Aus der Welt der Dumpingpreise und -löhne: Ryanair bekommt vom Europäischen Gerichtshof einen Schuss vor den Bug, was das Arbeitsrecht angeht

Der „Low-Cost-Carrier“, anders ausgedrückt: der Billigflieger Ryanair, wird in diesem Jahr gut 120 Mio. Passagiere befördern. Wir sprechen von einer echten Erfolgsgeschichte des Flugverkehrs, obgleich die Leistungen dieses Unternehmens für seine Passagiere auf ein Minimum begrenzt sind. Vielleicht aber auch deshalb, definiert sich Ryanair doch vor allem über den Preis. Einen möglichst niedrigen Preis. Das kommt an, gerade in Deutschland, wo man Fleisch und Flugreisen immer gerne zu absoluten Schnäppchen-Preisen haben möchte. Bei der erkennbaren Expansion in so einem angenehmen Umfeld möchte der Billigflieger natürlich nicht gestört werden.

Was auf der anderen Seite gar nicht so einfach ist, wenn man bedenkt, dass das Unternehmen und sein Geschäftsmodell vor allem darauf basiert, die Kosten zu „reduzieren“ – dann nicht, wenn ein Kostenfaktor durch rechtliche Regelungen „verteuert“ wird für die Billigheimer aus Irland. Und zu den Kostenstellen des Unternehmens gehören natürlich auch die Mitarbeiter – und da hat Ryanair enorme Potenziale der Kostensenkungsstrategien zum Leben erweckt. Und die werden nun erschwert, wenn man sich eine neue Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) anschaut. Als die bekannt wurde, ging der Aktienkurs von Ryanair um mehrere Prozentpunkte nach unten – immer ein guter Indikator, dass das Urteil mit Blick auf das Geschäftsmodell von Ryanair kritisch gesehen wird. Analysten rechnen mit Kostensteigerungen. 

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Jetzt doch morgens jagen und abends Viehzucht betreiben? Die Debatte über ein bedingungslose Grundeinkommen 150 Jahre nach der Zangengeburt des ersten Bandes des „Kapital“

Gerade in diesen Tagen geht ein Karl Marx-Rauschen durch die Medien, wie so oft angeregt durch ein Jubiläum: Das „Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel“ meldet am 14.09.1867 das Erscheinen des „Kapitals“ in 1.000 Exemplaren.

Der Deutschlandfunk hat im Vorfeld eine sechsteilige Serie mit ganz unterschiedlichen Autoren über „Das Kapital“ ausgestrahlt, mit tieferen Einsichten und Meinungen zu diesem historischen Werk. Bezeichnend für diese Tage ist auch so eine Diskussionssendung des SWR: Der Mehrwert von „Das Kapital“: Wie aktuell sind die Thesen von Karl Marx?

Auch die Wirtschaftsblätter lassen sich da nicht lumpen: 800 Seiten, die die Welt veränderten, so hat Nikolaus Piper seinen Artikel überschrieben. Der Philosoph Christoph Henning meldet sich in der Neuen Zürcher Zeitung mit diesem Beitrag zu Wort: «Das Kapital» ist ein Klassiker mit trauriger Aktualität. Und selbst in der WirtschaftsWoche wird man mit so einer den einen oder anderen Leser dieser Zeitschrift sicher irritierenden Headline:  Leute, lest Karl Marx! So ist eine „Hommage“ von Dieter Schnaas überschrieben: »Als Prophet ein Versager, als Soziologe ein Riese«, so lautet die Kurzformel seines Blicks auf den Mann aus Trier. Als Prophet ein Versager? Das mag so sein, wenn man sich den Gang der Dinge anschaut, aber der eine oder andere würde zum Ausdruck bringen, dass das doch sehr schade wäre, wenn man sich an so eine Ausmalung der ferneren Zukunft erinnert: Die Gesellschaft werde es dem einzelnen Menschen ermöglichen, „heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, mittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirte oder Kritiker zu werden“.

Zuweilen ist es interessant, sich das Originalzitat genauer anzuschauen, in diesem Fall findet man einen interessanten Hinweis, der erschließen kann, warum der alte Marx hier im Kontext der Debatte über ein bedingungsloses Grundeinkommen angeführt wird:

»Sowie nämlich die Arbeit verteilt zu werden anfängt, hat Jeder einen bestimmten ausschließlichen Kreis der Tätigkeit, der ihm aufgedrängt wird, aus dem er nicht heraus kann; er ist Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker und muss es bleiben, wenn er nicht die Mittel zum Leben verlieren will – während in der kommunistischen Gesellschaft, wo Jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden.« So zu finden in Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, S. 33, 1846/1932

Er spricht hier neben der Vision eines anderen Lebens den Tatbestand der auch heute gegebenen gesellschaftlichen Arbeitsteilung an, der zu Tätigkeiten führt, die man ausschließlich ausübt bzw. ausüben muss, in die man teilweise hineingedrängt wurde und aus die man auch nicht mehr herauskommt, weil man auf den Verkauf der eigenen Arbeitskraft angewiesen ist, weil man eben nicht über andere Quellen des Einkommens verfügt, die einem etwas anderes überhaupt ermöglichen können.

Und die Ermöglichung eines solchen Lebens ist sicher eines der attraktivsten Argumente der Apologeten eines bedingungslosen Grundeinkommens, in dem darüber die Menschen aus dem unmittelbaren Zwang, die eigene Arbeitskraft und das nicht selten bedingungslos zu Markte tragen zu müssen, herausgenommen werden sollen.

Selbst wenn man das aus welchen Gründen auch immer für idealistische und weltfremde Spinnerei hält – hier liegt sicher eine visionäre Kraftquelle für das im übrigen überaus heterogene Lager der Befürworter eines bedingungslosen Grundeinkommens (vgl. auch schon die Beiträge Zwischen Heilserwartung und sozialpolitischen Widerständen. Einige Anmerkungen zum bedingungslosen Grundeinkommen vom 14. Februar 2017 sowie Mit dem Herz dafür, aber mit dem Kopf dagegen? Oder mit dem Verstand dafür, aber ohne Herz? Das „bedingungslose Grundeinkommen“ ist (nicht) krachend gescheitert vom 7. Juni 2016).

