„Jamaika“ ante portas nach der Bundestagswahl – und was das für die Sozialpolitik bedeuten kann. Am Beispiel der Leiharbeit

Nun sind die Wählerwürfel gefallen und wir wissen, dass es mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit für die kommenden Jahre zu einer „Jamaika“-Koalition aus CDU/CSU, FDP und Grünen kommen muss, denn die einzige rechnerische Alternative, also eine Fortführung der „Großen Koalition“ zwischen Union und SPD, ist nach dem sozialdemokratischen Schwur, man werde nach dem schlechtesten Wahlergebnis seit 1949 den Gang in die Opposition antreten, nur dann noch möglich, wenn die Verhandlungen über eine „Jamaika“-Koalition scheitern sollten und die SPD von ihrer Aussage, nicht mehr mit Merkels Union koalieren zu wollen, im Fall des Scheiterns von „Jamaika“-Verhandlungen abweichen würde, was aber nicht wirklich plausibel erscheint, auch wenn im schlimmsten Fall Neuwahlen drohen – denn könnte es wirklich noch schlimmer kommen für die SPD?

Also kann man zum jetzigen Zeitpunkt davon ausgehen, dass wir nach längeren Verhandlungen, die sich sehr schwierig gestalten werden, eine Koalition von Union (die durch ein ebenfalls historisch schlechtes Wahlergebnis verunsichert ist), mit einer von Null auf Hundert katapultierten, aber inhaltlich und personell auf sehr wackeligen Füßen stehenden FDP und den angesichts mieser Umfragewerte davongekommenen, allerdings inhaltlich sehr heterogen aufgestellten Grünen bekommen werden.

Und da wird es eine Menge Stress geben, vor allem zwischen der FDP und den Grünen (oder einem Teil der Grünen), vor allem in dem hier relevanten Bereich der Sozialpolitik – und das vor dem Hintergrund, dass die Grünen der kleinste Koalitionspartner sein werden.

Nun kann man viel spekulieren auf einer allgemeinen, abstrakten Ebene, was das für die anstehenden schwierigen Sondierungsgespräche und Koalitionsverhandlungen bedeuten kann und wird.

Man kann aber auch – und das soll hier exemplarisch versucht werden am Beispiel der Leiharbeit – an einem konkreten Teilbereich der Sozialpolitik ansetzen und darüber nachdenken, was die neue Konstellation bedeuten könnte vor dem Hintergrund, dass es im Bereich der Leiharbeit und Werkverträge gerade am Ende der letzten Legislaturperiode durchaus kontroverse gesetzgeberische Veränderungen gegeben hat (vgl. hierzu kritisch den Beitrag Eine weichgespülte „Reform“ der Leiharbeit und Werkverträge in einer Welt der sich durch alle Qualifikationsebenen fressenden Auslagerungen vom 1. April 2017).

Dieses Thema ist auch deshalb interessant, weil die Grünen – neben den Linken – 2016 als Opposition im Deutschen Bundestag massiv gegen die aus ihrer Sicht halbgare Reform des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes Sturm gelaufen sind. Und in den ganzen vier zurückliegenden Jahren waren die Grünen immer mit kritischen Stimmen im Bereich der Arbeitsmarktpolitik präsent gewesen – was natürlich auch, man sollte das nicht unterschätzen, an einzelnen Abgeordneten lag. Grüne MdBs wie Brigitte Pothmer (die nicht mehr für den neuen Bundestag kandidiert hat), Beate Müller-Gemmeke und Wolfgang Strengmann-Kuhn haben sich hier deutlich positioniert und engagiert, um nur drei Beispiele zu nennen.

Und als die Reform der Leiharbeit im April dieses Jahres in Kraft trat, feierte die zuständige Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) das pflichtgemäß als eine große Verbesserung für die Leiharbeiter in unserem Land. »Leiharbeit und Werkverträge geben unserer Wirtschaft Flexibilität. Wir wollen verhindern, dass sie missbraucht werden, um Druck auf Beschäftigte, Löhne und Arbeitsbedingungen zu machen. Daher führen wir die Leiharbeit auf ihre Kernfunktion zurück und schieben dem Missbrauch von Werkverträgen einen Riegel vor.« So die Ministerin, die nun in Zukunft offensichtlich, folgt man den aktuellen Meldungen, das Amt der Fraktionsvorsitzenden der geschrumpften SPD-Fraktion übernehmen soll.

