. Sie montieren Einzelteile und Komponenten und bringen sie „just in sequence“, in genau abgestimmter Reihenfolge, direkt an die Produktionsfließbänder von BMW und Porsche. Die Tätigkeiten sind unmittelbarer Teil der Produktion, von der sie nicht zu trennen sind.«

Die IG Metall hat nun einen Sozialreport Automobilcluster Leipzig veröffentlicht und sich die Situation der Beschäftigten genauer angeschaut. Ein Ergebnis: Fast 30 Prozent der Befragten verdienen inklusive aller Zuschläge weniger als 1.750 Euro brutto. Fast 44 Prozent sagen, ihnen fehle das Geld für Urlaub. Dabei arbeiten 90 Prozent auch an Wochenenden und Feiertagen. Das ist auch eine Folge der Tatsache, dass die Automobilindustrie den Standort Leipzig zu einem Labor für Produktions- und Arbeitszeitkonzepte gemacht habe. Dem allerdings hat sich die IG Metall gestellt. „Die harten Tarifauseinandersetzungen bei Schnellecke, Rudolph Logistik und der WISAG waren Meilensteine zu einem tariflichen Ordnungsrahmen. Lange Zeit waren die Arbeitsbedingungen bei den Kontraktlogistikern und Industriedienstleistern ungeregelt. Die Beschäftigten haben in diesen Konflikten erfahren, dass sie nicht per se prekäre Hilfskräfte an der letzten »verlängerten Werkbank« sind, sondern genauso Teil des Gesamtprozesses wie ihre Kolleginnen und Kollegen der Stammbelegschaften an den Endmontagebändern von BMW und Porsche“, so wird der IG Metall-Bezirksleiter Olivier Höbel zitiert. (Der ganze Report als PDF-Datei: IG Metall: Sozialreport Automobilcluster Leipzig. Zur Lage der Beschäftigten bei industriellen Dienstleistern. Wege zu einem gemeinsamen tariflichen Ordnungsrahmen. Frankfurt 2015).

Von den schrittweise Erfolgen der Gewerkschaft berichtet auch Jörn Boewe in seinem Artikel:

»Der Report zeigt aber auch, dass es etwa seit fünf, sechs Jahren eine Verbesserung der Situation gibt. Das Wiederanziehen der Konjunktur nach der Krise von 2008/2009 spielt dabei eine Rolle, aber auch eine veränderte Herangehensweise der Gewerkschaft. 2008 hatte sie eine großangelegte Kampagne zur Gleichstellung der Leiharbeiter gestartet und damit erstmals die »Arbeit am Rand« in den Blick genommen. In Leipzig suchten Gewerkschaftssekretäre Kontakt zu den Beschäftigten der zahlreichen Industriedienstleister und unterstützten die Wahl von Betriebsräten und Tarifkommissionen.

2010 konnte die IG Metall beim weltweit agierenden Autozulieferer Schnellecke einen Haustarifvertrag durchsetzen, was den Kollegen im Schnitt 400 Euro mehr pro Monat bedeutete. Der Durchbruch folgte zwei Jahre später beim Industrielogistiker Rudolph. Hier beteiligten sich die Beschäftigten sogar fünfmal an Warnstreiks. Weitere Tarifabschlüsse in anderen Firmen folgten. Auf diese Weise konnten Einkommenserhöhungen und kürzere Arbeitszeiten für insgesamt rund 2.400 Arbeiter durchgesetzt werden.«

Was man hier erkennen kann ist die mühsame, aber offensichtlich sukzessiv auch durchaus erfolgreiche Bearbeitung der einen Tariffrage: Wenn der Druck auf die Stammbelegschaften durch die immer stärkere Ausbreitung der Werkverträge in den Kernbereich hinein steigt, dann muss man eben die eigene Tarifpolitik auf diese vor- und nachgelagerten Bereiche ausdehnen, um das tarifpolitisch wieder in Griff zu bekommen.

