Von untergebrachten wohnungslosen Menschen und einem Nationalen Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit

Zum Stichtag 31. Januar 2024 waren in Deutschland nach den Meldungen von Kommunen und Einrichtungen rund 439.500 Personen wegen Wohnungslosigkeit untergebracht. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) mitteilt, hat sich damit die Zahl gegenüber den Vorjahren weiter erhöht.

mehr

Mindeststandards für die Notunterbringung wohnungsloser Menschen – und ihr Wahlrecht

Das ist sicher: mit den kälter werdenden Tagen und Nächten werden sich erneut die Berichte über obdachlose Menschen auf den Straßen und Plätzen unserer Städte häufen. Und wieder werden wir Bilder-Schnipsel zu sehen bekommen von den Angeboten der Nothilfe für Obdachlose. Dabei wird sich der eine oder andere fragen, warum denn trotz eines angeblich sicheren, warmen Übernachtungsplatzes Menschen auch in bitterkalten Nächten draußen bleiben.

Dafür gibt es nicht den einen, alles erklärenden Grund. Aber ein bedeutsamer Aspekt ist die Ausgestaltung der Hilfsangebote – also nicht nur die Frage, ob überhaupt und in ausreichender Zahl Übernachtungsmöglichkeiten angeboten werden, was eben nicht überall gegeben ist. Sondern es muss auch um die Frage gehen, ob möglicherweise die Art und Weise, wie obdachlose Menschen untergebracht werden (können), ein eigenständiger Hinderungsfaktor für die Inanspruchnahme dieser möglicherweise lebensrettenden Maßnahme darstellt.

„In den kommunalen Notunterkünften leben wohnungslose Menschen oft auf engstem Raum, teilweise unter menschenunwürdigen Bedingungen. Vielerorts ist die Notunterbringung keine Übergangslösung mehr, sondern ein Dauerzustand für die Betroffenen.“

mehr

Mit Job, aber ohne eigene Wohnung

Wir laufen nun schon zügig in den Herbst rein, die Tage und vor allem die Nächte werden wieder kälter – und wenn erst der Winter vor der Tür steht, dann wird es wieder Berichte über die Not obdachloser Menschen geben.

Die waren und sind aber auch an den anderen Tagen ohne Wohnung oder irgendwo untergekommen. Und darunter sind auch Menschen, die viele sicher nicht mit Obdachlosigkeit, von dem man ein bestimmtes (Stadt)Bild im Kopf hat, verbinden werden. Menschen, die einen Job haben. Zur Arbeit gehen. Und dann eben nicht „nach Hause“, wie das bei Millionen anderen der Fall ist.

Immer mehr Erwerbstätige in den Städten können sich kein eigenes Zuhause leisten. Gibt es in Deutschland eine neue Form der „Working Poor“? Das fragt sich Antje Lang-Lendorff in ihrem Artikel Feierabend in der Notunterkunft. Sie illustriert das Thema – trotz Arbeit keine Wohnung – an einem Beispielfall.

mehr

Dem „Strassenfeger“ in Berlin geht die Puste aus. Eine Institution für Obdachlose und Arme zerbröselt

»Seit 24 Jahren ist die Zeitung für Obdachlose und Arme ein Anker. Das Blatt, das auf das doppelte „s“ im Namen besteht, schützt Menschen, die schon ganz unten sind, vor dem Abdriften ins Bodenlose. Es sind Menschen wie Petra E. „Gäbe es den ,Strassenfeger’ nicht, wäre ich schon tot“, sagt sie. Petra E. verkauft Zeitungen am Hauptbahnhof, seit 14 Jahren steht sie fast jeden Tag am Washingtonplatz. Sie war jahrzehntelang heroinabhängig, heute ist sie 59 Jahre alt und clean. Sie lebt in einem betreuten Wohnprojekt. „Die Hefte geben meinem Alltag eine Struktur“, sagt sie. „Ich kann nicht fassen, dass es das nun gewesen sein soll.“ Das Aus der Straßenzeitung ist das abrupte Ende einer Berliner Institution im Kampf gegen die Not.«
(Silvia Perdoni: Ende des „Strassenfegers“ ist beschlossene Sache, 19.06.2018)

Ganz unten ist das Leben hart. Und es gibt Konkurrenz, wie im modernen und hippen Business-Leben. Selbst und gerade um die Reste der Überflussgesellschaft. Da wird zuweilen mit allen Mitteln um die Brosamen gestritten. Was auch kein Wunder ist, wenn es im wahrsten Sinne des Wortes um das Überleben auf der Straße geht.