Das mit der angeblichen deutlichen Verbesserung der Situation der Leiharbeiter in unserem Land haben schon damals viele anders gesehen – und auch die Grünen waren in ihrer Ablehnung dessen, was die Große Koalition da vorgelegt hat, mehr als deutlich. Vgl. dazu beispielsweise den Antrag der Grünen vom 27.01.2016: Missbrauch von Leiharbeit und Werkverträgen verhindern (BT-Drs. 18/7370). Dort wurde nicht nur die konsequente Anwendung des „equal pay“-Grundsatzes vom ersten Tag der Beschäftigung eines Leiharbeiters gefordert, sondern auch eine „Flexibilitätsprämie“ in Höhe von 10 Prozent des Bruttolohns als Ausgleich für höhere Flexibilitätsanforderungen in offensichtlicher Anlehnung an das französische Beispiel (vgl. dazu den Beitrag Leiharbeit in Frankreich: Mehr Lohn gegen weniger Sicherheit von Bernard Schmid). Das waren und sind erhebliche Abweichungen von dem, was die GroKo dann beschlossen hat.

Und die skeptischen Einschätzungen der Kritiker der Neuregelungen der Leiharbeit sind offensichtlich nicht aus der Luft gegriffen. Dem Business des Menschenverleihs geht es nicht schlecht, wie solche Zahlen verdeutlichen: Zeitarbeit erreicht Eine-Million-Marke: »In diesen Tagen übersteigt die Belegschaft der etwa 11.000 Zeitarbeitsfirmen die Marke von einer Million Menschen, das sind doppelt so viele wie noch vor zehn Jahren. Eine genauere Analyse wurde hier bereits im Juli 2017 veröffentlicht: Sie wächst und gedeiht, die Leiharbeit. Die Probleme, die aus der Branche gemeldet werden, sind denn auch weniger Probleme mit der vielbeschworenen „Strangulierung“ durch den Gesetzgeber, sondern strukturelle Wachstumsbremsen, die sich aus dem Geschäftsmodell in Verbindung mit der allgemeinen Arbeitsmarktentwicklung ergeben: »Die offensichtlich trotz der angeblich existenzbedrohenden Regulierung seitens der Politik florierende und expandierende Branche hat mittlerweile erhebliche Probleme, genügend Arbeitskräfte für die Aufträge zu rekrutieren. Da überrascht es nicht, dass sie Ausschau hält nach neuen Quellen für die Rekrutierung von Leiharbeitern. Dass man dabei ein Auge auf die Flüchtlinge geworfen hat, überrascht dann auch nicht mehr.«

Damit aber nicht genug – auch die Tarifparteien, also Arbeitgeber und Gewerkschaften – haben zwischenzeitlich reagiert, aber sicher nicht so, wie sich das viele zumindest hinsichtlich der Gewerkschaften so vorstellen würden.

Das schlägt sich dann in solchen Schlagzeilen nieder: Gesetz als Mogelpackung? Metallindustrie unterläuft Regeln zu Leiharbeit. Um gleich am Anfang eine mögliche Fehlinterpretation zu vermeiden, sei hier darauf hingewiesen, dass es nicht „die bösen“ Arbeitgeber sind, die sich hier gegen eine arbeitnehmerorientierte Schutzgesetzgebung stellen und diese zu unterlaufen versuchen – sondern das passiert ganz legal über – ja, das ist kein Druckfehler – Tarifverträge, die von den Arbeitgebern gemeinsam mit den Gewerkschaften abgeschlossen worden sind. Den Hinweis darauf findet man auch in den aufgerufenen Artikel:

»Schon 13 regional geltende Tarifverträge erlauben Abweichungen von der gesetzlichen Regelung, wonach Leiharbeiter höchstens 18 Monate lang in einer Firma eingesetzt werden dürfen … Das Bundesarbeitsministerium verwies darauf, dass die Tarifvertragsparteien der Einsatzbranchen „noch bis Oktober 2018 Zeit haben, um abweichende Regelungen zu treffen.“ Experten gehen davon aus, dass noch zahlreiche weitere Branchentarifverträge hinzukommen, um die Höchsteinsatzdauer zu umgehen.«

Was passiert hier? Dem aufmerksamen Leser dieses Blogs wird das nicht unbekannt sein, denn bereits am 19. April 2017 wurde hier dieser Beitrag veröffentlicht: Wenn die Leiharbeiter in der Leiharbeit per Tarifvertrag eingemauert werden und ein schlechtes Gesetz mit gewerkschaftlicher Hilfe noch schlechter wird. Früher hat man noch lernen dürfen, das Tarifverträge dazu dienen, die Situation der Arbeitnehmer zu verbessern. Das reformierte AÜG hingegen produziert eine irritierende Rolle rückwärts. Das von Andrea Nahles immer wieder vorgetragene Ziel einer Stärkung der Tarifparteien wird im AÜG jetzt so umgesetzt, dass zum einen die Besserstellungsabsicht der Tarifebene konterkariert wird, da den nicht-tarifgebundenen Unternehmen ein weitgehend gleicher Vorteil ermöglicht wird. Aber noch schlimmer: Die Tarifvertragsparteien (wohlgemerkt der Entleihbetriebe) können schlechtere Bedingungen für die Leiharbeiter vereinbaren und das auch noch verlängern. Tarifpolitik absurd, mag der eine oder andere an dieser Stelle denken.