Das Thema wird in der aktuellen Medienberichterstattung immer wieder aufgegriffen. Die Sendereihe ZDFzoom hat das in einem neuen Beitrag zu verarbeiteten versucht: Grundeinkommen für alle – Fair oder ungerecht? »Brauchen wir das „Bedingungslose Grundeinkommen“ für alle? Wäre das fair oder ungerecht? Würde es die Menschen anspornen zu arbeiten oder eher dafür sorgen, in der Hängematte zu bleiben?« So die Fragestellung der Filmemacher.

»Das deutsche Sozialsystem ist seit der Einführung der Hartz-IV-Reformen 2005 zu einem gigantischen Verwaltungs- und Kontrollapparat geworden, der große Summen verschlingt. Demografischer Wandel und die zunehmende Automatisierung und Digitalisierung der Arbeitswelt bringen neue Herausforderungen mit sich. Experten bezweifeln, dass der Sozialstaat in seiner jetzigen Form den Belastungen der Zukunft gewachsen ist. Manche halten das „Bedingungslose Grundeinkommen“ (BGE) für die Lösung.

Die „ZDFzoom“ Reporter Ulrike Brödermann und Halim Hosny sprechen mit Befürwortern und Gegnern aus der Wissenschaft und zeigen Menschen in Deutschland, die probeweise ein „Bedingungsloses Grundeinkommen“ beziehen und wie sich ihr Leben seitdem verändert hat. Sie besuchen auch Familien, die von Hartz IV leben. Der alleinerziehende Vater Perry, der mit seinen drei Kindern in Leipzig lebt, erzählt von seinen Erfahrungen bei der Arbeitssuche, mit dem Jobcenter und dem bürokratischen Hürdenlauf.

Die Autoren fahren nach Finnland, wo in einer Testphase 2000 Menschen ein „Bedingungsloses Grundeinkommen“ bekommen und sprechen mit den Beziehern und der Regierung über erste Erfahrungen.

Für die einen wäre die Einführung eines „Bedingungslosen Grundeinkommens“ die Antwort auf die Krise des deutschen Sozialstaats, für die anderen der Anfang vom Ende der Solidargemeinschaft.«
Selbst die BILD-Zeitung hat das Thema in einem längeren Artikel – Wie gerecht ist das Grundeinkommen?–  über die ZDF-Doku aufgegriffen.

Während die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens bei einer bunten Gruppe, die den heutigen Zwängen schlecht bezahlter, unsicherer Erwerbsarbeit (gerade im Bereich der sogenannten Kreativwirtschaft) ausgeliefert ist oder die unter dem teilweise kafkaesk daherkommenden, von vielen als entwürdigend empfundenen Regime der eben nicht-bedingungslosen Grundsicherung mit ihren Sanktionen und ihrem auf Dauer gestellten Mangelstatus zu leiden haben, auf große Sympathie stößt, weil man sich davon eine im wahrsten Sinne des Wortes Befreiung verspricht, wird ein gewichtiger Teil der aktuelleren Debatte über das bedingungslose Grundeinkommen aus einer spezifisch ökonomischen Perspektive geführt – manche würde das auch als eine ökonomistische Verengung charakterisieren. Wie dem auch sei, diese „ökonomische Aufladung“ des Themas hat dem bedingungslosen Grundeinkommen (scheinbar) neue Unterstützer von großer gesellschaftlicher Bedeutung erschlossen – denn immer öfter wird berichtet, dass sich namhafte Vertreter der Kapitalseite, neuerdings besonders prominent Vertreter der Tech-Unternehmen aus dem Silicon Valley ein solches Instrument vorstellen können, ja sogar für absolut notwendig halten angesichts der beobachtbaren und erwartbaren gesellschaftlichen Entwicklung.

Das überall herumgetragene Stichwort dazu lautet: Digitalisierung. Das, was man damit verbindet und zu verbinden scheint, führe unausweichlich dazu, dass man sich dem Ansatz eines Grundeinkommens nicht verweigern kann.

Als ein Beispiel von vielen aus dieser Diskussionslinie sei auf den Artikel Ist das Grundeinkommen die Antwort auf den digitalen Arbeitsmarkt? von Philipp Depiereux verwiesen. Das immer mitlaufende Motiv bei dieser Diskussionslinie ist die (übrigens gerade unter Ökonomen heftig umstrittene) These, dass „uns“ diesmal aber wirklich ein nennenswerter Anteil der (Erwerbs-)Arbeit ausgehen wird, mithin die traditionelle Form der Existenzsicherung für die große Mehrheit der Menschen, die auf den marktüblichen Verkauf ihrer Arbeitskraft existenziell angewiesen sind, wegzubrechen droht.

Eine Möglichkeit, diese Unwucht abzufangen, sei das bedingungslose Grundeinkommen – »ein sicherlich überlegenswerter Lösungsansatz, mit dem wir uns in Deutschland intensiv auseinandersetzen sollten«, so der Verfasser des Artikels.

Angesichts neuerer Veröffentlichungen zu diesem Thema hier nur abschließend der Hinweis auf eine zentrale Frage, die immer wieder nicht nur von den Gegnern, sondern auch von grundsätzlich mit dem Ansatz sympathisierenden Diskussionsteilnehmern aufgerufen wird. Wie soll das finanziert werden? Kann das überhaupt gelingen?

Da stößt man dann beispielsweise auf so einen Beitrag: Bedingungsloses Grundeinkommen: US-Wirtschaft könnte deutlich wachsen, versehen mit dem Hinweis: Überraschung.

