100 Prozent Sozialabbau oder doch eine innovative Durchbrechung des Entweder-Oder? Zur Debatte über die Vorschläge einer Teil-Krankschreibung

Vor kurzem hat der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen im Auftrag der Bundesregierung ein Sondergutachten zum Thema Krankengeld vorgelegt und darin revolutionär daherkommende Vorschläge zur Veränderung der bisherigen Praxis der Krankschreibung von Arbeitnehmern, die dem Entweder-Oder-Modell folgt, zur Diskussion gestellt. Vgl. hierzu den Blog-Beitrag Ein Viertel Krankschreibung könnte doch auch mal gehen. Experten haben sich Gedanken über das Krankengeld gemacht vom 07.12.2015. »An erster Stelle der 13 Vorschläge steht die Teilkrankschreibung nach schwedischem Modell. Statt der in Deutschland geltenden „Alles-oder-nichts-Regelung“ könnte ein Arbeitnehmer je nach Schwere der Erkrankung und in Abstimmung mit seinem Arzt zu 100, 75, 50 oder 25 Prozent krankgeschrieben werden«, so Andreas Mihm in seinem Artikel Braucht Deutschland den Teilzeit-Kranken?

Dieser Vorschlag ist vielerorts auf Skepsis und Ablehnung gestoßen. So bilanziert der Beitrag In Zukunft nur noch teil-krank? Abschied von der Arbeitsunfähigkeit im Betriebsrat Blog: »Worin die angepriesene Flexibilität für Arbeitnehmer liegt und welche Vorteile ihnen die Neuregelung bietet, bleibt erstmal unklar. Sehr greifbar sind dagegen bereits jetzt die Nachteile, denn der Druck auf die Beschäftigten wird durch derartige Regelungen unweigerlich zunehmen. Bereits beim Arztbesuch geriete man als Kranker zukünftig in eine Art Verhandlungssituation: 100% oder vielleicht doch nur 75%? Oder sogar nur 50? Wieviel soll’s denn sein? Und anschließend geht es dann mit der Rechtfertigung bei den Kollegen und Vorgesetzten weiter: Denn mit nur 25% teil-krank ist man ja eigentlich gefühlt noch ziemlich gesund und mit 50% irgendwie noch nicht so richtig voll-krank. Wie krank aber ist krank?« Die Schlussfolgerung überrascht dann nicht: »Unterm Strich erweisen sich die Vorschläge jedenfalls als zu 50% unausgegoren, zu 75% praxisfern und darüberhinaus zu vollen 100% als sozialunverträglich. Dennoch: Der Angriff auf die sozialen Systeme und Standards hat schon vor längerer Zeit begonnen. Dies hier dürfte ein Teil davon sein. Da wird noch einiges kommen.«

Und was sagen die Ärzte zu den Vorschlägen des Sachverständigenrats, die das ja mit den Patienten umsetzen müssten? Die Idee haut Ärzte nicht vom Hocker, so haben Anno Fricke und Jana Kötter ihren Beitrag dazu überschrieben. Sie sehen nicht, wie sich die Teil-AU in der Praxis umsetzen lassen könnte. Hier einige Stimmen, die in dem Beitrag zitiert werden:

„Eine an sich vernünftige Idee“, sagte Ulrich Weigeldt, Vorsitzender des Deutschen Hausärzteverbands, der „Ärzte Zeitung“. Dann jedoch folgte das große Aber: Die Umsetzung dürfte für Ärzte eine enorme, zusätzliche Last bedeuten, weil Arzt und Patient über den Prozentsatz des Restleistungsvermögens diskutieren müssten, sagte Weigeldt.

„Kein Vorschlag, der bis zum Ende durchdacht ist“, lautete auch die erste Einschätzung von Dr. Wolfgang Wesiack, Präsident des Berufsverbands Deutscher Internisten (BDI). Krankheit habe eine objektive und eine wenig konstante subjektive Komponente. Hier zu objektivieren sei nicht möglich. Die Empfehlung des Sachverständigenrates sei geeignet, Ärzte in ein Verhandlungsgeschäft mit den Patienten zu treiben, für das es keine Kriterien gebe, sagte Wesiack der „Ärzte Zeitung“.