In dem bereits zitierten Artikel über die tarifvertragliche Umgehungsstrategie finden wir diese Hinweise: »Die neue Vorschrift war mit der Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes am 1. April eingeführt worden. Sie soll Leiharbeiter – die zumeist schlechter bezahlt werden – davor schützen, dass sie immer wieder auf derselben Stelle eingesetzt werden, ohne eine Festanstellung zu bekommen. In der Praxis verlängern viele Unternehmen, etwa Autohersteller, die Einsatzzeit von Leiharbeitern einfach auf 48 Monate, um Lohnkosten zu sparen. Aber auch die Gewerkschaften haben durchaus ein Interesse daran, um die Stammbelegschaft zu schützen.«

Und dort werden auch die Grünen zitiert, in Gestalt der Bundestagsabgeordneten Beate Müller-Gemmeke:

„Die Höchstüberlassungsdauer ist eine Mogelpackung, denn sie begrenzt Leiharbeit in keiner Weise.“ Sie warf der Bundesregierung vor, es mit der Höchstüberlassungsdauer nicht ernst gemeint zu haben: „Sonst hätte sie keine Verlängerung ermöglicht, zumal die meisten Leiharbeitskräfte viel kürzere Einsatzzeiten haben.“

In ihrem Wahlprogramm fordern die Grünen, dass Leiharbeiter vom ersten Tag an mindestens den gleichen Lohn erhalten wie Stammbeschäftigte – und zusätzlich eine Flexibilitätsprämie. Müller-Gemmeke sagte: „Das wäre gerecht und davon würden die Leiharbeitskräfte tatsächlich profitieren. Leiharbeitskräfte bekämen einen höheren Lohn und für Unternehmen wäre eine Festanstellung betriebswirtschaftlich günstiger.“

Wie könnte sich das nun in einer „Jamaika“-Koalition mit Union und FDP ausgestalten? Die haben ganz andere Vorstellungen. Nehmen wir als Beispiel das Wahlprogramm der FDP: Dort findet man unter der Überschrift „Abbau überflüssiger Regulierung in der Zeitarbeit“ die Aussage:

»Wir Freie Demokraten wollen über üssige Regulierungen bei der Zeitarbeit abbauen … die Große Koalition (hat) hier bürokratisiert. Die unnötigen gesetzlichen Vorschriften zur Überlassungsdauer und Entlohnung führen zu Unsicherheiten und Aufwand. Dies wollen wir ändern.«

Keine vielversprechende Basis für eine Zusammenarbeit mit den Grünen an dieser Stelle – sollten denn die Grünen an ihrer bisherigen Positionierung festhalten. Die Union hat dem Regulierungsansatz der GroKo-Partners SPD nur unter Bauchgrimmen zugestimmt und im parlamentarischen Prozess dem Gesetzentwurf einige Zähne gezogen. Sie wird kein besonderes Interesse haben an der Eingrenzung der Leiharbeit, geschweige denn an ihrer Verschärfung. Ganz im Gegenteil, die Union trifft sich mit der FDP in der Zielsetzung, auf dem Arbeitsmarkt weitere Deregulierungen durchzusetzen. Zu Zeit- oder Leiharbeit findet man im „Regierungsprogramm 2017-2021“ nichts, aber sehr wohl zum Mindestlohn, der ja auch von den Grünen begrüßt wird:

»Die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland hat sich grundsätzlich bewährt. Jeder soll von seiner Arbeit leben können. Deshalb halten wir daran fest. In der Praxis hat sich allerdings gezeigt, dass viele Regelungen zu bürokratisch und wenig alltagstauglich sind. Dies trifft insbesondere unsere Landwirtschaft und die Gastronomie sowie weitere Be- triebe. Unser erklärtes Ziel ist daher der Abbau unnötiger Bürokratie gleich zu Beginn der neuen Wahlperiode.«