Genau hier aber tut sich eine zweite Tariffrage auf. Gemeint ist die Tatsache, dass viele der Werkvertragsunternehmen der Logistik-Branche zugeordnet sind und hier gilt die Zuständigkeit einer anderen Gewerkschaft – von Verdi. Und da gibt es zunehmend Konflikte, denn die IG Metall muss immer stärker diese Zuständigkeitsgrenze überschreiten, um die ganze Wertschöpfungskette wieder unter ihr Dach zu bekommen. Das führt zu handfesten Konflikten – vgl. dazu den Beitrag Wenn unterschiedlich starke Arme eigentlich das Gleiche wollen und sich in die Haare kriegen: „Tarifeinheit“ aus einer anderen Perspektive vom 3. September 2014.

Es gibt also gute Gründe, „die“ Werkverträge zu einem Thema zu machen – allerdings sollen die Anführungszeichen verdeutlichen, dass es eben eine enorme Heterogenität der Werkverträge gibt und nicht alle können und dürfen unter dem Label „Lohndumping“ subsumiert werden. Hinzu kommt: Die Ambivalenz vieler Betriebsräte erklärt sich aus der Tatsache, dass natürlich in gewissem Maße ein Teil der schlechteren Bedingungen bei den Werkvertrags-Beschäftigten die besseren Bedingungen der Stammbeschäftigten stabilisiert. Insofern könnte am Ende des Prozesses das Ergebnis stehen, dass die IG Metall die an solchen Aktionstagen natürlich grundsätzlich beklagte Auffächerung der Tarifstruktur nach unten (aus der Perspektive des Niveaus der heutigen Stammbelegschaft) in geordneten Bahnen mitgehen wird (so meine These in dem Beitrag Outsourcing mit Folgen: Werkverträge im Visier. Die IG Metall versucht, den Druck auf die Bundesregierung zu erhöhen vom 1. September 2015).

Von der nun anstehenden gesetzlichen Neuregelung der Werkverträge – auch wenn sich der Aktionstag hier ausdrücklich an Berlin gerichtet hat – werden sich die Gewerkschaften außer einem Informationsrecht für Betriebsräte nicht viel erwarten dürfen. Das von ihrer Seite aus geforderte Mitbestimmungsrecht der Betriebsräte wird es nicht geben. Dazu ist der Widerstand der Arbeitgeber an dieser Stelle viel zu groß und die politischen Handlungsspielräume der Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) innerhalb der Großen Koalition sind zu klein bzw. gar nicht mehr vorhanden, was weitere Regulierungen angeht. Die Formulierung im Koalitionsvertrag spricht nur von Informations-, nicht aber von Mitbestimmungsrechten, so dass sich die Union hier auch nicht weiter wird bewegen müssen.

Die Branche der Arbeitnehmer unter Druck setzenden Betriebsrats- und Gewerkschaftsbekämpfungssanwälte wird selbst unter Druck gesetzt

Am 20. Juli 2015 hat die ARD eine Dokumentation zum Thema Mobbing, Sabotage, Kündigung – Betriebsräte im Visier der Arbeitgeber ausgestrahlt. Darin wurden  – anhand konkreter Einzelfälle – die sich ausbreitenden Praktiken einer Bekämpfung von Betriebsräten bzw. oftmals schon im Vorfeld der versuchten Gründung eines Betriebsrates kritisch beleuchtet.

„Die Unternehmer haben sich einen Raum geschaffen, in dem sie sanktions- und straflos agieren können“, konstatiert Werner Rügemer, Autor einer jüngst veröffentlichten Studie zum Thema. Und diese Studie zeigt: Angriffe auf Betriebsräte sind keine Einzelfälle, sondern ein längst praktiziertes System. Eine ganze Branche professioneller Dienstleister aus PR-Agenturen, Wirtschaftsdetekteien und Anwaltskanzleien ist entstanden, um gegen Betriebsräte vorzugehen, oder sie aus dem Unternehmen zu drängen.

Das Betriebsverfassungsgesetz gibt es seit 1952. Exakt wird hier festgelegt, wann und wie das Recht auf einen frei gewählten Betriebsrat besteht. Doch das Gesetz ist häufig nicht das Papier wert, auf dem es gedruckt ist. „Also nach unserer Erfahrung ist es so, dass dieser Straftatbestand der Be- und Verhinderung von Betriebsräten der Straftatbestand in der Bundesrepublik Deutschland ist, der am allerwenigsten überhaupt verfolgt wird“, so Werner Rügemer.

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