Es bestünden erhebliche Unterschiede zwischen einem Sachbearbeiter, einem Dachdecker und einem Piloten, sagte der stellvertretende Vorsitzende des NAV-Virchow-Bundes, Dr. Veit Wambach. Nicht alle Arbeitnehmer könnten gleichermaßen teilgesund geschrieben werden. „Unsere Gesellschaft muss sich fragen, was schwerer wiegt: die ökonomische Leistungsfähigkeit der Arbeitswelt oder Arbeitnehmerschutz und Patientenwohl.“

Immer wieder hervorgehoben werden (mögliche bzw. erwartbare) Probleme in der Rechtssicherheit. Schon heute sei es für einen praktizierenden Arzt „gar nicht möglich, etwa in einem BU/EU-Gutachten rechtssicher genaue prozentuale Abstufungen des verbliebenen Leistungsvermögens vorzunehmen“, wird ein Arzt zitiert.

Vor dem Hintergrund der deutlichen Kritik und Ablehnung ist es natürlich interessant, was die Urheber dieser Diskussion an Argumenten für ihren Vorschlag vortragen. Hierzu hat die Ärzte Zeitung ein Interview mit dem Vorsitzenden des Sachverständigenrates, Professor Ferdinand Gerlach, geführt: „Die jetzige Praxis der Krankschreibung ist realitätsfern“, so ist das Gespräch mit ihm überschrieben. Dabei geht es vor allem um die Frage, wie sich die Teilzeit-Krankschreibung praktisch umsetzen lässt.

Einleitend verweist Gerlach darauf, dass es das Modell einer Teil-AU auch bei uns schon längst geben würde:

»Was wir vorschlagen, gibt es in Deutschland ja schon. Ab der siebten Woche können Krankgeschriebene nach dem Hamburger Modell schrittweise in den Arbeitsprozess zurückkehren. Das wird gerne genutzt und hat sich in Deutschland absolut bewährt. Wir sagen lediglich, dass man diese Möglichkeit zukünftig nicht erst ab der siebten Woche zur Verfügung haben sollte, sondern in Fällen, in denen das passt, auch schon vorher.«

Bei dem von ihm angesprochenen „Hamburger Modell“ geht es um eine stufenweise Wiedereingliederung in das Arbeitsleben: Ziel der stufenweisen Wiedereingliederung ist es, Beschäftigte unter ärztlicher Aufsicht wieder an die volle Arbeitsbelastung zu gewöhnen. Die stufenweise Wiedereingliederung ist eine Maßnahme der medizinischen Rehabilitation. Grundsätzlich haben alle Beschäftigten nach längerer Krankheit Anspruch auf eine stufenweise Wiedereingliederung durch die Kranken- oder Rentenversicherung. Allerdings gibt es Abweichungen zu den Vorschlägen der Sachverständigen, denn die fordern in ihrem Modell einer Teil-AU die Zahlung eines Teil-Krankengeldes. Das ist im Fall der Rehabilitation anders: Beschäftigte beziehen während der stufenweisen Wiedereingliederung Krankengeld oder Übergangsgeld. Sie gelten auch in dieser Zeit als arbeitsunfähig. Die Gesetzliche Krankenversicherung zahlt während der stufenweisen Wiedereingliederung Krankengeld in voller Höhe. Es gelten dieselben Voraussetzungen, die auch für Zahlung von Krankengeld für Arbeitsunfähigkeit gelten. Bei der Rentenversicherung wird Übergangsgeld gezahlt.