Jeder, der sich in dieser Materie etwas auskennt, weiß, dass das als Drohung zu verstehen ist: Bei den angedeuteten „bürokratischen Regelungen“ geht es weniger bis gar nicht um die Höhe des gesetzlichen Mindestlohns, sondern um die Arbeitszeitregelungen, wie wir sie bislang (noch) im Arbeitszeitgesetz haben, sowie um die Dokumentationspflichten für die Arbeitgeber. Und auch die sind nicht wirklich das Problem (man kann das heute in Zeiten der Digitalisierung über eine kostenlose App-Lösung realisieren, wenn man denn will), sondern die damit verbundene Transparenz über mögliche Verstöße gegen das Arbeitszeitgesetz. Vor diesem Hintergrund – an dem sich die Union klassisch mit der FDP treffen kann – wird eine der großen Baustellen der Koalitionsverhandlungen und des Regierungshandelns die angestrebte und arbeitgeberorientierte „Flexibilisierung“ der Arbeitsbedingungen, vor allem, was die Arbeitszeit angeht, werden.

Nun könnte man an dieser Stelle argumentieren, gut, dass dann wenigstens die Grünen die arbeitnehmerorientierten Positionen in der neuen Regierung verteidigen und hochhalten kann. Wenn, dann wäre das sicher gut. Aber die abschließende Frage bleibt doch – werden die Grünen (selbst wenn sie das wollten, was man auch noch mal detaillierter diskutieren müsste) das auch können bzw. dürfen?

Vom jetzigen Standpunkt aus betrachtet spricht vieles dafür, dass sie das und auch andere progressiv angelegte sozialpolitische Inhalte, nicht werden können und dürfen. Denn die Grünen wären der kleinste Koalitionspartner unter der Jamaika-Flagge, sie haben in zentralen Politikfeldern teilweise konträre Positionierungen vorgenommen im Vergleich zur Union und FDP und sie werden versuchen müssen, wenigstens einige „ihrer“ Inhalte in der neuen Regierung zu verankern. Und da muss man dann Prioritäten setzen, denn die Grünen haben sicher – und sei es semantisch – progressive Positionen in der Sozialpolitik vertreten, aber wenn sie sich entscheiden müssten zwischen Hartz IV, Mindestlohn und Leiharbeit auf der einen und Umwelt- und Klimapolitik auf der anderen Seite, dann gibt es plausible Prognosen, dass das Pendel zu den Umweltthemen schwingen wird.

Das wird sich dann sicher auch in der Ressortverteilung einer „Jamaika“-Koalition niederschlagen. Man wird den Grünen das Umweltministerium geben und das Bundesfamilienministerium, das vielleicht noch aufgepeppt um Integration (von Flüchtlingen und anderen Zuwanderern). Man schaue sich beispielsweise die Ressortverteilung einer anderen Dreier-Koalition mit einem etwas anderen Vorzeichen an, auch als „Ampel“-Koalition bezeichnet: In Rheinland-Pfalz, wo die SPD und die FDP mit den Grünen als kleinstem Partner zusammen regieren, ist genau das passiert.

Bleibt wenigstens noch die Opposition, wird der eine oder andere denken. Die werden dann die sozialpolitische Flanke der neuen Bundesregierung massiv angreifen. Aber auch hier sollte man prophylaktisch Wasser in den Wein kippen. Denn die Linken haben sich zwar leicht verbessern können, sind aber weiterhin relativ isoliert im Bundestag, selbst die punktuellen Bündnisse mit den bislang ebenfalls oppositionellen Grünen werden wegfallen. Und die SPD, wenngleich auf der Oppositionsbank, wird wohl nach der Hinterzimmerentscheidung am Wahltag von der bisherigen Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles geführt werden, die bei allen Angriffen immer berücksichtigen muss, dass sie selbst viele der kritisierten (Nicht-)Entscheidungen der vergangenen vier Jahre wie die Reform des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes zu verantworten hat und sich zugleich den großen Industriegewerkschaften verpflichtet fühlt, die – wie wir am Beispiel der Leiharbeit gesehen haben – ihre ganz eigenen Interessen im Spiel haben.

Was die Sozialpolitik angeht, muss man zum jetzigen Zeitpunkt hinsichtlich einer „Jamaika“-Koalition mehr als skeptisch sein, auch wenn man sich gerne überraschen lassen würde. Den Leiharbeitern und den Mindestlöhnern kann man hingegen schon relativ gesichert in Aussicht stellen, dass sich an ihrer Situation wenig bis gar nichts verbessern wird. Eher im Gegenteil werden sie als erste unter die Räder des großen politischen Basars, den wir zu erwarten haben, geraten.