»In einer Studie des Roosevelt Institutes kommt ein Team von Wirtschaftswissenschaftlern zum Schluss, dass die Implementierung eines bedingungslosen Grundeinkommens für alle erwachsenen Amerikaner in Höhe von 1.000 Dollar monatlich zu einem extra Wirtschaftswachstum von 12,56 Prozent innerhalb der nächsten acht Jahre führen könnte.«

Offensichtlich handelt es sich um diese Studie: Michalis Nikiforos, Marshall Steinbaum and Gennaro Zezza (2017): Modeling the Macroenomic Effects of a Universal Basic Income, Roosevelt Institute, August 2017

In dem Artikel kommt dann aber ein weiterer Hinweis, den man nicht überlesen sollte angesichts der sehr positiv daherkommenden Botschaft der ersten Zeilen: »Vorausgesetzt es wird durch eine Erhöhung der Staatsschulden finanziert.«

»Denn wenn das gleiche Sozialprogramm durch eine Erhöhung von umverteilenden Steuern finanziert wird, würde das Bruttoinlandsprodukt lediglich um zusätzlich 2,62 Prozent innerhalb von acht Jahren steigen, so die Studie. Jedoch würde es dann auch zu einem Abbau der US-Staatsschulden von 1,39 Prozent kommen. Beide Szenarien haben dabei einen positiven Einfluss auf die Arbeitslosigkeit.«

Wie kommen die zu so einem positiven Ergebnis? Letztendlich stützen sich die Ökonomen bei ihren Berechnungen auf das Konzept der „marginalen Konsumquote“. Danach werden Geringverdiener verglichen mit Besserverdienern mit einer höheren Wahrscheinlichkeit zusätzliches Einkommen ausgeben. Deshalb würde ein bedingungsloses Grundeinkommen zu einer Erhöhung der sich im Umlauf befindenden Geldmenge führen.

Auch aus Deutschland kann zu diesem Themenfeld eine neue Arbeit beigesteuert werden: Makroökonomische Effekte eines bedingungslosen Grundeinkommens, so ist der Beitrag von Thieß Petersen, der bei der Bertelsmann-Stiftung arbeitet, im „Wirtschaftsdienst“ (Heft 9/2017) überschrieben:

»Über das bedingungslose Grundeinkommen wird schon seit langem diskutiert. Zwar gibt es Modellversuche, aber in einer gesamten Volkswirtschaft wurde es bisher noch nicht eingeführt. Interessant ist, wie sich dieses Konzept auf die wichtigen gesamtwirtschaftlichen Faktoren wie den Lohn, den Arbeits- und Kapitaleinsatz, die Produktivität, die Inflation, das Wachstum und die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes auswirkt. Der Autor stellt Überlegungen zu den möglichen Zusammenhängen und Wirkungen an. Er kommt aber angesichts der Unsicherheiten und Gefahren zu dem Ergebnis, dass die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens ein großes ökonomisches Wagnis wäre«, so die einleitenden Anmerkungen der Redaktion.

Weitere Hinweise zur Argumentation von Petersen finden wir in diesem Blog-Beitrag: Bedingungsloses Grundeinkommen: Wie wirkt es auf die gesamte Volkswirtschaft? Petersen konzentriert sich bei seiner Analyse der gesamtwirtschaftlichen Effekte auf drei Aspekte dieses Einkommens, nämlich: seine Unbedingtheit, seine Höhe und seine Finanzierung. Und ist mit einem Haufen erwartbarer Unsicherheit konfrontiert, die vor allem aus nicht eindeutig vorrausehbaren Reaktionen von Bürgern und Unternehmen bezüglich ihres Arbeitsangebotes oder ihrer Arbeitsnachfrage resultiert.

Vor diesem Hintergrund überrascht es dann nicht, wenn Petersen zu dem Ergebnis kommt, »bei der Einschätzung der Effekte (sei) eine Menge Spekulation im Spiel. „Angesichts dieser großen Unsicherheit über die Reaktion des Arbeits- und Kapitalangebots sind keine eindeutigen Aussagen über die makroökonomischen Konsequenzen eines BGE möglich“, schreibt Petersen. Problematisch seien dabei insbesondere die Verhaltensänderungen der privaten Haushalte und Unternehmen. „Deren Reaktionen ’sind bei großen strukturellen Veränderungen schwer vorauszusehen’“. Von daher “ wäre die flächendeckende Einführung eines BGE ein großes ökonomisches Wagnis.“
Irgendwie unbefriedigend, werden viele an dieser Stelle denken und das man das auch ohne Berechnungen hätte festhalten können.

In Vorahnung dieser Frustration wird dann noch dieser Happen in die Menge geworfen:

»Ließe sich das ökonomische Risiko reduzieren? Man könnte ein BGE auf niedrigem Niveau einführen, was aber bedeutet, dass „die wesentlichen Vorteile eines BGE nicht zum Tragen“ kämen. Oder man wartet, bis die Kapitalintensität der Produktion hinreichend hoch ist.«

Es sieht so aus, dass wird uns noch länger gedulden müssen, bis »die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun.« Das wäre ja auch Kommunismus – und ob Apple, Google & Co. das wirklich anstreben?

Aber gut, wenn das Thema weiter in der öffentlichen und wissenschaftlichen Debatte vorangetrieben wird. Denn auch „im Kleinen“ (in dem allerdings bei uns mehr als sechs Millionen Menschen von den dort ausgedeichten – oder eben nicht – Leistungen abhängig sind) stellt sich ganz handfest eine Frage, die den Kernbereich des bedingungslosen Grundeinkommens berührt: Gemeint ist hier neben der Frage nach der Höhe der Grundsicherung vor allem das noch in diesem Jahr zur Entscheidung beim Bundesverfassungsgericht anstehende Verfahren der Sanktionierung von Hartz IV-Empfängern, über das derzeit das an sich unbedingte Grundrecht der Gewährung eines Existenzminimums bis auf Null abgesenkt werden kann. Die Grundfrage auch bei den höchst umstrittenen Sanktionen im SGB II ist die Frage nach der Nicht-Bedingungslosigkeit des gewährten Existenzminimums und dem Einwand, dass man ein eigentlich unbedingtes Grundrecht auf ein Existenzminimum nicht auch noch absenken darf. Wir werden sehen, wie Karlsruhe entscheidet in dieser Angelegenheit.