Aber wieder zurück zur Argumentation von Gerlach für die neuen Vorschläge. Er verweist auf vorliegende internationale Erfahrungen:

»In Schweden wird das seit 25 Jahren genau so praktiziert, wie wir das jetzt auch für Deutschland vorschlagen. Das Modell ist dort ausführlich evaluiert worden. Aufgrund der sehr positiven Erfahrungen haben auch Dänemark, Norwegen und Finnland es übernommen. In Österreich wird aktuell darüber diskutiert, es ebenfalls einzuführen. Das könnte allen zu denken geben, die glauben, dass die Teil-AU eine vollkommen abwegige Idee wäre.«

Er betont die Freiwilligkeit der Teil-AU, denn sie »soll nur dann angewendet werden, wenn Arzt und Patient davon überzeugt sind, dass das im Einzelfall eine sinnvolle Maßnahme ist. Ein Fernfahrer kann nicht teilweise arbeiten, ein Dachdecker muss bei seinen Einsätzen zu 100 Prozent fit sein.«
Und für wen könnte das neue Modell passen?

»Denken wir mal an eine Verkäuferin die schwanger ist und sich geschwächt fühlt. Sie sagt, acht Stunden Stehen halte ich nicht mehr durch. Ich könnte vielleicht einen halben Tag arbeiten. Hier hat der Arzt keine Alternative. Er muss sie komplett krankschreiben.
Ein anderes Beispiel: Sie kommen aus dem Skiurlaub zurück und haben sich den Fuß verstaucht. Es gibt viele Arbeitsplätze, an denen Sie dann trotzdem noch am Schreibtisch sitzen und Ihre E-Mails bearbeiten könnten.«

Angesprochen auf die beiden häufigsten Auslöser von Langzeit-Krankschreibungen, Rückenbeschwerden und psychische Störungen, argumentiert Gerlach so:

»… in beiden Fällen wissen wir, dass es vielfach nicht sinnvoll ist, dass Patienten entweder sechs Wochen lang alleine zuhause sitzen, ohne soziale Kontakte, oder sich sechs Wochen lang ins Bett legen und sich schonen.
Im Gegenteil: Es ist medizinisch sinnvoll, dass sie nicht ganz aussteigen, dass sie weiter unter Leute kommen, dass sie sich bewegen. Für den ein oder anderen Patienten mit Rückenleiden könnte es in den ersten sechs Wochen einer Krankschreibung durchaus sinnvoll sein, dass er vormittags zum Beispiel vier Stunden arbeiten und nachmittags zur Physiotherapie geht. Ich weiß aus meiner eigenen zwanzigjährigen Praxiserfahrung, dass es auch viele Patienten gibt , die von sich aus sagen, sie würden gerne wieder arbeiten gehen, weil ihnen sonst zu Hause die Decke auf den Kopf falle.Sie wissen, dass ihre Kollegen für sie mitarbeiten müssen, aber sie selbst halten, auch angesichts der heutigen Arbeitsverdichtung, noch nicht wieder den vollen Stress aus.«

Aus sozialpolitischer Sicht interessant ist natürlich der Vorwurf, hier gehe es nur darum, auf Kosten der Arbeitnehmer zu sparen, was auch durch den Auftrag an den Sachverständigenrat verstärkt wird, denn die Bundesregierung wollte Vorschläge haben, wie man den starken Anstieg der Krankengeldausgaben der Kassen eindämmen kann. Hier verweist Gerlach darauf, dass das nicht der Fall sei, sondern ganz im Gegenteil sogar eine Verbesserung für den Arbeitnehmer erreicht werden könne:

»In den ersten sechs Wochen bekommt jeder Versicherte eine vollständige Lohnfortzahlung. Ab der siebten Woche kommt das Krankengeld, das 70 Prozent des Bruttolohns ausmacht, maximal 90 Prozent vom Netto.
Wenn Sie jetzt das Hamburger Modell anwenden, so wie es heute ist, und Sie gehen halbtags arbeiten, dann bekommen Sie trotzdem nur das Krankengeld. Sie bekommen auch dann nicht mehr, wenn Sie 75 Prozent arbeiten gehen. Der Arbeitgeber muss ja erst dann wieder einen Cent zahlen, wenn Sie 100 Prozent gesund sind.«