Hartz IV, die Wahlprogramme und ein Blick hinter die Kulissen

Am morgigen Sonntag wird der neue Bundestag gewählt. Die Grundsicherung nach dem SGB II, umgangssprachlich Hartz IV genannt, war im Wahlkampf nicht wirklich ein Thema, obgleich es Millionen Menschen betrifft. Und die haben teilweise richtig große Probleme, über die Runden zu kommen – auch aufgrund von Schwierigkeiten, die sich aus der Konstruktion der Grundsicherung ergeben. Vgl. dazu beispielsweise den Beitrag Hartz IV-Empfänger bekommen 1,63% mehr Geld. Von der Angemessenheit, ungedeckten Stromkosten und Mieten mit Selbstbeteiligung vom 22. September 2017. Vor diesem Hintergrund macht es durchaus Sinn, in die Wahlprogramme der Parteien zu schauen – denn entweder finden sich dort weiterführende Hinweise auf Änderungsbedarf und Änderungsvorschläge, die nur keinen Eingang gefunden haben in den Wahlkampf oder aber die Nicht-Befassung mit dieser nun wirklich sehr großen sozialpolitischen Baustellen spiegelt sich auch in den Wahlprogrammen der Parteien. Dann müsste man zu der Feststellung kommen, dass dieser Bereich aus dem Blickwinkel der politisch Verantwortlichen gerutscht ist.

Insgesamt wird man mit Blick auf die Arbeitsmarktpolitik zu dem Ergebnis kommen müssen, dass in den Wahlprogrammen der Parteien eine gewisse „arbeitsmarktpolitische Müdigkeit“ zu erkennen ist im Vergleich zu den zurückliegenden Wahlkämpfen (vgl. dazu ausführlicher Stefan Sell: Arbeitsmarktpolitik in den Wahlprogrammen der Parteien. Eine Bestandsaufnahme vor der Bundestagswahl 2017, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 26/2017, S. 18-24).

Hinsichtlich des hier interessierenden Grundsicherungssystems (SGB II) gilt das ganz besonders – man muss teilweise sogar zur Kenntnis nehmen, dass das gar nicht auftaucht. So findet man beispielsweise im Wahlprogramm der CDU/CSU (das übrigens gleich Regierungsprogramm 2017-2021 genannt wird) gar keine Ausführungen zu Themen wie Hartz IV, oder Arbeitslosengeld (II). Ausschließlich dieser sehr wolkig gehaltene Passus unter der Überschrift „Langzeitarbeitslosen helfen“ kann zitiert werden (S. 12):

  • CDU und CSU wollen eine Chance auf Arbeit für jeden Menschen in Deutschland. Denn Arbeit dient der Selbstverwirklichung des Einzelnen und schafft Lebensqualität. Wir finden uns mit der hohen Zahl von Langzeitarbeitslosen nicht ab. Wir werden ihre Qualifizierung, Vermittlung und Re-Integration in den Arbeitsmarkt deutlich verbessern.
  • Langzeitarbeitslosen, die aufgrund der besonderen Umstände auf dem regulären Arbeitsmarkt keine Chance haben, werden wir verstärkt die Möglichkeit geben, sinnvolle und gesellschaftlich wertige Tätigkeiten auszuüben. Das ist ein starker Beitrag für den Zusammenhalt in unserem Land.
  • Wir werden finanzielle Mittel bereitstellen, damit jungen Menschen, deren Eltern von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen sind, in ganz Deutschland der Weg in Ausbildung und Arbeit geebnet wird.

Ansonsten – nichts.

Sieht es denn bei den anderen Parteien anders aus? Ordnen wir die bzw. deren Aussagen in den jeweiligen Wahlprogrammen so, dass wir mit den Parteien beginnen, wo sehr weitreichende Forderungen gestellt werden.

Die Linke: Im Bereich der Grundsicherung finden wir hier zahlreiche Vorschläge, die auf einen Systemwechsel abzielen:

  • Gefordert wird eine „Mindestsicherung“ statt Arbeitslosengeld II (ALG II). Der Regelleistungssatz dieser Mindestsicherung soll bei 1.050 Euro für Erwerbslose, aufstockende Erwerbstätige, Langzeiterwerbslose und Erwerbsunfähige liegen, bei Bedarf Wohngeld (auf Basis der Bruttowarmmiete) und für Kinder eine Grundsicherung in Höhe von 564 Euro. Die Mindestsicherung soll für alle dauerhaft in Deutschland lebenden Menschen gewährt werden, damit einher geht die Forderung nach einer Abschaffung das Asylbewerberleistungsgesetzes.
  • Die Linke plädiert für die Abschaffung von Sanktionen im Grundsicherungssystem 
  • sowie die Abschaffung der Bedarfsgemeinschaften (also ein Wechsel zum Individualprinzip).
  • Gefordert wird die Schaffung eines öffentlichen Beschäftigungssektors, für Menschen, die derzeit keiner regulären Beschäftigung nachgehen können. 
  • Abgerundet wird das durch die Forderung, ein Recht auf Arbeit sowie das Recht, eine konkrete Arbeit abzulehnen, zu verankern.