Und wer von uns kennt sie nicht, die Verkäufer von Straßenzeitungen. Sie appellieren an die Tauschmentalität, die von den meisten Menschen internalisiert worden ist. Wenn man schon was gibt, dann will man eine Gegenleistung – auch wenn man die Zeitung an der nächsten Ecke in den Papierkorb wirft. Die Leute sollen was tun für das Geld, das man ihnen gibt.

mehr

Wohnungslosigkeit: Kein wirkliches Dach über dem Kopf. Inmitten der statistischen Dunkelheit ein Lichtblick aus Nordrhein-Westfalen mit zugleich trauriger Botschaft

Vor einem Jahr, am 29. Juli 2015, wurde hier der Beitrag Die Zahl der Rindviecher geht, die der Übergewichtigen geht auch. Aber Obdachlose sollen nicht gehen. In der Statistik veröffentlicht. Darin wurde problematisiert, dass es in Deutschland keine bundeseinheitliche Wohnungsnotfall-Berichterstattung auf gesetzlicher Grundlage gibt. Seit Jahren fordert das beispielsweise die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW), die auch regelmäßig Zahlen zu den wohnungslosen Menschen veröffentlicht, die aber aufgrund der statistischen Leerstelle immer auf Schätzungen basieren müssen (vgl. hierzu Keine Wohnungslosenstatistik in Deutschland – nur Schätzung möglich). Die Schätzergebnisse: »2014 waren ca. 335.000 Menschen in Deutschland ohne Wohnung – seit 2012 ist dies ein Anstieg um ca. 18 %. Die Zahl der Menschen, die „Platte machen“, die also ohne jede Unterkunft auf der Straße leben, stieg seit 2012 um 50 % auf ca. 39.000 in 2014 (ca. 26.000 in 2012).« So die BAGW.

Aber warum gibt es keine genauen Zahlen? „Es gibt keinen technischen Grund. Die Bundesregierung befasst sich nicht mit dem Thema, weil öffentlich verfügbare Daten das Problem jedes Jahr wieder auf den Tisch legen würden“, so Thomas Specht, Geschäftsführer der BAGW. Und im vergangenen Jahr wurde berichtet, dass die Grünen im Bundestag über eine Anfrage  an die Bundesregierung (Einführung einer bundesweiten Wohnungs- und Obdachlosenstatistik, BT-Drs. 18/5345) wissen wollten, was es denn mit der fehlenden Statistik auf sich habe. Sie bekamen auch eine Antwort (BT-Drs. 18/5654). Und der konnte man entnehmen: »Eine Wohnungslosenstatistik sei nicht realisierbar, weil der „finanzielle und bürokratische Aufwand für die Einführung einer neuen Statistik auf Bundesebene mit sehr begrenzter Aussagekraft nicht zu rechtfertigen“ sei.«

Aber bereits im vergangenen Jahr wurde auch darauf hingewiesen, dass es Lichtblicke in dieser Welt des statistischen Nicht-Wissen-Wollens gibt: Innerhalb der Bundesrepublik Deutschland gibt es sehr wohl eine offizielle Statistik zur Wohnungslosigkeit – im Bundesland Nordrhein-Westfalen. Seit Jahrzehnten werden dort Daten von den Kommunen abgefragt, um „ordnungsrechtlich Untergebrachte“ zu erfassen, Menschen, die beispielsweise in Notunterkünften wohnen. Seit 2011 werden diese Zahlen ergänzt, indem das Land die freien Träger fragt, wie viele Wohnungslose bei ihnen „sozialhilferechtlich“ untergebracht sind.

Und das Bundesland Nordrhein-Westfalen hat nun die Wohnungslosenstatistik 2015 veröffentlicht, eine Stichtagserhebung zum 30. Juni 2015. Berücksichtigt wurden Personen, die in Obdachlosenunterkünften, in anderen Einrichtungen oder bei Bekannten untergekommen waren:

Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen: Integrierte Wohnungsnotfall-Berichterstattung 2015 in Nordrhein-Westfalen. Struktur und Umfang von Wohnungsnotfällen, Düsseldorf 2016

Matthias Korfmann hat seinen Artikel zu den neuen Zahlen so überschrieben: Mehr Menschen in NRW sind ohne feste Wohnung. »Rund 21.000 Menschen hatten im vergangenen Jahr in NRW keine Wohnung. Das sind etwa 5.000 Wohnungslose mehr als im Jahr 2011 und 500 mehr als im Vorjahr.«
Etwa jeder zwölfte Wohnungslose ist jünger als 18 Jahre. Drei Viertel der Betroffenen sind Männer. Etwa jeder Dritte hat einen Migrationshintergrund. Interessant vor dem Hintergrund der allgemeinen Armutsdiskussion, in der immer wieder darauf hingewiesen wird, dass im Ruhrgebiet die Armutsquoten steigen und sich die Probleme hier immer weiter verstärken:

»Obdachlosigkeit ist demnach vor allem in den großen rheinischen Städten ein Thema, nicht so sehr im Ruhrgebiet. Mitte 2015 wurden in Düsseldorf 29 Wohnungslose je 10.000 Einwohner gezählt. Insgesamt waren dort 1750 Menschen betroffen. In Köln lebten 4683 Wohnungslose (45 je 10.000 Einwohner), in Bonn 683 (22 je 10.000 Einwohner). Zum Vergleich: In Duisburg hatten drei von 10.000 Einwohnern keine feste Wohnung, in Gelsenkirchen vier und in Essen 15. Relativ viele Wohnungslose gibt es in Münster und Bielefeld.«

Der Flüchtlingszuzug spielt in dieser Statistik fast keine Rolle, weil die Kommunen bis zu diesem Zeitpunkt nur wenige Flüchtlinge aufgenommen hatten.