Und das Modell des Sachverständigenrates sieht ja vor, dass Krankengeld nur noch als Teil-Leistung für die Teil-AU geleistet wird, während für die Zeit, wo gearbeitet wird, der Arbeitgeber Zahlen muss. Man muss aber genauer hinschauen: Eine Verbesserung im Vergleich zum heutigen „Hamburger Modell“ kann man schon erkennen, keine Frage. Aber die Vorschläge des Sachverständigenrates mit der Teil AU zielen ja vor allem darauf, von Anfang an mit diesem Instrumentarium einer Teil-Kranzschreibung zu arbeiten, also auch in den ersten sechs Wochen, in denen die betroffenen Arbeitnehmer Anspruch haben auf volle Lohnfortzahlung des Arbeitgebers. Wenn man jetzt von Anfang an zu 50 Prozent krank geschrieben wird, dann bekommt man natürlich auch nur 50 Prozent volle Lohnfortzahlung, aber 50 Prozent reduziertes Krankengeld – und muss zugleich noch 50 Prozent arbeiten, so bereits der Hinweis in meinem ersten Blog-Beitrag zu den Vorschlägen.

Aber auch Gerlach sieht diese Problematik und benennt sie auch – er differenziert die „Gewinner und Verlierer“-Bewertung entlang der Scheidelinie einer AU, die in die ersten sechs Wochen mit Lohnfortzahlungsanspruch fällt und eine AU, die darüber hinaus andauert:

»Wenn unser Vorschlag umgesetzt würde, dann hätten die Betroffenen mehr Geld im Portemonnaie. Würde jemand halbtags arbeiten, hätte er nach unserem Modell für diesen halben Tag den vollen Lohn und für die andere Tageshälfte dann die 70 Prozent Krankengeld. Das könnte sogar ein Anreiz sein für die Versicherten, von der Wiedereinstiegsmöglichkeit Gebrauch zu machen.
Während der ersten sechs Wochen hätte allerdings der Arbeitgeber den Vorteil, weil er im Gegensatz zu heute einen Teil der Arbeitskraft als Gegenleistung für die Lohnfortzahlung bekäme.«

Sinnvolle und mehr als fragwürdige Vorschläge im Windschatten der Flüchtlingsdebatte. Und dann die Sprach- und Integrationskurse mal wieder

Man kann sein Vollzeit-Leben derzeit verbringen nur mit dem Sammeln der Vorschläge, wie es gelingen könnte, „die“ Flüchtlinge in absehbarer Zeit in den Arbeitsmarkt zu bekommen. Wobei diese Perspektive an sich schon mehr als verengt daherkommt, wenn die – zugegeben  mit hoher Symbolkraft ausgestattete – Zahl von einer Million Menschen, die allein in diesem Jahr als Flüchtlinge zu uns gekommen sind, als Maßstab für eine anstehende Arbeitsmarktintegration verwendet wird, beispielsweise in einem Vorstoß des Verbandes Die Familienunternehmer, die ausdrücklich auf dieser durch alle Medien verbreiteten Zahl aufsetzen und ein Diskussionspapier vorgelegt haben mit dem bezeichnenden Titel: 1 Million neue Arbeitsplätze – wie schaffen wir das? Es ist eben nicht kleinlich, an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass wir eben nicht eine Million Arbeitsplätze für die eine Million Flüchtlinge brauchen (werden), denn hinter dieser Zahl verbergen sich eben nicht nur arbeitsfähige bzw. -willige Menschen, sondern auch viele Kindern und die, die sich um diese kümmern und die auf absehbare Zeit gar keine Arbeitsmarktintegration wollen oder brauchen. Das wird – vor allem, wenn sich in den vor uns liegenden Jahren der Familiennachzug ausbreiten wird – noch erhebliche Diskussionen auslösen und angesichts der Tatsache, dass diese arbeitsmarktlicht gesehen „inaktiven“ Teile über Transferleistungen finanziert werden, kann das ein zentrales Einfallstor werden für die Kräfte, denen an einer Skandalisierung und Problematisierung gelegen ist. Nur – die Finanzierung des Lebensunterhalts dieser Menschen ist unvermeidlich und sollte nicht verschwiegen werden.