Für den Bereich der Arbeitslosenversicherung (SGB III) wird vorgeschlagen, eine längere Zahlung von Arbeitslosengeld I sowie kürzere Anwartschaftszeiten als erleichterte Zugangsvoraussetzung zu ermöglichen. Auch hier wird das Sanktionsinstrumentarium kritisiert und für eine Abschaffung von Sperrzeiten plädiert. Die Linken fordern ein Recht auf (arbeitgeberfinanzierte) Weiterbildung.

Bündnis 90/Die Grünen: Auch die Grünen haben einige substanzielle Veränderungsvorschläge die Grundsicherung betreffend, die aber nicht so weitreichend ausfallen wie die der Linken:

  • Erhöhung des Regelsatzes beim Arbeitslosengeld II, vor allem für Kinder wird eine bedarfsgerechte Neuberechnung der Leistungshöhe gefordert. 
  • Für Stromkosten soll es eine gesonderte Pauschale geben. 
  • Die Grundsicherung soll als individuelle Leistung ausgestaltet werden, mithin also eine Abschaffung der Bedarfsgemeinschaften. 
  • Auch die Grünen fordern eine Abschaffung von Sanktionen 
  • und sie plädieren für die Schaffung eines „sozialen Arbeitsmarktes“ für Langzeitarbeitslose.

Im Bereich der Arbeitslosenversicherung fordern die Grünen einen Wechsel hin zu einer „Arbeitsversicherung“, die auch Selbstständige miteinbezieht. Hinsichtlich der Weiterbildung wird gefordert, dass diese nicht nur bei Arbeitslosigkeit gefördert werden soll.

SPD: Im Wahlprogramm fallen hinsichtlich der Grundsicherung diese Punkte auf:

  • Eine Verdopplung des Schonvermögens im SGB II, 
  • eine Streichung der schärferen Sanktionen für unter 25-Jährige im SGB II 
  • sowie eine Überführung des Bundesprogramms „Soziale Teilhabe“, das sich an Langzeitarbeitslose richtet, als Regelleistung in das SGB II.

Für die Arbeitslosenversicherung wird vorgeschlagen, Selbständige, die sich in der Arbeitslosenversicherung absichern wollen, das durch einkommensbezogene Beiträge zu ermöglichen. Eine kürzere Anwartschaft für Arbeitslosengeld I: Ein Anspruch soll ermöglicht werden, wenn innerhalb von drei Jahren vor der Arbeitslosigkeit mindestens zehn Monate sozialversicherungspflichtig Beschäftigung gegeben ist, was einen erleichterten Zugang zu Leistungen der Arbeitslosenversicherung ermöglichen würde. Gefordert wird die flächendeckende Einführung von Jugendberufsagenturen.

Ein wichtiger Baustein im Programmentwurf der SPD ist der angestrebte Umbau der Bundesagentur für Arbeit zu einer „Bundesagentur für Arbeit und Qualifizierung“ und die damit einhergehende Transformation der Arbeitslosen- zu einer „Arbeitsversicherung“. Gefordert wird damit einhergehend ein Recht auf Weiterbildung, das im Bedarfsfall auch berufsbegleitend umgesetzt werden soll. Hier taucht dann auch der bereits in der Öffentlichkeit heftig diskutierte Vorschlag des Kanzlerkandidaten Martin Schulz auf, ein „Arbeitslosengeld Q (ALG Q)“ für die Dauer von Qualifizierungsmaßnahmen einzuführen: Der Bezug des ALG Q soll nicht auf das Arbeitslosengeld I-Anspruch angerechnet werden (was diesen verlängern würde), die Höhe entspricht dem Arbeitslosengeld I, nach Beendigung einer Qualifizierungsmaßnahme gibt es dann erneut einen Anspruch auf Arbeitslosengeld I nach den bisherigen Regeln.

AfD: Auch die AfD hat sich positioniert zur Grundsicherung und Arbeitslosenversicherung.

