Es ist unabweisbar: In der Flüchtlingsfrage herrscht ein großes Durcheinander. Das fängt an bei dem zumeist wenig hilfreichen monothematischen Dauerrauschen in den Talkshows im Fernsehen, geht über die Tatsache, dass es offensichtlich derzeit nicht möglich ist, zu sagen, wie viele und welche Menschen sich wo überhaupt in Deutschland aufhalten und geht bis hin zu der Tatsache, dass Akteure der Bundesregierung – allen voran der Bundesinnenminister – eine Überforderungs- und Wir-sollten-jetzt-das-tun-ohne-das-vorher-abzustimmen-Kakophonie erzeugen, die sicherlich nicht dazu beiträgt, dass denjenigen, die Zweifel und Ablehnung unter den Menschen verbreiten wollen, der Nachschub auszugehen droht. Im fatalen Zusammenspiel der unterschiedlichen Ebenen kann das dazu beitragen, dass das Klima deutlich rauer wird und genau das ist ja auch zu beobachten. Jede weitere Nachricht mit Chaos-Potenzial verstärkt unweigerlich diese Tendenzen. Aber das kann und darf natürlich nicht heißen, dass man deswegen real existierende Probleme totzuschweigen versucht, nur weil sie sich als ein weiterer Baustein auf dem skizzierten Weg erweisen könnten. In diesem Kontext muss ein offener Brief gesehen und bewertet werden, der von Mitarbeitern des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) an die Leitung der Behörde geschickt wurde.
In einem Brandbrief kritisieren Mitarbeiter die Zustände beim Bundesamt für Flüchtlinge. Praktikanten sollen dort über menschliche Schicksale entscheiden, die Identität von Flüchtlingen wird offenbar kaum mehr geprüft, so der Artikel Wenn der Praktikant über Asylanträge entscheidet. »Die Hauptkritikpunkte: Der Verzicht auf eine Identitätsprüfung bei vielen Flüchtlingen sei mit rechtsstaatlichen Prinzipien nicht mehr vereinbar … Dazu kommen eine viel zu schnelle Ausbildung der neuen Entscheider – Praktikanten entschieden inzwischen nach nur wenigen Tagen über menschliche Schicksale. Viel schwerer können Vorwürfe in einer Behörde kaum wiegen. Die Personalvertretung findet deutliche Worte in dem Brief … Die beschleunigten schriftlichen Asylverfahren bei Syrern, Eritreern, manchen Irakern und Antragstellern vom Balkan wiesen „systemische Mängel“ auf«, so der Artikel Mitarbeiter kritisieren Asylpraxis.
Die Identität der Menschen werde inzwischen faktisch nicht mehr geprüft. Das führe dazu, dass „ein hoher Anteil von Asylsuchenden“ inzwischen eine falsche Identität angebe, um in Deutschland bleiben zu können und auch die Familie nachholen zu können. Aus der Perspektive halbwegs ordentlicher Verwaltungsabläufe ist die vorgetragene Beschreibung der Situation gravierend:
»Um in Deutschland als syrischer Flüchtling geführt zu werden, reiche es aus, in einem schriftlichen Fragebogen an der richtigen Stelle ein Kreuzchen zu machen. Dies müsse nur noch ein Dolmetscher bestätigen.
Doch diese seien in der Regel nicht auf die deutsche Rechtsordnung vereidigt und meist kämen sie nicht einmal aus Syrien – daher könnten sie auch keine syrischen Dialekte unterscheiden, wie das Bundesamt dies vorgebe. De facto werde diesen Dolmetschern alleine die Prüfung des Asylgesuchs überlassen, kritisieren die BAMF-Mitarbeiter – ohne, dass der Asylbewerber jemals ein Pass vorgelegt habe oder von einem BAMF-Entscheider angehört worden sei. In der Akte sei dann nur ein zweizeiliger Vermerk darüber enthalten, dass keine Hinweise vorliegen, dass es sich bei dem Antragsteller nicht um einen Syrer handelt.«
Die Verfasser des offenen Briefs an den Behörden-Leiter Frank-Jürgen Weise argumentieren auf dem Boden rechtsstaatlicher Grundkomponenten: Selbst bei Vorlage eines Personaldokuments ist eine Echtheitsprüfung zwingend geboten. Doch die Warnung, dass es in Beirut regelrechte Dienstleister gebe, die Antragspakete mit gefälschten Zeugnissen und Diplomen verkauften, werde missachtet und die Entscheider seien angehalten, den Flüchtlingsstatus ohne Echtheitsprüfung zuzuerkennen.
Ein weiterer Kritikpunkt wiegt zum einen schwer, zum anderen verweist er auf vorgängige Erfahrungen, die wir in der Vergangenheit in einem anderen Feld, der Betreuung von Grundsicherungsempfängern in den Jobcentern, auch haben machen müssen: Die „Schulung“ neuer Mitarbeiter nach dem „Schnelle-Brüter-Verfahren“. Und da kennt sich der Herr Weise, weiterhin auch Chef der Bundesagentur für Arbeit, sehr gut aus.
»Ein … Kritikpunkt ist die Einarbeitung neuer Entscheider im „Hau-Ruck-Verfahren“: Kollegen der Bundesagentur für Arbeit, Praktikanten und abgeordnete Mitarbeiter anderer Behörden würden „nach nur einer drei- bis achttägigen Einarbeitung als „Entscheider“ eingesetzt und angehalten, massenhaft Bescheide zu erstellen“.