Gerade vor diesem Hintergrund müssen alle Vorschläge für eine bessere oder überhaupt gelingende Arbeitsmarktintegration der anderen Flüchtlinge erst einmal ohne Vorbehalte geprüft werden.

Unter der Überschrift Familienunternehmer fordern Reformpaket für eine Million Jobs berichtet Thomas Öchsner in der Online-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung über die Forderungen des Unternehmerverbandes an die Bundesregierung. Der selbst gesetzte Anspruch hat es in sich:

„Ein drittes deutsches Wirtschaftswunder nach dem nach 1949 und dem nach 2009 ist nötig – und möglich“, heißt es in einem Positionspapier des Verbandes, der 5.000 Familienfirmen vertritt. Nötig sei dafür ein Reformpaket, das weit über die Agenda 2010 des früheren Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD) hinausgehe, berichtet Öchsner in seinem Artikel.

Die Formulierung „weit über die Agenda 2010“ hinausgehend wird nun schon reflexhaft bei den einen oder anderen Magenschmerzen auslösen. Und ein genauerer Blick verdeutlich tatsächlich, dass sich die meisten Vorschläge des Familienunternehmer-Verbandes tatsächlich einordnen lassen in die Logik, mit der auch die Agenda 2010 hausieren gegangen ist: Deregulierung und angebotsseitige Wirtschaftspolitik ist gut. Früher für „die“ Arbeitslosen, jetzt für „die“ Flüchtlinge.

Wie sehen die Vorschläge des Familienunternehmer-Verbandes aus?

»Die Familienunternehmer wollen … neben der dualen Ausbildung eine triale Ausbildung einführen, zu der neben der Praxis im Betrieb und der Berufsschule auch der Erwerb der deutschen Sprache gehört. Diese dritte Säule könne dazu führen, dass sich die Ausbildungszeit auf vier Jahre verlängert.«

Darüber kann und muss man diskutieren. Alle Möglichkeiten eines möglichst schnellen Zugangs zu einer qualifizierten Ausbildung für die Flüchtlinge, die können und wollen, macht Sinn.
Der Vorschlag wird erweitert:

»Gleichzeitig schlägt der Wirtschaftsverband vor, Unternehmen, die Auszubildende ohne ausreichende Sprachkenntnisse beschäftigen, durch staatliche Zuschüsse mit 1000 Euro pro Azubi im Monat für zwei Jahre zu unterstützen. Das Geld soll aber keine zweckungebundene Subvention sein, sondern nachweisbar in den Sprachunterricht fließen.«

Auch das ist diskussionswürdig, wenn es sich um eine zweckgebundene Subventionierung handelt, wobei sogleich zahlreiche Anschlussfragen aufgeworfen werden. Beispielsweise die nach der Infrastruktur für den Abruf der Sprachschulungen, die dann aus den Mitteln finanziert werden können. Ist die vorhanden? Also wer soll das (wo?) machen?

Aber offensichtlich verfolgen die Wirtschaftsfunktionäre das Ziel, wenn man schon mal dabei ist, dann kann man ja auch noch Dinge gleich mitfordern, die man immer schon gerne gehabt hätte. Und dann kommt so was dabei raus:

»Zugleich fordern die Familienunternehmer für alle zusätzlichen Stellen, die in Deutschland bis 2020 geschaffen werden, ob für Migranten oder für einheimische Arbeitslose, die Sozialversicherungsbeiträge zu halbieren.«