  • Gefordert werden höhere Arbeitslosengeld-II-Leistungen bei einer Vorbeschäftigung von mindestens zehn Jahren, 
  • eine bedarfsangepasste Qualifizierung von Arbeitslosen in enger Abstimmung insbesondere mit der mittelständischen Wirtschaft 
  • sowie eine realistische Datenerhebung und eine Reform bei der Errechnung der offiziellen Arbeitslosenzahl.

Für die Arbeitslosenversicherung wird eine längere Bezugsdauer gefordert, wenn eine mindestens zehnjährige Vorbeschäftigungszeit erfüllt ist. Ebenfalls länger bezugsberechtigt beim Arbeitslosengeld I sollen Eltern sein.
Sozialleistungen für EU-Bürgern sollen erst dann gewährt werden, wenn diese zuvor vier Jahre versicherungspflichtig in Deutschland beschäftigt waren und ihren Lebensunterhalt damit vollständig selbst decken konnten. Ansonsten sollen sie von Sozialleistungen ausgeschlossen werden. Bei den Leistungen für Asylbewerber soll der Grundsatz gelten: „Sachleistungen vor Geldleistungen“.

FDP: Im Bereich der Grundsicherung wird

  • die Einführung eines „liberalen Bürgergeldes“ gefordert, also eine Zusammenfassung von Arbeitslosengeld II, Grundsicherung im Alter, Hilfe zum Lebensunterhalt nach SGB XII, Kinderzuschlag und Wohngeld zu einer Transferleistung.  
  • Die Zuverdienstgrenzen bei Arbeitslosengeld II-Bezug sollen erhöht werden durch eine Absenkung des Anrechnungssatzes. 
  • Für Langzeitarbeitslose wird ein „Training on the Job“ gefordert sowie eine Kombination von Grundsicherung und Lohn des Arbeitgebers (also ein Kombi-Lohn), falls erforderlich auch die Ermöglichung einer psychosozialen Begleitung. 

In der Arbeitslosenversicherung wird jede Verlängerung der Arbeitslosengeld I-Bezugsdauer abgelehnt. Auch die FDP fordert eine Förderung der Weiterbildung von Beschäftigten, die allerdings arbeitgeber- und arbeitnehmerfinanziert stattfinden soll sowie mit einer öffentlichen Förderung in Höhe von maximal 50 Prozent der Kosten.

Soweit die wahlprogrammatische Ebene. Aber wie sieht es hinter den Kulissen aus, also in der Fachdiskussion? Denn offensichtlich ist, dass es zahlreiche Probleme und ungelöste Aufgaben im Grundsicherungssystem gibt, die unbedingt zu bearbeiten wären.
Nun gibt es an dieser Stelle je nach Interessenlage und politischer Ausrichtung ganz unterschiedliche Reformvorschläge. Eine vertiefende Analyse würde den Rahmen dieses Beitrags völlig sprengen. Aber es gibt in Deutschland eine Institution, in der fast alle Akteure der Sozialpolitik mit ihren teilweise erheblich abweichenden Interessen vertreten sind und diese Institution meldet sich regelmäßig zu Wort mit Stellungnahmen und Empfehlungen, die sich natürlich dadurch „auszeichnen“ müssen, dass sie eher konsensorientierte Ausarbeitungen darstellen: Gemeint ist der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge. Für viele mag der Name irgendwie angestaubt klingen, was aber an der nun wirklich beeindruckend langen Geschichte dieser Institution liegt – immerhin wurde die Organisation 1880 als „Deutscher Verein für Armenpflege und Wohlthätigkeit“ gegründet. Während der Weimarer Republik wurde der Verein zu einem professionellen Interessenverband, der großen Einfluss auf die Fürsorgegesetzgebung nahm. Während der Zeit des Nationalsozialismus wurde der DV gleichgeschaltet und entging so seiner Auflösung. Nach 1945 erfolgte der Neuaufbau.

Der Deutsche Verein ist ein Zusammenschluss der öffentlichen und freien Träger sozialer Arbeit. Er  hat über 2.500 Mitglieder, hierzu gehören Landkreise, Städte und Gemeinden sowie deren Spitzenverbände und die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege ebenso wie Bundesministerien und -behörden, Länderverwaltungen, überörtliche Träger der Sozialhilfe, Universitäten und Fachhochschulen, Vereine, soziale Einrichtungen, Ausbildungsstätten, Einzelpersonen und Unternehmen der Sozialwirtschaft. Also die gesamte „Sozialszene“ ist da irgendwie vertreten – vor allem aber sowohl die „Leistungserbringer“ wie die „Kostenträger“, was gerade für das hier interessierende Thema Hartz IV von besonderer Bedeutung ist.
Und der Deutsche Verein hat sich gerade aktuell erneut in diesem Themenfeld mit zwei Empfehlungen an die Öffentlichkeit gewandt.
Es wurde eingangs bereits auf das besondere Problem der Kosten für Unterkunft und Heizung hingewiesen (dazu der Beitrag Hartz IV-Empfänger bekommen 1,63% mehr Geld. Von der Angemessenheit, ungedeckten Stromkosten und Mieten mit Selbstbeteiligung vom  22. 09.2017). Hierzu hat der Deutsche Verein am 12. September 2017 Empfehlungen zur Herleitung existenzsichernder Leistungen zur Deckung der Unterkunftsbedarfe im SGB II und SGB XII veröffentlicht.

