Wenn der „mordbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich“ Anreize setzt, Patienten morbider zu machen als sie sind und denen das dann schmerzhaft auf die Füße fallen kann

Immer wieder sagt man, das Gesundheitswesen sei ein „Haifischbecken“ angesichts des dreistelligen Milliardenbetrags, der da umgesetzt wird und um dessen Verteilung zahlreiche Akteure miteinander und mit harten Bandagen streiten. Da kann es nicht überraschen, wenn Anreize genutzt werden, sich besser in der Nahrungskette zu positionieren – vor allem dann, wenn die anderen das auch versuchen.
Und bei den Krankenkassen geht es um viele Geld. Derzeit immerhin 250 Mrd. Euro, 200 Mrd. davon werden aus dem Gesundheitsfonds verteilt. Bereits 1994 wurde ein Finanzausgleich zwischen den Kassen eingeführt, man hatte erkannt, dass es ungleich verteilte und nicht von der Versicherung beeinflussbare Vor- und Nachteile bei Einnahmen und Ausgaben zwischen den Kassen gab, die man über einen finanziellen Ausgleich kompensieren wollte. Dazu gehören beispielsweise Merkmale wie Geschlecht und Alter. Seit Anfang 2009 orientiert sich der Risikostrukturausgleich (RSA) zwischen den gesetzlichen Krankenkassen auch am Krankheitszustand – der Morbidität – der Versicherten, da man festgestellt hat, dass die ursprüngliche Fassung des RSA nicht ausreichend die Unterschiede einzufangen in der Lage war. Diese Weiterentwicklung des RSA erfolgte mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz, das zum einen die Einführung eines Gesundheitsfonds im Jahr 2009 und die zeitgleiche Morbiditätsorientierung des RSA beinhaltete. So werden nunmehr bei der Verteilung der Gelder aus dem Gesundheitsfonds an die einzelnen Krankenkassen durch Zu- und Abschläge die Merkmale Alter, Geschlecht und Bezug einer Erwerbsminderungsrente sowie die Krankheitslast anhand von 80 ausgewählten Krankheiten berücksichtigt. 

Immer wieder gab es in der Vergangenheit Vorwürfe, dass die Krankenkassen ein Interesse daran haben, „kränker“ zu erscheinen, also die Versicherten tatsächlich sind, da eben mit bestimmten Diagnosen die Zuteilung von mehr Geld aus dem Gesundheitsfonds verbunden ist. Und einen Teil der Diagnosen kann man „gestalten“, was bei Merkmalen wie dem Geschlecht, Alter oder einer Erwerbsminderungsrente nun weniger bis gar nicht der Fall ist.

Vor diesem Hintergrund kann das nicht überraschen: Je kränker ein Patient auf dem Papier, desto mehr Geld erhält die Krankenkasse. Die gesetzlichen Kassen sollen deshalb Diagnosen manipuliert haben. Und das schlägt derzeit Wellen, vgl. beispielsweise die Artikel Wettbewerb mit falschen Kranken oder Wie krank ist unser Gesundheitssystem?. Für den Vorwurf gibt es einen gewichtigen Zeugen der Anklage, berichtete die FAZ in dem Artikel „Krankenkassen verpulvern Geld für Drückerkolonnen“. Es geht um Jens Baas, dem Chef der Techniker Krankenkasse:

»Im Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung bezichtigte er seine eigene und andere gesetzliche Krankenkassen, aus diesem Grund sogar Diagnosen von Patienten zu manipulieren. Die Kassen versuchten die Ärzte dazu zu bringen, für die Patienten möglichst viele Diagnosen zu dokumentieren, sagte Baas. „Aus einem leichten Bluthochdruck wird ein schwerer. Aus einer depressiven Stimmung eine echte Depression, das bringt 1000 Euro mehr im Jahr pro Fall.“«

Die Krankenkassen haben im bestehenden System des Risikostrukturausgleichs einen Anreiz, dass möglichst viele Patienten als lukrative Chroniker eingestuft werden, schließlich bekommen sie dann besonders viel Geld aus dem Risikostrukturausgleich. Daher halten sie die Ärzte an, eine möglichst vollständige und präzise Diagnose zu stellen, entweder über Briefe oder indem sie ihnen Berater in die Praxis schicken. Und der Kassen-Chef hat sich ziemlich deutlich geäußert:

»Der Vorwurf des Techniker-Chefs Baas lautet …, dass die Kassen die Ärzte sogar dazu drängen, entweder einen Code für eine schwerwiegendere Krankheit zu vergeben oder für einen anderen Schweregrad – dass sie also bei der Leistungsabrechnung betrügen. Für die Ärzte macht das finanziell oft keinen Unterschied, für die Kassen aber schon. Die bezahlten „Prämien von zehn Euro je Fall für Ärzte, wenn sie den Patienten auf dem Papier kränker machen“, sagte Baas. „Sie bitten dabei um ,Optimierung‘ der Codierung. Manche Kassen besuchen die Ärzte dazu persönlich, manche rufen an.“ Besonders häufig sei das der Fall bei den Volkskrankheiten, also Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und auch psychischen Krankheiten.«