Aber die Vision eines „bedingungslosen Grundeinkommens“ reicht deutlich über diese Frage hinaus, deshalb die Verknüpfung mit der Vision von Karl Marx – denn hier geht es um die Ermöglichung eines ganz anderen Lebens, nicht „nur“ um die Frage einer aus finanziellen und disziplinarischen Motiven möglichst niedrig zu haltenden Grundsicherung, deren Inanspruchnahme dann auch noch mit zahlreichen, voraussetzungsvollen Restriktionen gespickt ist.

An dieser Scheidelinie ist auch eine große und nicht zu unterschätzende Gefahr zu identifizieren, gerade wenn man dem grundlegenden Ansatz eines bedingungslosen Grundeinkommens positiv gegenübersteht: Das am Ende eines wie immer widersprüchlichen und kontroversen politischen Prozesses eine Grundeinkommenslösung herauskommt, bei der man sich auf eine sehr niedriges bedingungsloses Grundeinkommen verständigt, das dann auch Hartz IV (und andere Leistungen?) ersetzt, zugleich aber die Kürzung höhenwertiger Sozialleistungen ermöglicht, und das alles immer begleitet von der Ansage, man gewähre ja eine „unkomplizierte“ Basissicherung. Der schon seit längerem beobachtbare Trend, die „da unten“ sich selbst zu überlassen, bekäme dann sogar noch eine „philosophisch“ aufgehübschte Legitimationsfolie verpasst.

Foto: © Stefan Sell

Wohnverhältnisse in den deutschen Großstädten: Hohe Mieten bringen kleine Einkommen an den Rand der Armut und darüber hinaus

In Deutschlands Großstädten rutschen viele Menschen durch hohe Mieten in die Armut oder haben nur noch extrem wenig Geld zum Leben. Dort müssen bereits gut eine Million Haushalte mit 1,6 Millionen Bewohnern mehr als die Hälfte des Einkommens für die Kaltmiete ausgeben. Etwa 1,3 Millionen Haushalte können nach Abzug der Mietzahlung nur noch über ein Resteinkommen verfügen, das unterhalb der Hartz-IV-Leistungen liegt. So einige wichtige Befunde aus einer neuen Studie, die Thomas Öchsner in seinem Artikel Hohe Mieten bringen viele an den Rand der Armut hervorgehoben hat.

Bei der angesprochenen Studie handelt es sich um diese Untersuchung:

➔ Henrik Lebuhn, Andrej Holm, Stephan Junker und Kevin Neitzel (2017): Wohnverhältnisse in Deutschland – eine Analyse der sozialen Lage in 77 Großstädten. Bericht aus dem Forschungsprojekt „Sozialer Wohnversorgungsbedarf“, Düsseldorf: Hans-Böckler-Stiftung, September 2017

In der Studie wurden auf Basis von Daten des Mikrozensus 2014 für 77 deutsche Großstädte von Berlin bis Siegen Miethöhen und Mietbelastung ausgewertet. Im Mikrozensus werden alle vier Jahre auch auch repräsentative Daten zu den Wohnbedingungen der Menschen erhoben werden. 

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Zentralisierung versäulter Hilfesysteme als Lösungsansatz. Zu den Vorschlägen einer Neuordnung der Notfallversorgung – und den Fragezeichen jenseits der Schaubilder

Das geht uns nun wirklich alle an: die Notfallversorgung in unserem Land. Jedem kann es jederzeit passieren, auf schnelle und richtige Hilfe angewiesen zu sein. Und in den vergangenen Jahren musste man einen gefühlt anschwellenden Strom an kritischen Berichten aus der Welt der Rettungsdienste, der Notfallambulanzen der Krankenhäuser und des ärztlichen Notdienstes der Kassenärzte zur Kenntnis nehmen. Aus den vielen Berichten hier nur ein Beispiel: »Kaum ein gesundheitspolitisches Thema wird derzeit so kontrovers diskutiert wie die Notfallversorgung. Die Krankenhäuser beklagen sich, dass die stationären Notaufnahmen unterfinanziert seien und fordern zusätzliche Mittel in Milliardenhöhe. Die Vertragsärzte weisen im Gegenzug darauf hin, dass vielen der Patienten, die in einer stationären Notaufnahme behandelt werden, ebenso gut ein niedergelassener Arzt hätte helfen können … Zusätzlicher Handlungsdruck entsteht auch dadurch, dass die Zahl der stationär behandelten Notfallpatienten seit Jahren kontinuierlich steigt. Das spüren sowohl der Rettungsdienst als auch die Notaufnahmen. „Seit dem Jahr 2001 steigt die Anzahl unserer Einsätze. Schon im Juli dieses Jahres haben wir die Zahlen erreicht, mit denen wir für das gesamte Jahr gerechnet haben. Ich weiß nicht, wohin wir noch kommen sollen“, sagte Wilfried Gräfling, Landesbranddirektor bei der Berliner Feuerwehr, Ende November auf einem wissenschaftlichen Symposium des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) in Berlin.« Das kann man dem im Jahr 2016 veröffentlichten Artikel Notfallversorgung: Ambulant oder stationär? von Falk Osterloh entnehmen, der dann auch noch einen Vertreter der Krankenhäuser zu Wort kommen lässt.