Offensichtlich berauscht von der angebotsseitigen Lehre der Kostenentlastung ist dieser Passus „reingerutscht“. Aber a) wieso soll eine derart enorme Entlastung der Unternehmen für alle zusätzlichen Jobs in Anspruch genommen werden und wesentlich bedeutsamer b) wie will man denn eine Abgrenzung der „zusätzlich“ geschaffenen Jobs zu denen hinbekommen, die ansonsten auch entstanden wären? Eine nur als putzig zu charakterisierende Vorstellung.
Aber damit nicht genug – und klar, der Mindestlohn darf nicht fehlen:

»Für die große Zahl der wenig bis unqualifizierten Flüchtlinge sei der Mindestlohn von 8,50 Euro „eine echte Barriere für den Einstieg in den Arbeitsmarkt“. Am besten wäre deshalb eine gegebenenfalls zeitlich befristete Abschaffung der Lohnuntergrenze … .«

Und wenn man schon auf Betriebstemperatur ist, dann kann man auch das ewige Thema mit dem Kündigungsschutz gleich mitnehmen:

»Um die Hemmschwelle für Einstellungen zu senken, müsse auch der strenge Kündigungsschutz schrittweise in ein Abfindungsmodell umgewandelt werden.«

Und um möglichen Kritikern gleich von Anfang an ein schlechtes Gewissen zu machen, wird dann auch noch ein Hinweis gegeben auf den Aufstieg des Front National in Frankreich, was man natürlich bei uns vermeiden wolle.

Wirklich interessant und relevant für die aktuelle Debatte ist der Vorschlag zur „trialen“ Ausbildung und der zweckgebundenen Subventionierung, wenn denn diese tatsächlich der Sprachschulung  zugute kommen würde.

Damit sind wir angekommen bei denen, die für die Sprachkurse verantwortlich sind, also nicht nur die Volkshochschulen und andere Träger, die das machen (müssen). sondern auch bei den so genannten Kostenträgern, wie das in Deutschland immer sich heißt. Also denjenigen, die das finanzieren. Und angesichts des nun mittlerweile für jeden unübersehbaren Bedarfs an Sprach- und Integrationskursen lässt eine solche Meldung aufhorchen:

GEW: „Kein großer Wurf!“ Bildungsgewerkschaft zur Erhöhung der Trägerpauschale für Integrationskurse, eine Pressemitteilung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft vom 10.12.2015.

Nach Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) wird die Trägerpauschale für Integrationskurse zum 1. Januar 2016 von 2,94 Euro auf 3,10 Euro erhöht. Das Mindesthonorar für eine mehrjährige Trägerzulassung steigt von 20 auf 23 Euro. „Nach Abzug der Sozialabgaben bleibt vielen der akademisch qualifizierten Lehrkräfte von den Honoraren ein Einkommen, das knapp über dem Hartz-IV-Niveau liegt“, wird Ansgar Klinger, für berufliche Bildung und Weiterbildung verantwortliches GEW-Vorstandsmitglied, zitiert. Er forderte, die Trägerpauschale auf 4,40 Euro zu erhöhen. Nur so könnten die Träger der Kurse Lehrkräfte anstellen und ihrer Qualifikation entsprechend bezahlen.

Über die miserable Situation der Fachkräfte, die sich im Bereich der Sprach- und Integrationskurse bewegen, ist hier schon berichtet worden, vgl. dazu beispielsweise nur den Beitrag 1.200 Euro im Monat = „Top-Verdienerin“? Lehrkräfte in Integrationskursen verständlicherweise auf der Flucht oder im resignativen Überlebenskampf vom 02.09.2015.

Aber selbst die Pressemeldung der GEW ist angesichts der realen Verhältnisse in diesem Teilbereich des Bildungssystems, die man nur als Wilder Westen bezeichnen kann, noch zahm und „liebevoll“. Angesichts der gerade bei uns manifesten Herausforderungen durch die Zuwanderung von mehr als einer Million Menschen in diesem Jahr müssten erhebliche Ressourcen für den „Flaschenhals“ der Sprachschulung und der Integrationsarbeit mobilisiert werden. Ein Anstieg der Trägerpauschale von 2,94 Euro auf 3,10 Euro ist sicher keine auch nur annähernd angemessene Antwort.