Man kann sich vorstellen, dass das für ziemlich viel Wirbel gesorgt hat und andere Kassen haben auch sofort abgestritten, dass so etwas passiert. Aber bereits aus der Vergangenheit ist bekannt: »So hat das Bundesversicherungsamt, das für die Aufsicht aller bundesweit aktiven Kassen zuständig ist, immer wieder auf Unregelmäßigkeiten hingewiesen. Von der AOK Niedersachsen, die nur der eigenen Landesaufsicht unterliegt, ist sogar bekannt, dass sie Ärzten zehn Euro je Patient zahlte, wenn sie sich die Krankheitsangaben noch einmal vornahmen.«

In diesem Beitrag soll es nicht um die Tiefen und Untiefen dieser Vorwürfe gehen hinsichtlich des „morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs“ an sich, mittlerweile tobt eine intensive Debatte über den Reformbedarf des Instrumentariums, was einem weiteren Beitrag vorbehalten bleibt. Sondern hier soll es um mögliche „Kollateralschäden“ bei den Versicherten gehen, die von all dem nichts wissen (können).

Und für die Patienten könnte das alles – scheinbar – ziemlich egal sein, denn sie sind ja behandelt worden und die Rechnung läuft außerhalb ihrer Wahrnehmung und Verantwortung mit den Krankenkassen. Sie mussten ja selbst nicht mehr bezahlen, weil man sie vielleicht kränker gemacht hat auf dem Papier. Und wie krank man sie eingestuft hat, das wissen sie auch nicht.
Aber wie so oft im Leben kann es anders kommen, als man denkt.

Wo ein Problem liegen kann, skizziert dieser Artikel von Niklas Hoyer: Wie Fehldiagnosen Versicherte gefährden. »Manipulierte Diagnosen, mit denen Ärzte und Kassen Einnahmen steigern, bringen Versicherten Nachteile. Etwa bei Berufsunfähigkeitspolicen: Hier können falsche Diagnosen teuer werden.«

Wie das?

Bei bestimmten Versicherungen, etwa einer Police gegen Berufsunfähigkeit, können den Betroffenen falsche Diagnosen teuer zu stehen kommen. Im Leistungsfall, also bei Berufsunfähigkeit, prüfen Versicherer akribisch, ob Versicherte Gesundheitsfragen korrekt beantwortet haben. Dafür nutzen sie die Angaben der behandelnden Ärzte.

Aber der Patient wusste doch gar nichts von der angeblichen Krankheit, also konnte er die natürlich auch nicht gegenüber der anderen Versicherung offenlegen.
Ja, hilft ihm aber im Schadensfall nicht, denn dann kann beispielsweise die Versicherung Leistungen bei Berufsunfähigkeit verweigern mit Verweis auf die „falschen“ Angaben.

»Matthias Helberg, auf Berufsunfähigkeitspolicen spezialisierter Versicherungsmakler aus Osnabrück, berichtet von etwa jedem fünften Kunden, der in seiner Patientenakte auf falsche Diagnosen stoße … Können Betroffene nicht nachweisen, dass die Diagnose falsch war oder sie von der Erkrankung nichts wussten, drohen drastische Folgen. Versicherer können bei vorsätzlichen Falschangaben den Vertrag wegen arglistiger Täuschung anfechten oder vom Vertrag zurücktreten. „Dann verliert der Versicherte seinen Schutz rückwirkend, ohne dass er Beiträge zurückbekäme“, sagt Jan Hinsch-Timm, Fachanwalt für Versicherungsrecht aus Hamburg. Erst nach Ablauf von zehn Jahren wären Versicherte geschützt, weil dann selbst eine angenommene arglistige Täuschung folgenlos bliebe.«

Nun handelt es sich bei der Berufsunfähigkeitsversicherung um eine der Versicherungen, die man – vor allem in jüngeren Jahren – braucht. Und bei der man gleichzeitig ein veritables Marktversagen hinsichtlich der (Nicht-)Absicherung dieses Risikos konstatieren muss. Vgl. hierzu meinen Beitrag Vom Wert der Sozialversicherung und einem veritablen Marktversagen der privaten Versicherungswirtschaft: Die Berufsunfähigkeit und ihre (Nicht-)Absicherung vom 24. Januar 2016. Was kann, sollte, müsste man machen vor dem Hintergrund der skandalösen Zustände? Dass den Missständen in der Kassenlandschaft nachgegangen und diese abgestellt werden sollten, versteht sich von selbst, wird aber a) gar nicht so einfach und b) dauern.