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Die Krankenkassen auf dem wahren Schlachtfeld. Wo es um das ganz große Geld geht. Der „Morbi-RSA“ als höchst umstrittene Verteilungsformel im Gesundheitswesen

An solchen Meldungen aus einem Ministerium kurz vor einer Bundestagswahl merkt man die Absicht, frohe Kunde über die Bürger auszuschütten: »Krankenkassen haben nach Ansicht von Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) ausreichend Spielräume, um ihren Versicherten „hochwertige Leistungen bei attraktiven Beiträgen“ zu gewähren. Die Kassen haben im ersten Halbjahr einen Überschuss von 1,41 Milliarden Euro erzielt – im gleichen Vorjahreszeitraum sind es nur knapp 600 Millionen Euro gewesen«, so das Bundesgesundheitsministerium laut dem Artikel Kassen „surfen“ im Geld. Das die gute Beschäftigungslage den Kassen viel Geld ins Portemonnaie spült, mag für den einen oder anderen dann auch ein Erklärungsansatz sein für solche irritierende Meldungen: »6,8 Milliarden Euro: Diesen Schuldenberg schieben die gesetzlichen Krankenkassen vor sich her. Und die Politik schaut zu. 6,8 Milliarden Euro, für die alle Versicherten am Ende geradestehen.« So das Wirtschaftsmagazin Plusminus (ARD) in dem Beitrag Milliarden Schulden: Wer bei der Krankenkasse in der Kreide steht vom 6. September 2017. Wobei diese Beitragsschulden offensichtlich eine überaus bewegliche Größe sind, denn Timot Szent-Ivanyi berichtet in seinem Artikel Deutsche schulden den Krankenkassen mehr als sieben Milliarden Euro: »Im Sommer  haben sie erstmals die Marke von sieben Milliarden Euro überschritten. Ende Juli verzeichneten die 113 Kassen Rückstände von exakt 7,045 Milliarden Euro. Das ist fast eine Milliarde Euro mehr als noch am Jahresanfang.  In der abgelaufenen Wahlperiode hat sich der Schuldenstand damit  in etwa  verdreifacht.«

Nun sollte man meinen, die Kassen und ihre Verbände schlagen angesichts der horrenden Summe an ausstehenden Beitragseinnahmen Alarm und fordern von der Politik Abhilfe. Aber weit gefehlt. In dem Plusminus-Beitrag wird die Sprecherin des Spitzenverbandes der Krankenkassen, Ann Marini, dahingehend befragt, wer für diese Beitragsausfälle verantwortlich ist. Die erstaunliche Erkenntnis – man wisse es nicht wirklich: »Sie vermutet, es seien hauptsächlich die Selbstständigen.« Aber der enorme Anstieg? »Wir haben leider keine belastbaren Daten. Insofern müssen wir immer sagen: Wir vermuten.«

Sollte es vielleicht neben den mit der Beitragslast überforderten Selbständigen (vgl. dazu bereits den Beitrag Explodierende Beitragsschulden in der Krankenversicherung, Solo-Selbständige, die unterhalb des Mindesteinkommens jonglieren und warum Bismarck wirklich tot ist vom 11. Februar 2017) noch andere Ursachen geben für das Beitragsloch?

In dem Plusminus-Beitrag bekommen wir zumindest einen Hinweis, der zugleich anschlussfähig ist an das hier interessierende Thema mit dem Risikostrukturausgleich, denn auch der ist Teil der großen Geldverteilungsmaschinerie namens „Gesundheitsfonds“. Und um den geht es auch bei den Mitverursachern der Beitragsschulden:

»Die Betriebskrankenkassen „vermuten“ es seien die „obligatorisch Anschlussversicherten“. Der AOK Bundesverband nennt beispielhaft „Saisonarbeiter“ oder „ins Ausland unbekannt verzogene Personen“ … Die Erntehelfer, zumeist aus Osteuropa, arbeiten im Sommer und Herbst für wenige Wochen in Deutschland. Leiharbeiter helfen bei Amazon im Weihnachtsgeschäft aus. Für alle gilt: Sie bleiben obligatorisch in der gesetzlichen Krankenversicherung, auch wenn sie Deutschland längst wieder verlassen haben. Die Saisonarbeiter werden sogar mit dem Höchstbeitrag eingestuft. Zurück in ihrer Heimat zahlen sie selbstverständlich keine Beiträge in die Krankenversicherung. 2014 wurde die Gruppe der obligatorisch Anschlussversicherten per Gesetz eingeführt. Just seitdem explodieren die Schulden der Kassen.«

Dann wären die Schulden ja eine Art Luftbuchung, handelt es sich doch bei den Beitragsschuldnern um Karteileichen. Aber warum werden die nicht schnellstens bereinigt? Ganz einfach, weil sie nicht nur Auswirkungen haben auf die – nicht gezahlten – Beitragseinnahmen, sondern auch für die Zuwendungen aus dem Gesundheitsfonds. Offensichtlich haben wir es hier mit einem System zu tun. Man kann das so formulieren:

»Die Versicherten zahlen Beiträge an die gesetzlichen Krankenkassen. Diese leiten die Beiträge sofort weiter an den Gesundheitsfonds. Ein riesiges Konto, das jedes Jahr über 200 Milliarden Euro Versichertenbeiträge verwaltet. Aus diesem Topf wird den Kassen das Geld zugeteilt. Und da gilt: Je mehr Mitglieder eine Kasse hat, umso mehr bekommt sie aus dem Topf. Das bedeutet: Jede Karteileiche bringt der Kasse zusätzliches Geld.«

Und die Sprecherin des Krankenkassenverbandes wird mit diesen Worten zitiert – falls jemand auf die Frage kommen sollte, warum denn Kassen solche Karteileichen in Kauf nehmen: „Solange die Krankenkasse keine Information hat, dass derjenige, der bei ihr gemeldet ist, nicht mehr in Deutschland ist, also quasi nicht mehr existiert, ist sie verpflichtet diesen Menschen weiterzuführen“. Und das tun sie, weil sie es müssen: 2014 wurde die Gruppe der obligatorisch Anschlussversicherten per Gesetz eingeführt.

Das Fazit im Plusminus-Beirag: »Das Milliardenloch von 6,8 Milliarden Euro sind ausstehende Zahlungen von Selbständigen, die mit Höchstbeiträgen geschröpft werden und Schulden von Zwangsversicherten, die nur als Karteileichen existieren. Ein Irrsinn.«

Und wir können jetzt nahtlos weitermachen. Denn mit dem Gesundheitsfonds verknüpft ist der „morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich“, auch „Morbi-RSA“ genannt. Dieser wurde – ursprünglich als Weiterentwicklung des alten, seit 1995 geltenden Ausgleichssystems seit 2001 für 2007 geplant – im Jahr 2009 mit dem Gesundheitsfonds tatsächlich auch eingeführt.