Offiziell gibt das BAMF die Einarbeitungszeit für Entscheider mit sechs Wochen an. Vor kurzem war die Einarbeitungszeit noch um ein Vielfaches länger. „Bevor die neuen Entscheider überhaupt die erste Anhörung alleine machen, haben sie eine Ausbildung von drei bis vier Monaten hinter sich“, betonte Weises Vorgänger Manfred Schmidt stets. Und dann würden sie noch nicht über komplizierte Fälle entscheiden.«
Das sind wirklich schwere Vorwürfe und sie bedürfen der schnellsten Überprüfung. Die Behörde selbst hat eine andere Sicht auf die Dinge:
»Das Bundesamt wies die Vorwürfe in dem Brief zurück. Die Identität der Antragsteller werde sehr wohl geprüft: Von allen Antragstellern würden Fotos gemacht und Fingerabdrücke genommen und die Daten unter anderem mit dem Bundeskriminalamt abgeglichen. Alle Honorardolmetscher würden zudem einer Sicherheitsüberprüfung unterzogen und ihre Qualifikation geprüft.
Die dreitägigen Schulungen hätten ausschließlich Kollegen betroffen, die früher viele Jahre als Entscheider im Einsatz gewesen seien und lediglich einer kurzen Auffrischung bedurft hätte.«
Hier muss Klarheit geschaffen werden, was denn nun stimmt.
Als wenn das alles nicht schon genug Problemhinweise sind, legt der Bundesinnenminister offensichtlich noch eine Schippe drauf: „Amt für Migration wird lahmgelegt“, so haben Karl Doemens und Daniela Vates ihren Artikel überschrieben: »Mit seinem Vorstoß, das Dublin-Verfahren wieder auf syrische Flüchtlinge anzuwenden, halst Thomas de Maizière dem überlasteten Bundesamt für Migration und Flüchtlinge noch mehr Arbeit auf.« Er hat gehandelt ohne sich in der Koalition abzustimmen, wieder einmal. Das bedeutet: Syrische Flüchtlinge könnten wieder in das Erstaufnahmeland zurückgeschickt werden – auf Weisung des Innenministeriums. Weder die Bundeskanzlerin noch Kanzleramtschef Altmaier waren über die umstrittene Änderung informiert. Entsprechend stellt Robert Roßmann seinen Bericht dazu unter die Überschrift De Maizière düpiert Merkel.
Zum Sachverhalt: Im August hatte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) mitgeteilt, dass es Syrer nicht mehr nach dem Dublin-Verfahren behandeln werde. Diese Ankündigung gilt als einer der Gründe für den Anstieg der Flüchtlingszahlen in Deutschland. Nach dem Dublin-Abkommen ist für das Asylverfahren eines Flüchtlings der EU-Staat zuständig, in dem der Schutzsuchende zuerst registriert wurde. Reist ein Flüchtling weiter, kann er in das Erstaufnahmeland zurückgeschickt werden. Bei der Aussetzung im August hatte sich das BAMF auf das „Selbsteintrittsrecht“ berufen, das im Dublin-Abkommen vorgesehen ist. Demnach kann ein Staat freiwillig Flüchtlinge aufnehmen, obwohl diese nach den Dublin-Regeln eigentlich in das Erstaufnahmeland zurückgebracht werden müssten. Seit dem 21. Oktober werde das im August ausgesetzte Dublin-Verfahren wieder auf syrische Flüchtlinge angewandt, teilte das Innenministerium am Montagabend mit. Nicht von sich aus, sondern auf Nachfrage von Journalisten.
Mit der Rückkehr zum „normalen“ Dublin-Verfahren verbunden sind Einzelfallprüfungen. Und das in einer Situation, in der – wie hier beschrieben – offensichtlich noch nicht einmal eine halbwegs normale Identitätsprüfung vollzogen wird bzw. werden kann.
Die parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Fraktion, Christine Lambrecht, wird mit dem Begriff „Phantomdiskussion“ zitiert: »Seit der neuen Anordnung de Maizières seien insgesamt gerade vier Flüchtlinge in ein anderes EU-Land zurückgeschickt worden.«
Das Bundesinnenministerium begründet die Kehrtwende damit, zumindest die „verfahrenstechnischen Gründe“ – also die Überlastung des BAMF – hätten sich geändert. Deswegen könne man zum alten Recht zurückkehren. Das ist nicht nur vor dem Hintergrund des offenen Briefs eine steile These. Man muss sich einmal verdeutlichen, über welche Dimensionen wir hier sprechen: Frank-Jürgen Weise sprach in den Sitzungen der Bundestagsfraktionen der Großen Koalition von einer Million unerledigter Anträge bis Ende des Jahres. »Mehrere SPD-Abgeordnete berichteten, auch Weise habe sich in der Fraktion von der Dublin-Entscheidung überrascht gegeben«, so Doemens und Vates in ihrem Artikel.
Die derzeitige Praxis, um wieder zurückzukommen auf die Vorwürfe, wie sie in dem offenen Brief aus dem BAMF vorgetragen werden, muss mit Blick auf die Zukunft auch noch hinsichtlich einer weiteren Baustelle kritisch gesehen werden:
»Aus Behördenkreisen heißt es …, die derzeitige Praxis der schnellen Stempel habe … noch weiter reichende Folgen: Die Vielzahl von „handwerklich schlecht gemachten Entscheidungen“ werde im nächsten Schritt auch die Verwaltungsgerichte nahezu lahmlegen.«