Kann man innerhalb des Berufsunfähigkeitsschutzes was machen? Der bereits erwähnte Matthias Helberg hat dazu weiterführende Überlegungen veröffentlicht, die an das Problem der bekannt gewordenen Manipulationen von Diagnosen anknüpfen: Berufsunfähigkeitsversicherung: Vom Ende der Gesundheitsprüfung, so hat er seinen Beitrag dazu überschrieben. Sein Ausgangspunkt: Wer eine Berufsunfähigkeitsversicherung abschließen will, muss viele Gesundheitsfragen des Versicherers beantworten.  Diese Form der Gesundheitsprüfung ist im Grunde am Ende.
Aus Helbergs Sicht geht das Jahr 2016 als das Jahr in die Geschichte der deutschen Versicherungswirtschaft ein, in dem die Gesundheitsprüfung in ihrer bisherigen Art und Weise ad absurdum geführt wurde. Dies aus zwei Gründen bzw. Ereignissen:

➔ »Anfang des Jahres wurde ein BGH Urteil vom 25.11.2015 bekannt. Darin ging es um einen Mann, der beim Abschluss seiner Berufsunfähigkeitsversicherung nicht angegeben hatte, dass er bereits an Morbus Parkinson („Schüttellähmung“) litt. Sechseinhalb Jahre später wurde er wegen Parkinson und eines Gehirntumors tatsächlich berufsunfähig. Knapp 10 Jahre nach Abschluss stellte die Witwe des inzwischen Verstorbenen einen Leistungsantrag, wollte also rückwirkend die Berufsunfähigkeitsrente beantragen. Der Versicherer stieß auf die unterschlagene Schüttellähmung und fochte den Vertrag 10 Jahre und 4 Monate nach Abschluss wegen arglistiger Täuschung an. Zu spät, urteilte der BGH: Diese Möglichkeit haben Versicherer maximal 10 Jahre nach Vertragsschluss – danach nicht mehr.« Fazit: Nach zehn Jahren hilft die besten Gesundheitsprüfung nicht.

➔ Und dann spricht er natürlich die Vorgänge um fehlerhafte Diagnosen an: »So kommen Patienten zu Diagnosen, die sie niemals gehabt haben – und von denen sie nur erfahren, wenn jemand die gespeicherten Diagnosen beim Arzt oder der Krankenkasse abfragt: Schlimmstenfalls ist das der Lebensversicherer, der im Leistungsfall überprüfen möchte, ob der Kunde beim Abschluss alle Angaben korrekt gemacht hat. Dem Patienten droht so der BU-GAU … Aus finanziellem Eigeninteresse verminen Krankenkassen und Ärzte die Akten ihrer ahnungslosen Patienten. Die Gesundheitsprüfung ist auch hier zum Scheitern verurteilt: Denn wem glaubt ein Versicherer wohl eher, den Bekundungen seiner Kunden, oder den von Ärzten erhobenen (und abgerechneten) Diagnosen?«

Und der Versicherungspraktiker berichtet auch von der »Tendenz, dass die Gesundheitsprüfung, zumindest in der Berufsunfähigkeitsversicherung, immer penibler wird: Mehr Fragen, mehr Nachfragen, mehr Belege, wie Befunde, OP-Berichte, Kurentlassungsberichte usw. werden angefordert. Gleichzeitig verstärkt sich die Tendenz, dass identische Vorerkrankungen vollkommen unterschiedlich bewertet werden.«

Matthias Helberg bringt es auf den Punkt: »Das Dilemma: Die Ehrlichen werden abgeschreckt, die Hinterhältigen nicht verhindert, die Leichtgläubigen ins Minenfeld geschickt.«

Was tun? Die derzeitige Form der Gesundheitsprüfung »verursacht jede Menge Arbeit für die ehrlichen Kunden und Vermittler, hohe Kosten für die Versicherer – und wirkt anscheinend doch nicht so, wie sie sollte.« Helberg will bei einer besseren Verteilung der Risiken zwischen Versicherten und Versicherern ansetzen. Konkret stellt er zur Diskussion:

»Warum tauschen wir nicht Gesundheitsfragen gegen Wartezeit? Warum überlassen wir nicht den Kunden die Entscheidung, ob sie das Procedere einer Gesundheitsprüfung für sofortigen Versicherungsschutz auf sich nehmen, oder gegen (vielleicht gestaffelte) Wartezeiten tauschen wollen? Einfach so: Ohne schlechtes Gewissen, ohne Lügen, ohne Riesenaufwand, ohne absehbaren Stress mit den Ärzten – ohne Scheu vor einem Abschluss.«

Ein einfacher, mithin radikaler Vorschlag. Was ihn auszeichnet, gerade in den heutigen Tagen.