»Die Mittel des Gesundheitsfonds sollen so an die Krankenkassen verteilt werden, dass sie da ankommen, wo sie zur Versorgung der Versicherten am dringendsten benötigt werden. Zunächst erhält jede Krankenkasse für jeden Versicherten eine Grundpauschale in Höhe der durchschnittlichen Pro-Kopf-Ausgaben in der GKV. Für eine Krankenkasse mit vielen alten und kranken Versicherten reicht dieser Betrag naturgemäß nicht aus, während eine Krankenkasse mit vielen jungen und gesunden Versicherten zuviel Geld erhielte. Daher wird diese Grundpauschale durch ein System von Zu- und Abschlägen angepasst. Neben den bisherigen Merkmalen des Risikostrukturausgleichs – Alter, Geschlecht und Bezug einer Erwerbsminderungsrente – soll dabei auch die anhand von 80 ausgewählten Krankheiten gemessene Krankheitslast der Krankenkassen berücksichtigt werden«, so das Bundesversicherungsamt in einer Darstellung des Risikostrukturausgleichs. Zu dem Mechanismus vgl. auch die Abbildung am Anfang dieses Beitrags.

Nun hört sich das mit dem Ausgleich der besonders hohen Ausgaben, die mit bestimmten Krankheiten verbunden sind, einfacher an als es dann in der Praxis ist. Am Anfang steht wie meistens eine gute Idee: Stellen wir uns eine vielleicht sogar kleine Krankenkasse vor, die zwei oder drei Versicherte hat, die wegen einer bestimmten Erkrankung monatlich Behandlungskosten verursachen, die im sechsstelligen Bereich liegen (können). Wenn die vereinfacht gesagt die gleiche Kopfpauschale für jeden Versicherten bekommen, wie andere Kassen auch, die aber nicht eine derart extremen Belastung auf der Kostenseite haben, dann ist das ein Problem. Das nun kann man tatsächlich ausgleichen durch eine Berücksichtigung dieser Fälle in einem Finanzausgleich zwischen den Kassen.

Man ahnt schon, wo das methodische Grundproblem liegt: Wenn man (lediglich) klar abgrenzbare Hochkosten-Fälle berücksichtigt, ist das nachvollziehbar und auch kaum manipulationsanfällig – denn eine relativ seltene, aber extrem kostenintensive Autoimmunerkrankung lässt sich gut abgrenzen.
Problematisch wird es dann, wenn man das Spektrum der berücksichtigungsfähigen Krankheiten seht weit aufmacht und die Frage der (Nicht-)Diagnose einem gewissen „Gestaltungsspielraum“ unterliegt. Dann werden Anreize in die Welt gesetzt, die man nutzen kann. Was offensichtlich, so die Kritiker, auch passiert (ist).

An dieser Stelle wird sich der eine oder andere daran erinnern, dass bereits im vergangenen Jahr aus den Reihen der Krankenkassen selbst der Finger auf die „Manipulationsvorwurfwunde“ gelegt wurde (vgl. zu der damaligen Berichterstattung den Beitrag Wenn der „mordbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich“ Anreize setzt, Patienten morbider zu machen als sie sind und denen das dann schmerzhaft auf die Füße fallen kann vom 7. November 2016):
Je kränker ein Patient auf dem Papier, desto mehr Geld erhält die Krankenkasse. Die gesetzlichen Kassen sollen deshalb Diagnosen manipuliert haben. Und das schlug im vergangenen Jahr so richtig große Wellen, vgl. dazu die Artikel Wettbewerb mit falschen Kranken oder Wie krank ist unser Gesundheitssystem? Für den Vorwurf gab es einen gewichtigen Zeugen der Anklage, berichtete die FAZ in dem Artikel „Krankenkassen verpulvern Geld für Drückerkolonnen“. Es geht um Jens Baas, dem Chef der Techniker Krankenkasse:

»Im Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung bezichtigte er seine eigene und andere gesetzliche Krankenkassen, aus diesem Grund sogar Diagnosen von Patienten zu manipulieren. Die Kassen versuchten die Ärzte dazu zu bringen, für die Patienten möglichst viele Diagnosen zu dokumentieren, sagte Baas. „Aus einem leichten Bluthochdruck wird ein schwerer. Aus einer depressiven Stimmung eine echte Depression, das bringt 1000 Euro mehr im Jahr pro Fall.“«

Die Krankenkassen haben im bestehenden System des Risikostrukturausgleichs einen Anreiz, dass möglichst viele Patienten als lukrative Chroniker eingestuft werden, schließlich bekommen sie dann besonders viel Geld aus dem Risikostrukturausgleich. Daher halten sie die Ärzte an, eine möglichst vollständige und präzise Diagnose zu stellen, entweder über Briefe oder indem sie ihnen Berater in die Praxis schicken. Und der Kassen-Chef hat sich ziemlich deutlich geäußert:

»Der Vorwurf des Techniker-Chefs Baas lautet …, dass die Kassen die Ärzte sogar dazu drängen, entweder einen Code für eine schwerwiegendere Krankheit zu vergeben oder für einen anderen Schweregrad – dass sie also bei der Leistungsabrechnung betrügen. Für die Ärzte macht das finanziell oft keinen Unterschied, für die Kassen aber schon. Die bezahlten „Prämien von zehn Euro je Fall für Ärzte, wenn sie den Patienten auf dem Papier kränker machen“, sagte Baas. „Sie bitten dabei um ,Optimierung‘ der Codierung. Manche Kassen besuchen die Ärzte dazu persönlich, manche rufen an.“ Besonders häufig sei das der Fall bei den Volkskrankheiten, also Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und auch psychischen Krankheiten.«

Auch das Bundesversicherungsamt, das für die Aufsicht aller bundesweit aktiven Kassen zuständig ist, hatte immer wieder auf Unregelmäßigkeiten hingewiesen. Mittlerweile ist auch der Gesetzgeber aktiv geworden. Inzwischen hat der Gesetzgeber mit Wirkung ab 11. April jede Form der Einflussnahme der Krankenkassen auf die Diagnosestellung gesetzlich verboten.