Das Ministerium selbst hat sich natürlich auch zu Wort gemeldet: NRW setzt verstärkt auf die Prävention von Wohnungslosigkeit. Sozialminister stellt Wohnungslosenstatistik 2015 vor: »Das Sozialministerium habe sein Aktionsprogramm „Hilfen in Wohnungsnotfällen“ neu justiert und werde künftig präventive Ansätze verstärkt fördern.«

Und wie soll das geschehen?

»In diesem Jahr sind zwei vom Land geförderte Modellprojekte zur Prävention neu angelaufen. Im Rhein-Sieg-Kreis betreibt der SKM (Katholischer Verein für Soziale Dienste im Rhein-Sieg-Kreis e.V.) eine zentrale Fachstelle zur präventiven Wohnungsnotfallhilfe. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter helfen bei Mietschulden, Kündigungen, Räumungsklagen und Zwangsräumungen durch Beratung und Begleitung der Betroffenen. Die jeweiligen Kommunen und Gemeinden reichen eingehende Räumungsklagen an die Fachstelle weiter, die dann umgehend den Kontakt zu den Betroffenen sucht, um einen Wohnungsverlust nach Möglichkeit noch zu vermeiden.

Und im Oberbergischen Kreis entwickelt die Diakonie Michaelshoven gemeinsam mit allen verantwortlichen kommunalen Akteuren und Jobcentern ein Konzept zur Prävention von Wohnungslosigkeit. Menschen, denen ein Verlust ihrer Wohnung droht, sollen ein auf ihre individuelle Situation zugeschnittenes Hilfeangebot erhalten. Dies beispielsweise durch frühzeitige Kontaktaufnahme sowie Beratung und Unterstützung bei der Beantragung von Mietschuldenübernahmen etc.

Mit seinem Aktionsprogramm gegen Wohnungslosigkeit unterstützt das Sozialministerium die für die Unterbringung wohnungsloser Menschen zuständigen Kommunen sowie freie Träger der Wohnungslosenhilfe unter anderem durch die Förderung von Modellprojekten. Hierfür stehen jährlich 1,12 Millionen Euro zur Verfügung.«

Und was sagt das Ministerium zu dem Anstieg der Zahl der wohnungslosen Menschen in Nordrhein-Westfalen?

»Die seit dem Jahr 2011 völlig neu gestaltete Statistik liefert sehr viel konkretere Aussagen über Art und Umfang der Wohnungslosigkeit als je zuvor. Außerdem erfasst sie erstmals neben den von den Kommunen ordnungsrechtlich untergebrachten Wohnungslosen auch Personen, die von den freien Trägern betreut werden … In der ersten Wohnungslosenstatistik für NRW im Jahr 2011 wurden insgesamt 15.826 wohnungslose Menschen gezählt. Die höheren Zahlen für die Folgejahre sind ganz wesentlich auf eine methodisch verbesserte Erfassung von Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe und zusätzliche Maßnahmen zur Qualitätskontrolle zurückzuführen. Eine Vergleichbarkeit der Zahlen für die einzelnen Jahre wird erst nach einer Konsolidierung der statistischen Erfassung möglich sein.«

Angesichts der Tatsache, dass es sich beim Thema Wohnen um eine existenzielle Angelegenheit handelt, sind diese Zahlen beunruhigend und eine Aufforderung zum Handeln. Wobei das einfacher daherkommt, als es in der Praxis dann ist. Zugleich werden wir mit der realistischen Gefahr konfrontiert, dass die Zahlen weiter und stärker ansteigen werden, wenn man sich anschaut, welche Verwerfungen wir derzeit schon haben auf vielen lokalen Wohnungsmärkten im Segment des billigen Wohnraums. Das wird ohne massives Gegensteuern in der vor uns liegenden Zeit weiter stark zunehmen.

Aber: Erneut zeigt sich, dass solche notwendigen Debatten nicht stattfinden oder es sehr schwer haben, wenn es gar kein Datenmaterial gibt. Insofern muss man sagen, wenigstens hat Nordrhein-Westfalen eine Wohnungslosenstatistik und andere Bundesländer sowie der Bund sollten sich daran ein Beispiel nehmen.

Foto: © Reinhold Fahlbusch