Wie ein solche aussehen müsste? Dazu nur einige wenige Zahlen:

Wenn man die Lehrkräfte in den Kursen halbwegs angemessen vergüten wollte angesichts ihrer überaus schwierigen und zugleich gesellschaftlich so substanziell wichtigen Arbeit, dann müsste man mit einem Stundensatz in Höhe von 5,50 Euro kalkulieren, denn erst damit würden die Träger in die Lage versetzt, den Fachkräften eine Vergütung zu ermöglichen, die sich auf dem TVöD 12-Niveau bewegt.

Zwischen der in Aussicht gestellten Anhebung der Trägerpauschale auf 3,10 Euro und den 5,50 Euro besteht schon ein Welten-Unterschied. Erschwerend kommt hinzu, was sich ergibt, wenn man in andere Länder schaut: So beträgt der Stundensatz für Integrationskursteilnehmer in Spanien 8 Euro, damit eine tarifliche Vergütung rebfinanzierbar ist.

Fazit: Wieder einmal erweist sich Deutschland als der Billigheimer, der anspruchsvollste Ziele mit möglichst wenig Geld und vor allem mit möglichst wenig Personal zu realisieren versucht. Aber das wird in diesem Bereich nicht funktionieren.

Menschen ohne Bleibe haben ein Recht auf Unterbringung. Das scheint normal, ist es aber in der Wirklichkeit offensichtlich nicht. Deshalb gibt es dazu jetzt ein Rechtsgutachten

Jetzt ist sie wieder da, die kalte Jahreszeit. Und bei vielen Menschen wird in den kommenden Monaten wieder in Erinnerung gerufen werden, dass es Menschen gibt, die auf der Straße leben (müssen). Und wenn es schlimm kommt, dann wird wieder der eine oder andere Mensch erfrieren und für einen kurzen Moment wird es Betroffenheit geben. Zugleich wird man zur Kenntnis nehmen müssen, dass zum einen gerade in den Großstädten Notunterkünfte fehlen, um die Menschen wenigstens in der Nacht versorgen zu können, auf der anderen Seite wird man immer wieder hören oder lesen, dass solche Schlafplätze, wenn sie denn vorhanden sein sollten, nicht in Anspruch genommen werden – mit den dann Betroffenheit erzeugenden Folgen, aber auch der immer wieder mitschwingenden Frage, warum man denn dieses Risiko auf sich genommen hat. Dass nicht wenige Obdachlose Hunde haben, deren Mitnahme oftmals verboten ist, wissen dann nur wenige. Dass manche Obdachlose schlichtweg Angst haben, beklaut oder gar geschlagen zu werden in der Enge der Notunterkünfte, sei hier hier nur als weiterer Aspekt erwähnt.

Wie dem auch sei. Thema dieses Beitrags ist ein neues Rechtsgutachten, das Karl-Heinz Ruder anlässlich der der Bundestagung der BAG Wohnungslosenhilfe e.V. in Berlin vom 9.-11. November 2015, „Solidarität statt Konkurrenz – entschlossen handeln gegen Wohnungslosigkeit und Armut“, vorgelegt hat. »Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) hat kürzlich einen Anstieg der Zahl der Obdachlosen von derzeit geschätzt 335.000 auf über eine halbe Million im Jahr 2018 prognostiziert. Betroffen sind immer häufiger auch Geflüchtete und Arbeitsuchende aus ärmeren EU-Staaten«, so Susan Bonath in ihrem Artikel Polizei gegenüber Obdachlosen in der Pflicht. »Muss Betroffenen geholfen werden, wenn sie Hilfe suchen? Ja, meint der Rechtsanwalt Karl-Heinz Ruder aus Emmendingen (Baden-Württemberg) in einem aktuellen Gutachten, das er für die BAG W erstellt hat …  Ruder sieht als letzte Instanz, an die sich Betroffene wenden können, die Polizei in der Pflicht.« 

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