Auch die Forschung hat zwischenzeitlich Hinweise geliefert, dass das nicht aus der Luft gegriffen ist, wie Florian Staeck in seinem Artikel Forscher vermuten Manipulation aus dem Juni 2017 berichtet. Er bezieht sich auf diese Studie :

Sebastian Bauhoff, Lisa Fischer, Dirk Göpffarth and Amelie C. Wuppermann (2017): Plan Responses to Diagnosis-Based Payment: Evidence from Germany’s Morbidity-Based Risk Adjustment. CESifo Working Papers 65017, Munich, May 2017

Die Wissenschaftler konnten Daten von rund 1,2 Milliarden Diagnosen aus den Jahren 2008 bis 2013 untersuchen, die fast 44 Millionen Personen betrafen. »Den Daten zufolge ist der Anteil der validierten und damit ausgleichsfähigen Diagnosen im Zeitraum von 78 Prozent (2008) auf 83,7 Prozent (2013) gestiegen. Den Trend belegen die Wissenschaftler an den Beispielen akuter Myokardinfarkt und Schlaganfall. In den sechs Jahren sank die Prävalenz der Verdachtsdiagnosen, die der gesicherten Diagnosen nahm zu. „Unser Studiendesign lässt den Schluss zu, dass dies eine Folge der vermehrten Aufzeichnung dieser Diagnosen durch Ärzte ist und dass nicht etwa die Verbreitung dieser Krankheiten gestiegen ist“, kommentiert Wuppermann, die in München Ökonometrie lehrt.«

Und dann kommt dieser wichtige Passus:

»Augenfällig ist, dass dieser Effekt ab 2010 sichtbar wird: Ende 2008 ist die Liste mit den 80 finanziell besonders „wertvollen“ Erkrankungen im neuen Morbi-RSA bekannt geworden, anschließend schickten Kassen Heerscharen von „Beratern“ in die Praxen der Vertragsärzte. Brisant in der Studie ist, dass die Autoren bei den AOKen besonders starke Veränderungen im Kodierverhalten festgestellt haben.«

An dieser Stelle können wir zur aktuellen Berichterstattung überleiten, die zugleich verdeutlicht, mit welchen harten Bandagen hier gekämpft wird. Unter der Überschrift Vermögen der AOK wächst weiter hat Peter Thelen einen längeren Beitrag im Handelsblatt veröffentlicht. Er fährt schweres Geschütz auf: »Das Vermögen der AOK wächst, obwohl ihre Versicherten absolut weniger Beiträge als bei der Konkurrenz zahlen. Gründe liegen im Finanzausgleich der Krankenkassen – und an Befangenheit im Gesundheitssystem.«

Auch sein Ausgangspunkt sind die schwarzen Zahlen der Krankenkassen, von den am Anfang dieses Beitrags schon berichtet wurde – allerdings schaut er genauer hin:

»Vom bisherigen Gesamtüberschuss in Höhe von 1,4 Milliarden Euro verbuchten die Ortskrankenkassen allein 650 Millionen Euro – das sind 47 Prozent. Der Überschuss der Ortskrankenkassen je Mitglied lag mit 32 Euro deutlich über dem der Betriebskrankenkassen (13,80 Euro) und knapp ein Drittel über dem Überschuss der Ersatz- und Innungskrankenkassen (21 und 23 Euro). Dabei sind nur 37 Prozent der 55,8 Millionen Beitragszahler bei einer AOK versichert und zahlen absolut bei den Ortskrankenkassen deutlich geringere Zusatzbeiträge. Die Mitglieder der Ortskrankenkassen zahlten einen Zusatzbeitrag von durchschnittlich nur 118 Euro. Bei Betriebskrankenkassen mussten die Mitglieder im ersten Halbjahr durchschnittlich 137 Euro von ihrem Nettoeinkommen zusätzlich zum allgemeinen Beitragssatz überweisen, die Mitglieder der Ersatzkassen wie Barmer und DAK zahlten 139 Euro zusätzlich und die der Innungskrankenkassen sogar 150 Euro.«

Das hat Folgen: »Mit über acht Milliarden Euro entfällt fast die Hälfte der 17,2 Milliarden Euro Rücklagen im gesetzlichen Krankenversicherungssystem auf die Ortskrankenkassen.«

Der AOK-Verband »führt die überdurchschnittlich gute Finanzlage darauf zurück, dass die Kassen in jüngster Zeit vor allem viele junge Mitglieder neu gewonnen hätten. Auch die Leistungsausgaben entwickelten sich günstiger als bei anderen Krankenkassen.«

Daran zweifeln allerdings viele Kritiker. Sie argumentieren, dass es der „Morbi-RSA“ in seiner gegenwärtigen Ausgestaltung sei, der das Ungleichgewicht verursacht – und dabei vor allem die 80 Krankheiten, deren Kosten ausgeglichen werden (vgl. die Übersicht des Bundesversicherungsamtes, welche Krankheiten im Morbi-RSA berücksichtigt werden).

Die Musik für Krankenkassen wie der AOK spielt bei den Zuweisungen vor allem im krankheitsorientierten Teil des Finanzausgleichs – denn Alter, Geschlecht oder der Bezug von Erwerbsminderungsrenten, was auch berücksichtigt wird im RSA, lassen sich nun kaum bis gar nicht „gestalten“.

Peter Thelen zitiert in seinem Artikel den Bremer Gesundheitsökonomen Gerd Glaeske, der nach 2001 Vorsitzender des Beirats war, der seinerzeit die Entwicklung des neuen Finanzausgleichs wissenschaftlich begleitet hat.