Dort werden Empfehlungen zur „Ausfüllung des Angemessen­heitsbegriffs nach geltendem Recht“ gegeben, darüber hinaus aber auch in einem eigenen Teil eine „Erste Positionierungen zur gesetzlichen Neu­gestaltung der Rechtssituation“ dargelegt, was für die Reform dieses so wichtigen Bereichs besonders interessant ist.
Über diesen Teilbereich hinaus hat der Deutsche Verein ebenfalls am 12. September 2017 Empfehlungen für eine Weiterentwicklung der Grundsicherung für Arbeit­suchende (SGB II) veröffentlicht, also das ganze SGB II in den Blick nehmend.
Darin geht es nach einer Bestandsaufnahme der Probleme im SGB II vor allem um drei große Baustellen, die identifiziert und mit Reformvorschlägen versehen werden:
  1. Konsistente Neuausrichtung der Beschäftigungsförderung
  2. Verbesserung der Existenzsicherung
  3. Aufgabengerechte Ausgestaltung der vorgelagerten Sicherungssysteme
Die einzelnen Vorschläge können hier nicht im Detail vorgestellt oder gar bewertet werden. Wer sich aber die Mühe macht, in die Empfehlungen zu schauen, der wird zum einen eine Übersicht über den gegenwärtigen Änderungsbedarf im SGB II – wohlgemerkt aus einer konsensual angelegten Perspektive ganz unterschiedlicher Interessengruppen – bekommen und zum anderen wird man erkennen können, dass die weit verbreitete Nicht-Thematisierung des Hartz IV-Systems im Wahlkampf und auf der politischen Bühne dem Problemdruck innerhalb des Systems (von dem für die betroffenen Menschen ganz zu schweigen) in keiner Weise gerecht wird. 
Man wird das Wahlergebnis und die sich anschließende Koalitionsbildung abwarten müssen, um zu sehen, ob der drängende Handlungsbedarf dann wenigstens in der Koalitionsvereinbarung aufgegriffen wird.

Hartz IV-Empfänger bekommen 1,63% mehr Geld. Von der Angemessenheit, ungedeckten Stromkosten und Mieten mit Selbstbeteiligung

Der Bundestagswahlkampf neigt sich dem Ende zu, am Sonntag Abend sind wir schlauer. Und viele haben sich beklagt, dass wichtige Themen keine oder nur am Rande eine Rolle gespielt haben. In den letzten Zügen des Wahlkampfs haben wir noch erleben dürfen, wie eine große sozialpolitische Baustelle in das Scheinwerferlicht der öffentlichen Aufmerksamkeit gezogen oder geschoben wurde – die Pflege. Aber ein großer Bereich, von dem mehr als sechs Millionen Menschen betroffen sind, ist in seinem Schattendasein verblieben: Hartz IV, das Grundsicherungssystem (SGB II). Wenn überhaupt, dann wird sehr allgemein und oftmals plakativ über das Hartz IV-System diskutiert. Tobias Lill fasst diese Ebene in seinem Beitrag „Erfolgsgeschichte“ oder „Armut per Gesetz“?, der in der Online-Ausgabe der Bayerischen Staatszeitung zu finden ist, gut zusammen. In diesem Zusammenhang kann man auch immer wieder beobachten, dass Hartz IV und die davon Betroffenen auf Arbeitslosigkeit reduziert werden – übersehen wird dabei, dass die Grundsicherung Millionen Menschen betrifft, die gar nicht dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen (können). 2 Mio. Kinder und Jugendlichen lebten 2016 in Familien, die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts gemäß SGB II (Hartz IV) erhielten – das waren 14,8 Prozent aller Kinder und Jugendlichen. In den Bundesländern reichte diese SGB II-Quote von 7,0 Prozent in Bayern bis 31,2 Prozent in Berlin. In der Hauptstadt lebt also fast jedes dritte Kind in einem Hartz IV-Haushalt. 

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