„Die Gretchenfrage lautete damals: Welche 80 Krankheiten nehmen wir, um einen neuen stärkeren Finanzausgleich zu erreichen, der für die Kassen möglichst faire Wettbewerbsbedingungen schafft und nicht manipulationsanfällig ist?“

»Der Beirat war dafür, vor allem besonders teure Krankheiten auszugleichen. Der entsprechende Gesetzentwurf sah vor, dass diese Krankheiten „eng abgrenzbar, schwerwiegend und chronisch“ sein und eine „besonders Bedeutung für das Versorgungsgeschehen“ haben müssten. Vor allem aber sollten die durchschnittlichen Behandlungskosten je Patient die durchschnittlichen Leistungsausgaben für alle Versicherten um mindestens 50 Prozent übersteigen … Der Beirat hatte bewusst Erkrankungen wie Rheuma, einfache Diabetes, Asthma oder Depressionen ohne schweres Krankheitsbild nicht in die Liste aufgenommen, weil sie zwar häufig vorkommen, aber keine hohen Behandlungskosten auslösen und oft auch schwer abgrenzbar und zu diagnostizieren sind.«

Aber es kam anders. Das Bundesgesundheitsministerium folgte dem Vorschlag des Beirats hinsichtlich einer engen Abgrenzung der Krankheiten nicht. Warum nicht, lässt sich, so die These von Thelen, nur politisch verstehen:

»Es stellte sich schnell heraus, dass die strenge Krankheitsauswahl den damals eindeutig benachteiligten Ortskrankenkassen nicht die Zusatzeinnahmen bringen würde, die politisch erwünscht waren. Das unausgesprochene Hauptziel der Reform war, den chronisch notleidenden Ortskrankenkassen durch den verstärkten Finanzausgleich finanziell wieder auf die Beine zu helfen.«

Glaeske warnte damals vor der Manipulationsanfälligkeit einer zu weiten Berücksichtigung und sah sogar die Gefahr einer Morbidisierung der Gesellschaft am Horizont. Der Beirat, vor vollendete Tatsachen gestellt, trat geschlossen zurück.

Im weiteren Verlauf des Artikels von Thelen wird es sehr persönlich – hinsichtlich einer zentralen Figur der gesundheitspolitischen Beratung in Deutschland: Prof. Dr. Jürgen Wasem, denn der  Inhaber des Lehrstuhls für Medizinmanagement an der Universität Duisburg Essen wurde Glaeskes Nachfolger im neuen Beirat.

Wasem »hatte sich für die neue Position in besonderer Weise empfohlen: Er hatte die sogenannte „Essener Liste“ verfasst.* Eine Zusammenstellung, auf der die meisten Krankheiten schon vermerkt waren, die die AOK sich wünschte.«

Aber hat der Gesetzgeber nicht zwischenzeitlich reagiert, was die mögliche Gestaltung der Diagnosen im Sinne der Anreize aus dem Morbi-RSA angeht? Und haben nicht auch die Kassen selbst erklärt, von einer direkten Beeinflussung der Ärzte abzulesen? Inzwischen haben sich beispielsweise die Ortskrankenkassen in einer gemeinsamen Erklärung verpflichtet, Ärzten nur noch besondere Leistungen, nicht aber das Stellen bestimmter Diagnosen zu vergüten. Aber auch hier muss man wieder genauer hinschauen:

»Betreuungsstrukturverträge und Hausarztverträge gibt es immer noch – und sie sind völlig legal. Formal versprechen sie den Ärzten nämlich nur Zusatzentgelte, wenn sie bestimmte Patientengruppen intensiver betreuen. Aber auch heute fließt das Geld nur für Patienten mit einer „gesicherten Diagnose“. Und dabei gilt häufig nach wie vor: Je kränker der Patient, umso höher das Zusatzhonorar.«

Und das bereits angesprochene Grunddilemma hinsichtlich der Breite des Spektrums an Finanzströme generierenden Krankheiten bleibt ja weiterhin bestehen.

Bundesgesundheitsminister Hermann Größe (CDU) hat bereits Ende 2016 reagiert – und ein Gutachten in Auftrag gegeben. Unter anderem soll auch evaluiert werden, wie eine Manipulationsanfälligkeit des Finanzausgleichs in Zukunft verhindert werden kann. Braucht man dazu wirklich ein Gutachten? Gerd Glaeske, so Thelen in seinem Artikel, hätte da natürlich einen Vorschlag: »Die Krankheitsauswahl müsste von den Volkskrankheiten wie Diabetes und Bluthochdruck wieder in Richtung teurer und schwerer, und daher auch diagnostisch viel leichter abgrenzbarer Krankheiten verändert werden. Manipulationen würden so schwerer und der Finanzausgleich fairer werden.«

Aber der Gutachtenauftrag war und ist in der Welt. Und wer macht das? »Der wissenschaftliche Beirat unter Führung von Jürgen Wasem wurde mit der Bewertung des Ausgleichs und seiner Manipulationsanfälligkeit beauftragt. Für die Evaluation wurden ihm zwei Wissenschaftler an die Seite gestellt: Der mit Wasem aus früherer Zusammenarbeit eng verbundene niederländische Finanzausgleichsexperte Wynand van de Ven und der Wettbewerbsökonom und Chef der Monopolkommission Achim Wambach.«

Man kann es schon kritisch sehen – wie das Glaeske tut -, »dass der Erfinder des Finanzausgleichs, der auch für seine Weiterentwicklung seit 2009 die Verantwortung trägt, nun quasi federführend die eigene Arbeit evaluiert.«

Hinzu kommt: »Eigentlich sollten Wasem, van de Ven und Wambach ihre Evaluation bis Ende dieses Monats abgeschlossen haben. Doch daraus wird nichts werden, heißt es in Krankenkassenkreisen. Vor dem Jahresende seien keine Ergebnisse zu erwarten.«

Was das nun vor dem Hintergrund der Bundestagswahl am 24. September 2017 und der anschließenden Koalitionsverhandlungen bedeutet? Na klar: »Das könnte bedeuten, dass das Streitthema Finanzausgleich bei den Koalitionsverhandlungen einfach ausgespart werden wird.«